empfehlungsgedöns

felix schwenzel, , in artikel    

im prinzip fing alles mit yahoo an. 1994, sagt die wikipedia, stellten die yahoo-gründer david filo und jerry yang eine seite mit links ins netz, die sie „Jerry and David’s Guide to the World Wide Web“ nannten. auf der liste waren tipps für webseiten aufgezählt, die man sich ansehen konnte. 1995 fing ich ebenfalls mit solchen listen an. auf meiner „homepage“, aber auch mit anderen, zum beispiel meinem kommilitonen thomas kemmer, der eine liste mit interessanten architektur-links erstellte und die ich mitpflegte: die gelbe seite.

früher nannte man das guide, wegweiser, homepage, später dann weblog und heute heisst der vorgang leseempfehlungen auszusprechen kuratierung. die kuratierung war jedoch für einige jahre auf dem absteigenden ast, weil ein paar ingenieure einen kosten- und zeitgünstigeren ansatz gefunden hatten, um das wissen der welt zu erschliessen: algorithmen, also suchmaschinen die das web wie kuratoren durchforsteten, ihre relevanzwertung allerdings nicht nach gefühl oder expertise durchführten, sondern durch das zusammenrechnen von verschiedenen messbaren signalen. damit überholte google yahoo irgendwann mehr oder weniger uneinholbar.

aber das kuratieren, also die manuelle relevanzbewertung von sachen im internet, hat in den letzten jahren eine gewisse rehabilitierung erfahren. sowohl in den sozialen netzwerken, als auch in blogs wird zum grossen teil auf zeug im netz verlinkt. es gibt unzählige newsletter, die einem morgens die nachrichtenlage und links dorthin anbieten. und es gibt eine wachsende zahl komerzieller und professioneller — oder sollte ich sagen hauptberuflicher — anbieter dieser dienstleistung: niuws in form einer app mit „handkuratierten“ inhalten in themenboxen (ich mach da mit), blendle mit empfehlungsmenschen und ressorts wie interviews, medien oder politik (ich mach da mit) oder jetzt, ganz neu, mit piqd.de (ich hab da nen „premium“-zugang zum testen, mach da aber nicht mit).

kuration, empfehlungen, linklisten, hinweistweets, geteilte artikel überall. mittlerweile kann man den eindruck bekommen, dass es bald mehr empfehlungswebseiten gibt, als seiten die originäre inhalte produzieren. oder dass es bald meta-kuratoren gibt, die nicht ausgewählte, relevante inhalte empfehlen, sondern kuratoren, also die empfehler selbst empfehlen.

aber nicht nur die unübersichtlichkeit der medienlandschaft ist ein problem, ein viel grösseres ist die begrenzte aufmerksamkeit und zeit die man als konsument hat. oder anders gefragt: wie gut können sich aggregatoren im medienmix behaupten? wie schaffen sie es, sich in unseren alltag zu drängen?

ich hol mal kurz aus:

blendle fühlt sich für mich wie eine gigantische sonntagszeitung an. wenn ich früher™ meinte nicht viel zu tun zu haben, also zeit hatte, habe ich mir oft eine sonntagszeitung gekauft in der erwartung damit eine angenehme zeit verbringen zu können und interessante sachen zu lesen zu bekommen. so ist das bei blendle im moment auch: ich gehe zu blendle, im wissen, dass ich dort wohl einige zeit verbringen werde und mich festlesen werde. umgekehrt, gehe ich eben nicht „mal eben“ zu blendle, vor allem nicht, wenn meine todo-liste mich anschreit: tu was! ebenso wenig öffne ich meine niuws-app oder piqd.de um in einer arbeitspause mal kurz auf andere gedanken zu kommen oder kurz zu prokrastinieren. das mache ich meist mit spiegel.de um einen kurzen überblick über die vorgefilterte weltlage zu bekommen — oder werfe einen kurzen blick auf meine twitter- oder facebook-timelines.

all die empfehlungsmaschinen, niuws, piqd, blendle und meinetwegen auch die linksektion auf dieser website haben eigentlich keinen platz im alltag, sondern sind soetwas wie sofa-angebote. oder bahnfahrangebote — aber da sitzt man ja auch im sofa, quasi. ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich mich gegen einen besuch dieser webseiten entscheide oder den besuch auf einen späteren zeitpunkt verschieben möchte, weil ich weiss, dort verliere ich jetzt zu viel zeit, die ich gerade nicht verlieren möchte. mir fiel das auf, als ich gestern in einem wartezimmer sass und dort eine alte ausgabe des stern aufschlug. dadrinnen waren tatsächlich einige lesenswerte artikel, bzw. interviews. zum beispiel dieses mit max mosley [blendle-bezahllink, 0,65€]. das interview erschien in der ausgabe vom 1. oktober und wurde auf blendle einige male heftigst empfohlen. würde ich mehr zeit auf blendle verbringen, wäre es mir vielleicht schon vorher aufgefallen. isses aber nicht. und einer der gründe dafür dürfte sein, dass meine/unsere zeit eben nicht beliebig verfügbar ist.

die konkurenz um unsere aufmerksamkeit oder um unsere „sofa-zeit“ tobt gerade mit besonderer intensität. es prasseln so viele günstige und hochqualitative angebote auf mich ein, dass ich mich ständig fragen muss: soll ich mich jetzt vom fernseher berieseln lassen? meine lieblingsserien weitergucken? das angefangene buch weiterlesen? oder sollte ich mich gar mit anderen treffen und ein bisschen zeit mit anderen menschen auf sofas oder barhockern verbringen? oder doch lieber meine feeds weglesen? twitter und facebook durchlesen? mal bei blendle, niuws oder jetzt piqd vorbeischauen?

* * *

weil mich frederik fischer eingeladen hat mir piqd.de anzusehen, habe ich mich gestern entschieden mal ein wenig zeit dort zu verbringen. alles sehr schön aufgeräumt und übersichtlich dort! aha:

piqd ist ein Aggregator.
Wir respektieren unsere Quellen und feiern unsere Fundstücke.

Jedes unserer Schwerpunktthemen wird von einer kleinen Redaktion aus Fachjournalisten, Wissenschaftlern und Politikern betreut. Jeder Experte kann pro Tag maximal einen Link posten.

gut, nur ein link pro tag, eine dankenswerte einschränkung, die es vielleicht leichter macht sich durch den informationsüberfluss durchzukämpfen. andererseits sind 66 „experten“ dann auch wieder ne menge.

was ich sehr mag ist die möglichkeit der experten einen link wortreich zu empfehlen. auf twitter oder niuws ist die zeichenzahl des empfehlungstextes eingeschränkt (niuws hat das limit für die empfehlungstextlänge gerade kräftig nach oben korrigiert), auf facebook und in blogs geht das schon lange so. wobei sich leider wenige die mühe machen, längere erklärungstexte, einschätzungen oder gründe den text zu lesen an den link zu heften. bei piqd.de sind die „experten“ offenbar dazu angehalten.

die empfehlungstexte sind teilweise so gut, dass ich den link gar nicht mehr klicke (zum beispiel).

im kanal „literarischer journalismus“ habe ich auch schon eine perle geborgen, dieses interview mit boris becker. das ist zwar 5 jahre alt und steht in der würg welt, aber ist (natürlich) ein tolles lesestück. beim punkt datum habe ich auch die einzige kritik an piqd.de; die empfehlungstexte der „piqer“ haben kein datum, die „original-artikel“ nur gelegentlich. immerhin sind die kommentare unter den artikel verdatumt.

ansonsten gibt es an piqd.de nix zu meckern: die gestaltung ist anmutig, die site funktioniert auf allen geräten, die ich ausprobiert habe, einwandfrei, die kanal- und themenauswahl ist so zeitgeistig dass einem beim piqd.de-besuch beinahe ein dutt auf dem kopf wächst. sehr geschickt auch nicht von „netzpolitik“ zu reden, sondern von politik und netz.

ausser dem unterstreichungs-design (zu eng an den buchstaben nach meinem gefühl) hab ich tatsächlich nichts an piqd.de auszusetzen. na gut, es ist etwas irritierend sich von aktiven politikern texte empfehlen zu lassen, ich beobachte mal, wie das auf dauer auf mich wirkt, aber ansonsten ist piqd.de eine willkommene bereicherung in meinem ohnehin schon völlig überladenen medien-menü.

p.s.: meine lieblingsempfehlungsquelle ist übrigens der digg-RSS feed. ich habe schonmal vor ein monaten aufgeschrieben warum. natürlich ist das ausschliesslich englischsprachig, aber mir gefällt, wie der feed in mein medienmenü passt: die empfehlungen schwimmen in meiner informationsquelle nummer eins, meinem RSS-reader. keine separate app, kein separates ansurfen einer webseite, kein trara (das gleiche gilt übrigens für rivva und seinen RSS feed). und in aller bescheidenheit, ich glaube genau das ist auch der grund, warum es nicht wenige leute gibt, die meine (fast) täglichen links schätzen. eine übersicht an dingen die möglicherweise interessant sein könnten, ein kommentar dazu, der bei der einschätzung der relevanz hilft (oft auch nicht) und sonst nichts.