the network, a headless tail

felix schwenzel, , in wirres.net    

#occupywallstreet

grandiose analyse von jeff jarvis über das was unter dem schlagwort #OccupyWallStreet derzeit passiert:

#OccupyWallStreet is a hashtag revolt. […] A hashtag has no owner, no hierarchy, no canon or credo. It is a blank slate onto which anyone may impose his or her frustrations, complaints, demands, wishes, or principles.
So I will impose mine. #OccupyWallStreet, to me, is about institutional failure. And so it is appropriate that #OccupyWallStreet itself is not run as an institution.

ich glaube, er könnte recht haben mit seiner annahme, dass die ziellosigkeit, hierarchielosigkeit und meinetwegen auch die chaotische erscheinung genau die stärken dieses phänomens sind. ein phänomen das durch die neuen, schnellen, effektiven und ebenfalls dezantralen kommunikationsmöglichkeiten des internet erst möglich wurde. genauer, ein phänomen, dass die strukturen, die sich online bereits seit einiger zeit abzeichneten, jetzt auch in die sogenannte reale welt hinausträgt (wobei die unterscheidung von „real“ und „virtuell“ natürlich sinnlos ist).

das was ich mal über die blogoshäre gesagt habe, dass sie die erste gruppe ist, der ich mich zugehörig fühle, weil sie so ungeheuer heterogen ist, dass man sie gar nicht als gruppe bezeichnen kann, zeigt sich jetzt auch bei #OccupyWallStreet — keine grundsätze, keine ideologie, keine glaubensbekenntnisse. nur der ärger und frust und das bedürfnis das laut und deutlich zu sagen.

man kann das auch einen radikalen individualismus nennen, der technisch und organisatorisch durch das internet zusammengeklammert wird.

jarvis drückt das so aus:

Now one needs a network. #OccupyWallStreet is that network, the headless tail.

hinzu kommt, dass wir institutionen nicht mehr trauen: banken, regierungen, medien, bildungseinrichtungen, religionen, parteien — sie alle verlieren vertrauen. mit den neuen technischen möglichkeiten schaffen wir es, alternativen zu diesen institutionen zu bilden, durch netzwerke, vernetzungen und meme. gedanken die einer äussert, der nächste aufgreift, besser, schlagkräftiger formuliert — und die irgendwann zu einem schlagwort (hastag) werden dass die losen gedanken klammert und in die welt trägt.

die im netzwerk geschaffenen alternativen verklumpen sich teilweise zu quasi-institutionellen einrichtungen (zum beispiel einer „piraten-partei“) die dann natürlich peinlich genau daruf achten müssen, vertrauen nicht wieder durch verklumpung oder geheimniskrämerei oder kumapnei oder institutionalisierung wieder zu verspielen.

wir leben eindeutig in einer spannenden zeit des umbruchs.

* * *

andererseits geht mir das institutionen-bashen auch auf den sack. pauschalkritik ist meistens dumm — oder ideologisch (oder beides). der einzelfall, das detail, die sachfrage gehört kritisiert. man kann begründen, dass beispielsweise frank schirrmacher unrecht hat. schwieriger wirds, wenn man begründen möchte, dass die FAZ unrecht hat.

oder konkret: zu sagen, der datenschutz balkanisiere das internet, ist mir zu ideologisch. wenn darüber nachgedacht wird ob die interpretation einiger datenschützer, dass IP-adressen ein persönliches datum sind, vielleicht über das ziel hinausschiesst, hört sich das schon ganz anders an. über solche fragen kann man dann auch streiten, über die these, dass datenschützer doof und gefährlich seien schon weniger.

was mich teilweise auch an der datenschützerkritischen diskussion stört: die datenschützer interpretieren die gesetze nur. gemacht wurden sie von den vertretern, die wir in die parlamente gewählt haben. da wäre es schon genauer, allerdings auch nicht hilfreicher, zu sagen, die deutsche rechtslage und die unfähigkeit unserer volksvertreter balkanisiere das internet.

auf der konferenz der datenschutzbeauftragten wurden ja auch nicht nur blöde sachen beschlossen:

von den oben genannten entschliessungen kommen mir einige durchaus sinnvoll vor (einige auch weniger). es sollte einem zumindest schwerfallen auf der einen seite datenschutz pauschal doof zu finden und einen absatz später auch die vorratsdatenspeicherung doof zu finden. datenschutz in sozialen netzwerken pfui, datenschutz bei staatlichen stellen hui? datenschutz nur so lange er die wirtschaftliche entwicklung nicht gefährdet?

manchmal erinnert mich die aktuelle diskussion um den datenschutz an die diskussion um die liberalisierung der finanzmärkte um die jahrtausendwende. da hiess es auch, wie bei weigert, wenn deutschland nicht auch wie der rest der welt die finanzmärkte dereguliere und liberalisiere, dass die banken dann einfach an freundlichere finanzplätze ausweichen würden und deutschland den anschluss verpassen würde, tausende arbeitsplätze verlieren würde und sich ins vorindustrielle zeitalter zurückkatapultieren würde. diese katastrophen-rhetorik, die katastrophen an die wand malt, wenn die datenschützer sich nicht zurückhalten, die banken nicht tun dürfen was sie wollen oder der gesetzgeber nicht hochgeschwindigkeits-dsl in jede wohnung bringt halte ich, um es freundlich auszudrücken, wenig überzeugend und wenig konstruktiv.

was mich auch nervt: ständig stellen wir uns die frage was durchsetzbar ist, statt uns zu fragen, was richtig ist. besonders krass fand ich das in einem anderen zusammenhang, als der nicht ganz unpolitische nico lumma laut fragte:

Ich frage mich allerdings auch, wie der HVV das Alkoholkonsumverbot in den U- und S-Bahnen durchsetzen will. Soll jetzt mehr Wachpersonal eingesetzt werden, um das Verbot durchzudrücken?

sollen wir jetzt also nur noch gesetze und vorschriften danach erlassen, was einfach durchsetzbar ist? keine regulierung der finanzmärkte, weil das ja gar nicht geht? schröder hat damals auch so argumentiert. wie nennt man sowas? neo-konservativ-resignativ? „SPD“ und „resignation“ ist schon mal ein passendes wortpaar, bringt uns aber natürlich auch nicht weiter.

aber vielleicht ist das ja das hauptproblem: was wir wirklich wollen, wissen wir einfach noch nicht. wir sollten aber versuchen es rauszufinden. auch wenn dagegensein schon mal ein guter anfang ist.