direktkandidaten casting

felix schwenzel, , in wirres.net    

heute abend habe ich mir im sprengelhaus eine veranstaltung angesehen, in der sechs direktkandidatinnen für den bezirk mitte gelegenheit hatten sich ihren wählerinnen vorzustellen. anwesend waren

die drei ersten wurden auch mit ihrem titel aufgelistet, da sie aber auf ihren wahlplakaten alle drei auf ihren titel verzichten, verzichte ich auch. insgesamt waren in dem relativ kleinen veranstaltungsraum relativ viele, sehr bunt gemischte leute, was ich erfreulich fand, andererseits fand ich, dass für die grösse des wahlbezirks erschreckend wenig leute interesse an ihren kandidaten zeigten.

schaue mir 6 #btw13 kandidaten für berlin-mitte an. pic.twitter.com/lrk8KPPUZy

mir fiel auf, dass die kandidaten in 3D alle sehr viel sympathischer als auf ihren plakaten wirkten. mit der ausnahme des CDU-kandidaten philipp lengsfeld, der in echt genauso strebermässig wirkt, wie auf seinen plakaten. herr lengsfeld hat allerdings, wie man seinem presse- und plakatbild entnehmen kann, eine besondere fähigkeit, die er für so wichtig hält, dass er sie in ebendiesem pressebild zentral herausstellt: er kann einen stift auf ein leeres, unbeschriebenes, kariertes heft halten.

philipp lengsfeld benutzt einen stift
philipp lengsfeld benutzt einen stift

die veranstaltung begann damit, dass jeder kandidat sich und seine zentralen politischen botschaften ungefähr 4 minuten lang vorstellen durfte. erstaunlicherweise klappte das minutengenau. hartmut bade von der FDP fing an. der erste eindruck war sehr sympathisch. in seiner sprache schwang etwas hessisch mit, was ich mag und er sagte anfangs sachen („damit ich in den bundestag komme, müsste die FDP auf ungefähr 40% kommen“) die davon zeugten, dass er sich selbst nicht so irrsinnig wichtig nimmt, was ich auch mag. als er dann aber versuchte zu erklären, dass die FDP in der bundesregierung ganz tolle sachen mache, wechselte seine sprache ins unangenehm schablonenhafte. ich glaube diese out-of-body-experiences, in denen politiker ihren körper verlassen und sich in sprechende parteiprogramme wandeln, sind nicht nur für die zuhörer schwer erträglich, sondern auch für die politiker selbst.

nicht schablonenhaft, sondern in breitgedroschenen phrasen sprach eva högl (SPD). sie ratterte um die 20 „bürger-und-bürgerinnen“ oder „kandidaten-und-kandidatinnen“-konstruktionen pro minute raus, flocht zweimal pro minute ein lockeres „meine damen und herren“ ein und war bemüht, als käme sie frisch vom rhetoriktraining, wirklich jeden menschen mit seinem namen anzusprechen. das sollte eindeutig verbundenheit mit dem wahlvolk, dem kiez, den menschen signalisieren, wirkte auf mich aber unangenehm kriecherisch fraternisierend. andererseits war sie wirklich gut verständlich, modulierte ihre sprache mustergültig und wirkte durchaus aufrichtig und engagiert, als sie über ihre politische arbeit und ansichten sprach. für meinen geschmack allerdings einen ticken zu dick aufgetragen.

klaus lederer von der linken wirkte jovial, jugendlich, offen und fast lausbübisch als er vor der veranstaltung den raum betrat und seine konkurrenten begrüsste. wenn er politisch wird, also über politik redet, verfliegt die jovialität und er verwandelt sich in einen schimpfenden rohrspatz. allerdings einer der durchaus kompetent und wohlinformiert wirkt, der sauber argumentiert und das ganze auch noch ansatzweise pragmatisch und konkret (statt dogmatisch und verallgemeinernd). würde er etwas weniger verbissen und empört argumentieren, könnte ich mir sogar vorstellen, ihn richtig gut zu finden.

herzensgut, sympathisch, aufgeregt und echt war therese lehnen von den piraten. ich würde keinen augenblick an ihren guten absichten zweifeln, was ich aber vergeblich suchte war substanz und ansätze von durchsetzungsvermögen oder -willen.

(politische) substanz fehlt leider auch philipp lengsfeld. er hat die rhetorischen fähigkeiten von edmund stoiber und kann sehr schön gestikulieren. aber sein hauptargument, dass man ihn wählen solle weil die wahl für schwarz-gelb schon so gut wie entschieden sei und er sich dann als angehöriger einer regierungsfraktion im bundestag maximal effektiv für seinen wahlkreis, also den wedding und mitte, einsetzen könne, war wenig überzeugend. er bekundete zwar mehrfach, dass er furchtbar ehrlich sei und im gegenteil zu seinen konkurenten seinen wählern nicht das blaue vom himmel versprechen würde, verstand aber offenbar nicht, dass zum streiten nicht nur das behaupten gehört, sondern das überzeugen.

philipp lengsfeld versucht mit jedem wort und jeder geste einen politiker darzustellen und scheitert dabei so grandios, dass ich beinahe mitleid bekam. da er sich aber mehrfach verbal extrem unangenehm vergallopierte, konnte ich das mit dem mitleid schnell ausknipsen. gegen die doppelte staatsbürgerschaft argumentierte er mit dem „totschläger vom alexanderplatz“, der sich dank seiner doppelten staatsbürgerschaft dem zugriff der deutschen staatsgewalt mit einer reise in die türkei entzog. das argument war so absurd, dass sogar sein kumpel von der FDP deutlich intervenierte und den bullshit von legsfeld bullshit nannte (meine worte). philipp lengsfeld erklärte auch sein gesellschaftsbild in dem es zwei arten von menschen gibt: menschen wie er, die arbeiten, und harz-4-empfänger.

özcan mutlu von den grünen trug ein grünes polohemd mit rotem kragen. er kam als letzter, aber immer noch eine minute vor dem veranstaltungsbegin. ich bin ja fest entschlossen den grünen dieses mal nicht meine zweitstimme zu geben (aus gründen), aber özcan mutlu bekommt mit ziemlicher sicherheit meine erststimme.

özcan mutlu war einer der wenigen der keine schablonenafte sprache nutzte, sondern frei schnauze redete, teilweise sehr emotional aber trotzdem ziemlich sachlich und sehr konkret. er schaffte es nicht nur seine positionen klar und deutlich (und ohne populismus) auszudrücken, sondern auch mit wenigen sätzen philipp lengsfelds ahnungslosigkeit und hohlraum-argumente freizulegen. mir gefiel auch wie er eva högl einmal kurz anpiekste, woraufhin deren fragile floskel-maske unter einem heftigen sarkasmus- und zickigkeitsausbruch zerbrach. (högl fand das millionengehalt von flughafenchef mehrdorn eine schweinerei und nicht nachvollziehbar, worauf mutlu „faktencheck“ rief und darauf hinwies, dass dem aufsichtsrat des berliner flughafens bis vor kurzem zwei SPD männer vorsassen.)

mir war özcan mutlu sehr sympatisch, aber ich finde auch, dass er am besten zum wahlkreis passt, zumindest so wie ich den wahlkreis wahrnehme oder wahrnehmen möchte: bunt, lebendig und dynamisch, aber auch geprägt von tiefen sozialen gefälle, integrationsproblemen und arbeitslosigkeit. die lösungen die mutlu vorschlug fand ich pragmatischer und weniger ideologisch geprägt als die von klaus lederer oder den linken. wobei klaus lederer persönlich gar nicht so ideologisch geprägt wirkte, sondern eher aufrichtig besorgt.

bei allen sechs kandidaten war echte, aufrichtige leidenschaft und engagement für politik zu spüren. alle (bis auf lengsfeld) liessen durchscheinen, dass sie nicht mit allen entscheidungen ihrer parteien einverstanden sind und „persönlich“ teilweise etwas andere meinungen vertreten. so konnten sich auf eine publikumsfrage hin eigentlich alle kandidaten (bis auf lengsfeld) ein bedingungsloses grundeinkommen vorstellen — zumindest auf die lange sicht. alle (bis auf lengsfeld) waren gegen ein bewaffnetes eingreifen in syrien und waffenexporte, wobei högl und bade sich rhetorisch geschickt aus der schlinge zogen und elegant relativierten. beim versuch zu relativeren stolperte philipp lengsfeld ganz böse, als er zum thema waffenexporte aus dem CDU-wahlprogramm vorlas:

CDU und CSU verfolgen das Ziel, weltweit die Verbreitung von konventionellen Waffen stärker zu kontrollieren.

das war der witz des abends und der zeitpunkt an dem ich zum ersten mal glaubte, dass philipp lengsfeld eventuell ein schauspieler, eine art politik-darsteller sein könnte.

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ich fand das ganz grossartig, dass das sprengelhaus diese veranstaltung organisisert hat. es ist das erste mal, dass ich mir die direkt-kandidaten meines wahlkreises zu einer bundestagswahl genauer angesehen habe. aus erster hand, direkt. ich habe mir zwar schon gedacht, dass ich özcan mutlu am sympathischsten und unterstützungswertesten fände, aber zu sehen, dass die menschen die sich hier zur wahl stellen ihre sache ernst nehmen, sich enorm engagieren und aufrichtig kämpfen fand auf eine art sehr beruhigend. heute abend ist mir der wert der erststimme bei einer bundestagswahl zum ersten mal in meinem leben richtig bewusst geworden.

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auf spiegel online kann man seine direktkandidaten mit hilfe von antworten der kandidaten auf abgeordnetenwatch „checken“: kandidatencheck.spiegel.de

das ding scheint zu funktionieren, denn mir wurde vom kandidatencheck özcan mutlu wärmstens ans herz gelegt: „18 Übereinstimmungen bei 24 Thesen“