paraarchitektur

felix schwenzel, , in wirres.net    

kalte platte

seit wochen versuche ich einen text über einen film zu schreiben der mir sehr am herzen liegt und demnächst auf DVD rauskommt. ich frage mich wie weit darf man ausholen um dann das wesentliche in vier absätzen abzuhandeln? elf absätze lang habe ich ausgeholt. eigentlich scheisse. aber muss ja keiner lesen. dient eh nur der privaten erinnerung. oder so.

* * *

nach meiner schreinerlehre sah ich keine perspektive mehr. zumindest keine die mich auf dauer hätte befriedigen können. es gab leute, die sich für die möbel die ich baute interessierten und dafür bezahlten. ich hätte mich ewig und gut, von mund zu mund propaganda hangelnd, als schreiner durchschlagen können. aber ich wollte mehr. mehr perspektiven. mehr potential. etwas unternehmen. entwerfen und umsetzen. leute kennenlernen mit denen man gemeinsam was reissen kann: jugendlicher grössenwahn.

also studierte ich architektur.

kubus

leute kennenlernen war nicht schwer. die studenten der ersten semester wurden für zwei jahre zu 10-20 studenten in kleine arbeitsräume gesteckt und dazu angehalten eine menge gemeiner aufgaben unter grossem zeitdruck in gruppen zu bearbeiten. vordiplom nannte man das verharmlosend. da lernte man sich teilweise besser kennen als es einem lieb war. eine dieser arbeitsgruppen wollte im zweiten semester ein grössenwahnsinniges projekt realisieren: ein „lichtlabor“ im stadtpark stuttgart, nicht wie üblich im architekturstudium, auf papier oder in pappe, sondern, wie man heute sagen würde, im reallife (RL), in echt halt. entgegen aller erwartungen und nicht wenigen widerständen, gelang das projekt. ein sieben mal sieben meter grosser kubus wurde in 6 tagen nach wochenlanger planung, sponsorensuche und organisation aufgebaut. zu danken war das dem grössenwahn und dem organisationstalent einer 14köpfigen gruppe, die sich und ihren arbeitsraum „institut für paraarchitektonische phänomene“ nannte. der name war natürlich eine anmassung und provokation. gegenüber den studentenarbeitsräume befanden sich im ganzen architekten hochhaus die diversen architektur-„institute“. der name sollte andeuten: ihr könnt uns mal. wieder: jugendlicher grössenwahn.

die grössenwahnsinnigsten vier aus der kubus-gruppe, andrea, hans-jörg, gregor und alex entschieden sich das projekt unter diesem namen auf eigene faust weiterzuführen und fragten mich, der ich am kubus projekt nur als staunender zuschauer beteiligt war, ob ich mitmachen wollte.

klar wollte ich, mein diffuser traum aus meiner end-schreiner zeit, sollte wahr werden: mit leuten die mehr und anderes als ich drauf hatten was reissen. wir wollten unser studium in die eigenen hände nehmen und im studium soviele „echte“ projekte auf eigene faust wie möglich durchführen.

die voraussetzungen waren optimal, gregor war ein begandeter, aber realistischer visionär und entwerfer, hans-jörg konnte organisieren wie ein olympia-organisationskomitee, andrea hatte durch eine erbschaft ein paar mark auf der kante und war ziemlich pfiffig, alex sog das wissen das während des studiums in uns hineingepunmpt wurde wie ein schwamm auf und konnte es auf leichten druck jederzeit wieder abgeben und ich kannte mich ganz gut mit computern aus. mit anderen worten, wir ergänzten uns optimal.

in der tat realisierten wir ein paar projekte, wir bauten ein büro-loft aus, realisierten ein paar messestände, bauten ein modegeschäft um, veranstalteteten parties und ausstellungen, drehten kleine filme, schrieben ein drehbuch, versuchten ein baudenkmal zu retten, knüpften verbindungen und schlichen uns ins online universitäts-fakultäts verzeichnis. dort stand nun neben den „institut für baukonstruktion“ und „bauökonomie“ das „institut für paraarchitektonische phänomene“. von 1995 bis 2001 kamen sicher 30 projekte zusammen, von denen wir viele, wie geplant, auch als studienleistungen verwursten konnten. zwischen 1999 und 2001 waren wir auch an der organisation und durchführung von verschiedenen lehrveranstaltungen beteiligt, obwohl wir noch gar kein diplom hatten. auch unser (selbstgestelltes) diplom machten wir gemeinsam, aus dem diplom-thema enstanden auch noch zwei weitere lehrveranstaltungen, eine an der uni stuttgart, eine an der „merz akademie“. entäuschend fanden wir, dass wir unser diplom nicht selbst prüfen konnten, dafür brauchten wir doch noch zwei professoren.

die gruppe war allerdings einer gewissen fluktuation unterworfen, andrea verliess das ipp bereits im jahr 1997, alex zwei jahre später, dafür kamen ansgar 1999 und 2002 andreas dazu, kurz nachdem hans-jörg nach unserem gemeinsamen diplom ging.

luftaufnahme schlossplatz

unser letztes grösseres projekt nach unserem diplom drehte sich um den kleinen schlossplatz (obwohl das schon gar kein wirkiches gemeinsames projekt war, eigentlich waren federführend nur noch ansgar und gregor daran beteiligt, ich und andreas waren in der zeit mit zwei, drei internetprojekten beschäftigt). die idee war einfach: dem kleinen schlossplatz, der anfang des jahres 2002 abgerissen werden sollte, nocheinmal zu einem gradiosen aufbäumen zu verhelfen. wir liessen alle über die jahre aufgebauten verbindungen spielen, setzten uns ins boot und holten andere mit rein. das booot war am ende zum bersten voll mit der merz akademie, die dort einen projekt- und experimentierraum für studentenarbeiten installierte, der galerie hammelehle und ahrens die dort für 3 monate einen pavilion bezog, der crew von pauls boutique, koton, dem möbelhändler, martin benzing und seiner frau von „merz und benzing“ am markplatz, beide voller guter ideen und bester verbindungen zur stadtverwaltung und eben dem institut für paraarchitektonische phänomene.

es sollte ein gigantisches fanal werden. neben dem pauls boutique sollte im ehemaligen mövenpick, nun pussy galore genannt, feste gefeiert werden, die stuttgarter „kulturszene“ sollte in der galerie hammelehle und ahrens und dem merz-akademie-projektraum implodieren, licht-installationen sollten den kleinen schlossplatz privat-finanziert illuminieren und der stadt zeigen was durch eine konzertierte, private initiative alles gerissen werden kann (jaja, grössenwahn).

das pussy galore und pauls boutique waren in den letzten wochen und über sylvester besser gefüllt als je zuvor (es ging ja dem ende entgegen), die zeitungen berichteten, die szene tummelte sich, die stadtoberen waren zufrieden, oberflächlich war das ganze ein riesen erfolg.

doch so wie der schlossplatz am ende abgerissen wurde, zerbrach das IPP, zerbrachen ein paar freundschaften, beziehungen und mindestens eine ehe, am ende blieben sehr viel schutt und ein paar tränchen. aus dem schutt entstand aber ein hervoragender film, von 4 merz-akademie studenten, die offenbar sehr nachhaltig vom kleinen schlossplatz angefixt worden waren: die kalte platte.

kalte platte

der film enstand ein paar jahre nachdem ich das IPP und stuttgart verlassen hatte. erfahren habe ich von dem film erst aus der zeitung, denn er lief ein paar mal in diversen stuttgarter kinos und barg eine politische bombe die die stuttgarter „kulturszene“ für ein paar wochen in atem hielt: ganz am ende des films hört man, wie der damalige leiter der galerie der stadt stuttgart, johann karl schmidt, sich abfällig über den neubau der galerie der stadt stuttgart äussert (für den der alte kleine schlossplatz abgerissen wurde):

dass sie jetzt wissen wollen, das kann ich nicht sagen, dass dieser bau ein haufen scheisse … ham sie abgestellt, ja …

[zitat aus dem gedächnis]

das schlug ein wie eine bombe. herr schmidt regte sich auf dass etwas was er unter der hand gesagt hätte so veröffentlicht wurde, die kulturpolitiker echaufierten sich durch alle reihen und am ende nahm schmidt seinen hut.

ansgar und gregor

aber der film war auch ohne diesen PR-gag wirklich gut, wie ich leider erst vor ein paar wochen mit eigenen augen sah (dank an den streamminister). liebevollst recherchiert, zeichnet er die nicht nur architektonisch spannende entstehungsgeschichte des kleinen schlossplatzes nach, zeigt viel mühevoll aus dem swr-archiv gegrabenes material, interviews mit den architekten, zeitzeugen (taxifahrer, „dem stuttgarter“), den gastronomen die den kleinen schlossplatz mitte der neunziger neues leben einhauchten (markus amesöder vom switzerland und Klaus Morlock dem betreiber von pauls boutique) und meinen beiden ehemaligen kollegen ansgar und gregor von institut für paraarchitektonische phänomene. bemerkenswert daran wie beide immer wieder im bild sind, aber nur gregor redet und ansgar sich eine kippe nach der anderen reinzieht (ansgar hat mittlerweile aufgehört zu rauchen).

schlossplatz crowd

der kleine schlossplatz war neben der ecke ums zumzum und dem palast der republik der ort meiner wahl für übermässigen alkoholkonsum — und das im prinzip während meiner gesamten zeit in stuttgart. ich hatte das gefühl dass sich dort ganz stuttgart versammelte, insbesondere im sommer. da war der platz zum bersten voll, alle soffen sich zu mit becks aus der flasche und caipirinhas aus dem pauls. ein paradies für angeber, säufer, architekten, new-economy fuzzis und den geldbeutel der gastronomen.

ich mochte den ort wirklich sehr. das alles und die ollen hackfressen nochmal zu sehen war wirklich schön. schön dass es filme gibt die in privaten erinnerungen rumpopeln.

demnächst soll der film als DVD erscheinen, herausgegeben von der merz-akademie und dem schloss solitude [amazon-link].

mehr infos hier:
www.diekalteplatte.de
betacity juli 2003
plattform kleiner schlossplatz bei halbfas.de

* * *

[nachtrag 22.06.2014]
ich habe ein paar kleine rechtschreibfehler und buchstabendreher korrigiert (aber sicher noch einige dringelassen). ausserdem: die kalte platte ist seit ein paar jahren auch auf vimeo zu sehen:

vimeo-video
vimeo