Rio Cuarto - die hässlichste Stadt der Welt

Sascha Lobo, , in wirres.net    

Rio Cuarto in Argentinien ist zweifelsfrei die hässlichste Stadt der Welt. Hässlich heisst in diesem Fall nicht heruntergekommen, im Gegenteil, das Städtchen ist gepflegt, wenn man stadthygienische Massstäbe anlegt. Hässlich heisst in diesem Fall hässlich. Baulich gesprochen. Rio Cuarto ist eine architektonische Zumutung, die bereits nach zehn Minuten Anwesenheit mit offenen Augen auch den hartnäckigsten Pazifisten mit dem Charme eines Brandbombenteppichs liebäugeln lässt. Der Grund dafür liegt in den früheren Baugesetzen der Provinz. Wenn ein Statiker vorher ein Häkchen drunter gemacht hatte, durfte in Rio Cuarto jeder alles bauen, Hobbyarchitektur gewissermassen, User Generated Buildings, was aber keinesfalls Gebäude 2.0 war, sondern eher Architektur 0.5, nicht mal beta. Früher war ich Anarchist, heute weiss ich, was passiert, wenn es keine Regeln gibt; es entsteht die stadtplanerische Entsprechung eines Volksmusik-Grusicals. Hausgewordene Gestalttherapie. Wahrscheinlich muss man sich in der Beschreibung einzelner Häuser suhlen, um in Schriftform nachvollziehen zu können, was dort über die Jahre zusammengemauert wurde. Nimm die schlimmste Designerhundehütte von Obi, multiplizier sie mit 10.000 und Du bist noch nicht einmal nah dran.

Ich fange mit der Kirche an. Überall auf der Welt sind sakrale Bauten zu einem Teil Ausdruck der Gesellschaft. Eine Glaubensgemeinschaft versucht selten, ausserhalb jeden ästhetischen Massstabs ihrer Patienten zu bauen. Gilt das auch für die evangelistische Kirche im Norden Rio Cuartos, dann muss der Gottesdienst jeden Sonntag die weltgrösste Ansammlung von schwerst farbenblinden Personen sein. Das grelle, mit dem Schwamm aufgetragene Rosa der äusseren Betonbausteine wird durch die in lindgrünem Glanzlack gehaltenen Fensterrahmen kontrastiert. In den Fenstern selbst spielen sich grauenerregende Szenen ab, bunte Glasteile eines übergrossen religiösen Themenpuzzles sind wahllos ineinander verschachtelt. Wenn man die Sicht mittels geschickten Schielens in die Unschärfe gleiten lässt, erkennt man ab und an eine biblische Szene in diesen transparenten Kaleidoskopen des Konfirmandenhorrors. Das Dach des Kirchenschiffes ist mehrfach geschwungen und weit heruntergezogen, heutzutage sind derartige Proportionen auf den Umverpackungen von Bildbearbeitungssoftware zu finden, um die grenzenlosen Morphingmöglichkeiten eindrücklich zu vermitteln. Obwohl modern, hat der ausführende Architekt nicht auf Fassadenspielereien verzichten mögen, die Adolf Loos (Ornament und Verbrechen) eindeutig in den spontanen Freitod getrieben hätten. Über und unter den Fenstern findet sich simsartiger Gipsschmuck, der gerade breit genug ist, damit scheissende Tauben darauf landen können. Die Simse sind aus einem einzigen, vervielfältigten Musterstück hergestellt, durch die klobigen Floralmotive ahnt man den Versuch, den Jugendstil auferstehen zu lassen, es bleibt leider bei einer Zombieversion, der hunderste Aufguss von Jugendstilblütenblättern.

Nur wenige Meter entfernt hat ein Privatmann sich mit seinem Haus verewigt, sich und seine schweren Komplexe. Der Anblick des Hauses macht die Überquerung der vielbefahrenen Strasse davor mit geschlossenen Augen zu einer erwägenswerten Alternative. Man müsste die Fenster doppelt so gross machen, damit sie als Schiessscharten taugen würden. Die Eingangstür zeigt, dass das griechische Tor zur Unterwelt, Hades, durchaus auch mit den Farben und Materialien der 80er Jahre angemessen interpretiert werden kann. Die flächigen Betonmauern der Hausfront sind zwischen den Fenstern in einem Pastellton gehalten, der sich kaum zwischen dem Dunkelgelb eines chronischen Nierenversagens und bronchialem Rotbraun entscheiden kann; das Farbvorbild mag hier jenes schmutzige Orange gewesen sein, das in trübbeleuchteten westdeutschen Fussgängertunneln jahrelang zu Gewaltverbrechen geführt hat. Doch auch dieses moderne Haus kann auf Zierelemente nicht ganz verzichten: eine Seitenwand ist sinnlos nach vorn verlängert und von verschieden grossen, glaslosen Bullaugen oder vielmehr runden Löchern durchsetzt. Durch das zusätzlich angeschrägte Ende und die Farbe (vgl. mittelalter Gouda) erscheint die Schmuckwand wie eine überdimensionale Käsescheibe. Der Eindruck, ein pathologischer Misantroph habe die Planung für dieses Haus in einer frisch geleerten Jauchegrube auf gebrauchte Windeln schreiben müssen, verstärkt sich, wenn man ins Innere gelangt. Die Räume sind allesamt so aberwitzig klein, dass man die Wohnfläche verdoppeln könnte, wenn man die Scheuerleisten herausreissen würde. Geometrisch scheint errechnet worden zu sein, wie möglichst viele Räume ganz ohne Fenster gebaut werden könnten. Die Verwendung kaum mehr als DNS-grossen Wendeltreppen stellt sicher, dass ein Etagenwechsel stets mit einer Lektion in Schlangenmenschentum verbunden ist. Auch der Vorgarten ist eine üble Verhöhnung des Begriffs Weltkulturerbe. Der begrenzende Metallzaun besteht aus geometrischen Elementen, die lieblos zusammengeschweisst wurden, nach dem Motto: Nicht gewollt und nicht gekonnt. Nie hatte der Spruch ‘dort möchte ich nicht mal tot überm Zaun hängen‘ mehr Berechtigung.

Diese Beispiele stehen tatsächlich nur stellvertretend für hunderte weitere Gebäude, die die Untiefen und Tiefen der Architektur ausloten. Schräge, bemalte Flachdächer treffen dort ansatzlos auf Zierdachrinnen aus Messing, Postneogotisches ergänzt Möchtegernretrovictorianisches zu einem Stadtreigen der epigonalen UND schlecht gemachten Epochentanz der Bauvampire. So taumeln die Bewohner Rio Cuartos durch die Strassen, benommen von dem visuellen Presslufthammer, den ihr Stadtbild ihnen unablässig in die Sehrinde des Hirns drischt. Der Mensch gewöhnt sich keinesfalls an alles. Nach acht Wochen Rio Cuarto fragte ich mich eines Morgens, was denn an Diddltapete so schlecht sei, worauf zum Glück ein luzider Moment folgte und ich wusste, dass ich so schnell wie möglich raus musste aus der Stadt, aus Rio Cuarto, der hässlichsten Stadt der Welt.