differenzierter ressentimieren mit dem tagesspiegel

felix schwenzel, , in artikel    

wie sicher fühlen sie sich? / warum vitamin b12 wichtig ist!
wie sicher fühlen sie sich? / warum vitamin b12 wichtig ist!

frank bachner fragt im tagesspiegel: „Wird Berlin zum Angstraum?“. als einstieg in seinen artikel wählt er den von populisten bereits gut ausgebauten pfad der emotion und rezitiert drei vorfälle, in denen „arabischstämmigen junge Männer“ auffielen oder pöbelten. damit man als leser nicht den fehler macht, einzelfälle als einzelfälle abzutun, betont er: „Es gibt viele dieser Einzelfälle in der Stadt.“

hörte man nach den ersten paar absäzen auf zu lesen, könnte man glauben, dass der tagesspiegel hier einem moderaten AFDler eine meinungsplattform bietet. aber nach der grossen, emotionalen einstiegsgeste, macht frank bachner einen kleinen schwenker, zitiert die rückläufige kriminalitätsstatistik, die dem sicherheitsgefühl „der Menschen“ widerspräche. berlin sei schon immer von sozialen spannungen geplagt gewesen, nie ein „reiner Wohlfühlort“ gewesen.

weil ich ja nicht nach ein paar absätzen aufgehört habe zu lesen, wird mir langsam klar, worauf frank bachner hinaus will. die „Einzelfälle“ summieren sich zu einem von vielen gespürtem gefühl: angst. und deshalb, schreibt er, „verschwindet bei vielen Menschen zunehmend die Bereitschaft zum differenzierten Blick“. diesen differenzierten blick versucht frank bachner dann auch im laufe seines artikels schweifen zu lassen; er weist auf die überlastete justiz, den schwindenden respekt gegenüber der polizei hin, er identifiziert problem-bezirke (hermannplatz) und bereiche in denen konfliktbewältigungsstrategien gut funktionieren (fussballturniere, schulen).

ich bin ein grosser fan der differenzierung, auch wenn es mir nicht immer gelingt ausreichend zu differenzieren oder das grössere ganze zu sehen. aber genau so, wie es wichtig ist probleme zu erkennen (und zu benennen), ist es wichtig haltung zu bewahren und die verschiedenen möglichen blickwinkel nicht aus den augen zu verlieren. wer jemals ein bisschen in geschichtsbüchern (oder der GEO-epoche) geblättert hat, erinnert sich, dass es unzählige situationen gab, in den neuankömmlinge von den früher angekommenen als bedrohung angesehen wurden. die iren in den usa („When America Despised the Irish: The 19th Century’s Refugee Crisis“) oder die polen im ruhrgebiet (die im 19ten jahrhundert parallelgesellschaften bildeten). das muster ist immer das gleiche: die neuangekommenen werden als bedrohung angesehen, es gibt unzählige konflikte und spannungen, aber nach zwei, drei generationen wirkt der name schimanski plötzlich deutsch und die saint-patricks-parade in new-york ur-amerikanisch. irgendwann ist die integration derjenigen, die noch vor ein paar generationen für „angstträume“ sorgten, so gut gelungen, dass sie selbst gegen neuankömmlinge agitieren.

man darf von einem artikel von einem lokalredakteur in einer lokalzeitung natürlich nicht zu viel erwarten, aber denoch haben mir historischen perspektiven in diesem artikel gefehlt, aber auch die ganz konkreten perspektiven, zum beispiel die sicht der neuangekommenen.

der deutschlandfunk zitiert den historiker philipp ther zu angela merkels wir-schaffen-das-satz wie folgt:

Wir? Wer ist hier wir? Eigentlich sind es sie, die es schaffen, also die Flüchtlinge. Vielleicht wäre es auch wichtig, denen eine Stimme in der gegenwärtigen Debatte zu geben.

natürlich ist es auch wichtig den unzufriedenen, den angstträumenden, denjenigen, die dazu neigen einzelfälle zu verallgemeinern, zuzuhören, aber genauso wichtig ist es eben auch — immer wieder — auf das grosse ganze, auf die grossartige idee des rechtsstaats hinzuweisen. in diesem rechtsstaat sitzen üblicherweise eben nicht die betroffenen über täter zu gericht, sondern richter, die (im idealfall) nicht von emotionen, ängsten oder resentiments getrieben sind. emotionen und recht führen, wie emotionen in der politik, nicht unbedingt zu gerechtigkeit.

zur differnzierung gehört auch ein hinweis darauf, dass kriminalität, gewalt oder pöbelei eben nicht nur ein problem mit „arabischstämmigen jungen männern“ ist, sondern ein problem mit fast allen jungen männern — und oft auch mit älteren.
die aggressivität (nicht nur) im strassenverkehr ist ein problem, das genau wie die aktuellen spannungen und probleme um flüchtlinge ein anlass sein könnte, justiz und polizei zu stärken und besser auszustatten. das argument für die stärkung des rechtsstaats sollte aber lauten, dass sich alle an recht und gesetz und anstand halten müssen und nicht nur eine bestimmte gruppe. oder differenziert ausgedrückt: arschlochverhalten (nach dem gesetz) muss sanktioniert werden, egal von wem es verübt wird.

auch robert ide versucht im heutigen checkpoint zu unterstreichen, dass frank bachner mit seinem artikel nicht nur emotionen und ängste schüren möchte, oder potenziellen afd-wähler mit verständnis überschütten möchte, sondern dass er differenzieren möchte:

mir fällt es schwer insgesamt schwer hier diesen differenzierungswillen zu erkennen, insbesondere aber angesichts dieses schlusssatzes, der den leser ohne weitere einordnung zu grosser sorge auffordert:

Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass eine neue Welle von Gewalt auf uns zukommt.

ich glaube wir müssen uns auf einen rechtsdrallige boulevardisierung des tagesspiegel vorbereiten (wird der tagesspiegel zum boulevardblatt?) und ich sehe eine medien-welle von AFD-umfeld-verständnisbekundungen auf uns zukommen.