panikherz

felix schwenzel, , in gelesen    

friedrich küppersbusch meint in seiner rezension auf spiegel.de, das neue buch von benjamin stuckrad-barre sei „geil“. ich finde das wort geil eher ungeil und fand das buch einfach ziemlich gut.

tatsächlich habe ich mir das buch, wie ein sehr gute fernsehserie, in andertalb binge-sitzungen, übers letzte wochenende, am stück reingezogen. eine staffel fernsehserie dauert so in etwa 8 bis 14 stunden, je nachdem wie viele folgen sie hat, das panikherz zu lesen, dauert, laut kindle-app, ca. 14 stunden. dass ich nun ausgerechnet benjamin stuckrad-barre binge-gelesen habe und die anderen, ganz sicher sehr tollen bücher auf meinem bücherstapel, neben dem bett, weiter ungelesenes papier sein lasse (sogar bov’s unzweifelhaft grandioses auerhaus) hatte zwei gründe. ich hatte gerade ein bisschen die nase voll vom fernsehserien gucken und ich hatte so eine ahnung.

nachdem ich die rezension von küppersbusch und eine von helene hegemann gelesen hatte, war ich sicher, dass mir das buch sehr gefallen würde. in beiden rezensionen wurde klar, dass sich stuckrad-barre in panikherz, unter anderem, mit prominenten trifft und darüber schreibt. das roch sehr angenehm nach deutsches theater, meinem lieblingsbuch von stuckrad-barre, in dem er ironisch distanziert, aber teilweise mit viel herz und zuneigung, über prominente schreibt, die er besucht. 2010 gab’s dazu eine fortsetzung, so steht’s zumindest im klappentext von auch deutsche unter den opfern. nur: auch deutsche unter den opfern hatte mir damals (bis heute) niemand empfohlen.

nicht dass ich auf das urteil oder empfehlungen von helene hegemann besonders viel geben würde, aber ich muss nachträglich sagen, sie hat in ihrer rezension den geist des buches ziemlich gut auf den punkt gebracht:

Wo normalerweise effekthascherische Ausführungen darüber erfolgen, wie schlimm alles ist und wie ernst man sich trotzdem nimmt, wird hier alles, was so schlimm ist, mit einer selbstironischen, total klaren und unzynischen Traurigkeit abgearbeitet, die rührend und abschreckend und erhellend und in ihrer, ja, Liebenswürdigkeit wirklich, wirklich wichtig ist.

bevor ich panikherz gelesen hatte, hielt ich die aufgeregtheit ihrer rezension um den „Teufelskreis von Depression und Selbstmedikamention“, das „ganz unten ankommen“ und die todesnähe von benjamin stuckrad-barre für übertrieben und erwartete im buch, neben den begegnungen mit prominenten, eher eine öde, morgenmagazinige drogenbeichte: „och ja, hab halt n bisschen viel gekokst, hab mir einmal beinahe auf die maßschuhe gekotzt und am ende musste ich dann die villa im tessin verkloppen.“

natürlich hatte hegemann recht (sie hatte das buch ja auch schon gelesen) und ich nicht, mit meinen bescheuerten vorurteilen. die „selbstironische, total klare und unzynische“ art, mit der benjamin stuckrad-barre die jahre seiner manischen sucht erzählt, ging mir wirklich nah. obwohl sich stuckrad-barre jeden pathos in seiner erzählung verkneift, ausser bei seinem hemmungslosen enthusiasmus und fantum, vor allem gegenüber udo lindenberg, haben mich manche teile der erzählung tief berührt und gerührt.

für mich am erstaunlichsten war, wie nachvollziehbar das alles erzählt ist, auch wenn mir der lebenstil von benjamin stuckrad-barre fremder nicht sein könnte. die charaktereigenschaften, die er am helden seiner autobiographie herausarbeitet, die irre eitelkeit, das besessene achten auf äusserlichkeiten und klamotten, seine tiefe liebe zur musik, seine (wahrscheinlich gut entlohnte) zuneigung zum verkackten springer-verlag und seine überbordenden emotionen und ekstatik — damit kann ich in meinem leben wenig anfangen. meine serotonin-produktion reicht offenbar aus, um mich in einen dauerzustand bräsiger selbstzufriedenheit zu versetzen.

aber ich erkannte auch gemeinsamkeiten. udo lindenberg fand ich immer ganz lustig, über den songtext von renate von stich konnte ich mich damals kaputtlachen, stark wie zwei hab ich mir mehr oder weniger am erscheinungstag geholt und cello kann ich stundenlang in dauerschleife hören. und, jetzt kommts raus, ich will so schreiben können wie benjamin stuckrad-barre. ich war nie ein ausgesprochener fan von benjamin stuckrad-barre, ich hab wenig bücher von ihm gelesen und noch weniger gut gefunden, ich fand all die fernsehauftritte, die ich von ihm sah, doof, aber das was er in deutsches theater und jetzt in panikherz veranstaltet hat, das nötigt mir eifersucht und bewunderung ab. benjamin stuckrad-barre beschreibt dieses gefühl in panikherz auf den punkt genau:

Und dann kündigte [Harald Schmidt] den Gast Adam Green an, dessen ödes Songwriterschluffitum gerade der heiße Scheiß war, obendrein hatte er ein Gedichtbändlein bei SUHRKAMP veröffentlicht und war also der Hipster der Saison, ekelhaft — beziehungsweise schade, dass ich selbst das nicht war.

ich bewundere aufrichtig die fähigkeit von benjamin stuckrad-barre, situationen und menschen gleichzeitig glasklar und ambivalent zu beschreiben, ironische distanz mit aufrichtiger bewunderung zu kombinieren. er schafft es, assoziationsketten und metaebenen in luftige höhen zu schrauben und doch immer wieder heile unten anzukommen.

einerseits weil die kindle-app, mit der ich das buch vor allem auf meinem laptop gelesen habe, kein copy und paste erlaubt und andererseits weil mir viele passagen im buch so irre gut gefielen, habe ich während des lesens, das halbe buch ungefähr zwanzigtausend zeichen abgetippt. ich bilde mir ein, dass ich so dem text ein bisschen näher gekommen bin, ein bisschen so, wie ich immer die quelltexte von webseiten oder anwendungen lese, um zu verstehen wie man solche sachen baut.

natürlich ist das eine völlig absurde hoffnung durchs lesen oder abschreiben oder intensives studium eines fremden schreibstils, selbst besser schreiben zu lernen, aber dass wir alle auf den schultern von (grösseren oder kleineren) giganten stehen hat benjamin stuckrad-barre selbst wunderbar beschrieben:

So wie ich direkt nach dem Abitur zur Musikmesse »Popkomm« nach Köln gefahren war mit hochstaplerischen Visitenkarten, die ich bei Karstadt in einem Automaten angefertigt hatte […], und durch Nachahmung vorgefundener Sprech- und Verhaltensweisen und Akzentuierung vorhandener PERSÖNLICHKEITSMERKMALE dann einfach Musikjournalist wurde; durch Hören sehr alter Platten und Biertrinken: Rolling-Stone-Redakteur; durch eng sitzende Polyesteroberteile und gute Laune: Plattenfirmenmitarbeiter; durch Kaputtheitsmitteilungsdrang und Welterschöpfung: Buchautor; durch Zukurzgekommenen-Sarkasmus: Schmidt-Witzeschreiber; durch Lichtsucht: Fernsehdepp — und, möglicherweise, durch all das zusammen schließlich: Essgestörter.

ich bewundere die ständig aufflammende scharfsinnigkeit von benjamin stuckrad-barre, beim beschreiben von alltagssituationen, ich beobachtete mich beim lesen öfter beim innerlichen nicken und zustimmen, als beim kopfschütteln und „du oberflächlicher depp“-denken. auch wenn benjamin stuckrad-barre zum ende des buches etwas ins schwadronieren gerät und stellenweise etwas arg viel über musik tönt, das buch ist so vollgestopft mit klugen alltagsbeobachtungen, liebevollen parodien und weltdeutungen, dass es mir möglicherweise noch jahrelang als zitatschatzkammer dienen wird.

Wenn uns Menschen irgendwer oder irgendwas — sei es JENES HÖHERE WESEN oder auch nur ein Satellit — zuschaut hier unten, muss doch denken, wir spinnen. Manchmal schaue ich mir Ameisen an, wie die da auf einem halben Quadratmeter stundenlang vor sich hin schuften, extrem dizispliniert und offenkundig von keinem Zweifel angekrankt, dieses Sandkorn, das muss jetzt aber so was von dringend nach da drüben transportiert werden und immer so weiter — und dann denke ich, das ist doch vollkommen irre, wozu denn die Hektik, warum so beflissen, was sind denn das für Prioritäten? Wenigstens nicht ganz so beeilen müsstet ihr euch! Das mit dem Sandkorn — hat das nicht, auf den Weltenlauf umgerechnet, eventuell auch Zeit bis morgen, übermorgen?

neben dem schreibstil- und zitate-bergbau diente mir das buch aber auch als vertiefung von ahnungen und längst vorhandenen überzeugungen. es zeigt, vor allem im ersten teil des buches, wie wichtig, und wie schwer es ist, leidenschaften zu entwickeln. wir brauchen dafür mentoren, lehrer, freunde, zufälle und mitunter zeit. es ist für alle beteiligten nicht immer ganz leicht die qualitäten oder den nutzen der leidenschaften zu erkennen, oder sie mit den erwartungen ans leben übereinzubringen. das buch zeigt aber auch, wie wichtig es ist, dass es leute gibt die sich an den rand bewegen, die die linien überschreiten, die die meisten nicht überschreiten wollen oder können und von dort berichten. wenn die, die diese grenzen überschreiten, auch noch anständig schreiben, berichten oder musizieren können und uns von ihren erfahrungen so berichten können, dass wir auf irgendeiner ebene etwas davon rezipieren können, haben sie einen teil der mission erfüllt. der andere teil der mission ist natürlich, sich selbst wieder zu fangen, zu ihren ursprüngen zurückzukehren, oder wie benjamin stuckrad-barre das in einem angenehmen anflug von pathos ganz einfach sagt: „nach hause kommen“. ich finde, beides ist benjamin stuckrad-barre ziemlich gut gelungen.

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zwei leseproben bei springer:

rezensionen:

pullern im stehn

felix schwenzel, , in gelesen    

grossartiges buch. durchzogen von sehr subtiler witzelsucht und schonungsloser offenheit, mit der sich fil teilweise so lächerlich macht, dass man die geschichten gar nicht glauben will, es aber trotzdem tut. ich persönlich glaube ihm tatsächlich alles, was er in das buch geschrieben hat, vor allem weil ich mich in sehr vielen der absurden situationen wiedererkenne. allein dafür, dass er der welt (mir) in erinnerung ruft welch verlorenes und absurdes welt- und menschenbild in den köpfen von pubertierenden menschen wabbert, gebührt fil dankbarkeit — und von mir aus auch grosse literarische anerkennung.

die geheimen tagebücher des adrian mole waren in diesem genre ziemlich witzige vorreiter, aber bei fil ist das alles nochmal zehmal witziger und erschütternder, weil ich mich viel besser mit der hauptfigur identifizieren konnte als mit adrian mole. die lebensgeschichte von fil ist allerdings auch wegen der vielen eingewobenen ironie- und metaebenen um ein vielfaches witziger — vielleicht aber auch doppelt so schwer verdaulich. ausser fil können das nicht viele: einen text bis zu bersten mit stereotypen und dummheit vollpacken und dann alles bis zur unkenntlichkeit verrühren, mit metaebenen und distanz würzen und zu einem grossen lesevergnügen machen.

es gibt wenig bücher bei denen ich beim lesen laut lache, bei „pullern im stehn“ musste ich das alle paar seiten. allerdings funktionieren die stellen die ich mir im ebook markiert habe aus dem kontext des buches gerissen überhaupt nicht mehr. genauso wie übrigens die live-shows von fil nicht aufgezeichnet oder auf youtube funktionieren. man muss ich die auftritte von fil schon selber ansehen — und das buch eben auch selbst lesen. ich finde das lohnt sich, ich fands brilliant.

[amazon-werbelink] pullern im stehn: die geschichte meiner jugend von fil.

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johnny haeusler hat vor ein paar wochen in fluxfm spreeblick mit fil über das buch gesprochen. lohnt sich auch, das anzuhören.

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die beifahrerin meinte eben zu mir:

geniales buch — müssen alle lesen! das ist ein meisterwerk — und auch wenn das kein kompliment ist: man merkt dem buch die viele arbeit an, die er da rein gesteckt hat.

„Riesen-Scheiss-Pleite“

felix schwenzel, in wirres.net    

in der danksagung am ende seines neuen buches beschreibt andrew keen, wie ihn der atlantic-books-chef toby mundy überredete ein buch zu schreiben, in dem er seine „Überlegungen zum Internet“ zusammenfassen solle:

»Es ist ganz einfach«, versprach er mir. »Schreib einfach alles auf, was du über das Internet denkst.«

keen hat das tatsächlich gemacht und man kann das auch relativ kurz zusammenfassen: er denkt über das internet nicht viel gutes. das internet, schreibt er einmal in einem nebensatz, habe zwar ein paar gute seiten, sei unterm strich aber eine „Riesen-Scheiss-Pleite“. die „Riesen-Scheiss-Pleite“ ist eigentlich ein zitat, das er in kapitel 8 einem „ungekämmten und unrasierten Jungen“, der auf einer konfernez neben ihm sass, in den mund legt. im original lautete das zitat wahrscheinlich „epic fucking fail“. keen greift dieses zitat auf den folgenden seiten (oder im buch-promo-material) wieder auf, um zu beschreiben was er über das internet denkt.

keen wollte das buch ursprünglich auch „epic fail“ nennen, nannte es dann im original dann aber „the internet is not the answer“. auf deutsch entschied sich die deutsche verlags-anstalt dann für den epischen titel: „Das digitale Debakel: Warum das Internet gescheitert ist - und wie wir es retten können“.

der deutsche titel ist verständlicherweise etwas auf randale gebürstet. nach der verleihung des friedenspreises des deutschen buchhandels an jaron lanier erwartet der verlag offenbar zu recht, dass die internet-kritischen deutschen intellektuellen und feuilletons neue nahrung brauchen. um ganz sicher zu gehen, dass die zielgruppe das buch auch als internetkritisch erkennt, hat man das buch dann gleich auf dem cover in 14 worten zusammengefasst.

auch beim umschlagtext übertrieb man zur sicherheit gleich ein bisschen und sagt über keen:

Er lehrte an mehreren US-amerikanischen Universitäten und gründete 1995 ein erfolgreiches Internetunternehmen im Silicon Valley.

im buch schreibt keen auf seite 226 das gegenteil:

Während Kalanick in den Neunzigern mit Scour scheiterte, scheiterte ich mit meinem eigenen Musik-Start-Up AudioCafe.

* * *

um die einleitung von keens buch zu lesen, habe ich mehrere anläufe gebraucht. texte in denen mehr rumbehauptet als argumentiert wird, verlieren ganz schnell mein interesse. nachdem er 5 seiten auf michael und xochi birch und deren battery-club rumhackt, füllt er die restlichen 7 einleitungsseiten mit allgemeinem internet-gemäkel, das der verlag im promotion-material auf diesen absatz zusammengedampft hat:

Nicht die Gesellschaft profitiert von einer „hypervernetzten“ Welt, sondern eine elitäre Gruppe junger weißer Männer. Was ihnen immer mehr Reichtum beschert, macht uns in vielerlei Hinsicht ärmer. Das Internet vernichtet Arbeitsplätze, unterbindet den Wettbewerb und befördert Intoleranz und Voyeurismus. Es ist kein Ort der Freiheit, sondern ein Überwachungsapparat, dem wir kosten- und bedenkenlos zuarbeiten. Kurzum: Das Internet ist ein wirtschaftliches, kulturelles und gesellschaftliches Debakel.

ganz einfach: schreib einfach auf was du über das internet denkst — zack, ist die einleitung fertig!

ich habe keen ein paar mal live erlebt und gesehen und fand ihn mit seiner schneidenden stimme und brillianten rhetorik immer sehr überzeugend. einer seiner vorträge auf der next-konferenz im jahr 2009 hat mich massgeblich zu meinem vortrag warum das internet scheisse ist inspiriert. aber gerade weil ich keen schätze, hat mich die fehlende tiefe der argumentation in der einleitung besonders genervt.

die folgenden kapitel kommen einer analyse dann schon etwas näher. keen zeichnet die entstehung des internets und des world wide webs nach und hält sich mit dem, was er über das internet denkt, ein bisschen zurück. er zitiert freund und feind und irgendwann beim lesen wird einem klar, dass keen eigentlich gar nicht das internet scheisse findet, sondern den kapitalismus.

Die Spielregeln der New Economy sind daher dieselben wie die der Old Economy — nur mit Aufputschmitteln.

Simon Head vom Institute for Puplic Knowledge an der New York University erklärt, damit sei Amazon zusammen mit Wal-Mart »das unverschämt rücksichtsloseste Unternehmen der Vereinigten Staaten«.

im prinzip erfüllt keen also sascha lobos forderung, keinen quark zu erzählen:

Beschleunigungskritik ohne Kapitalismuskritik ist Quark.

tatsächlich differenziert andrew keen in seinen analyse-kapiteln auch gelegentlich und räumt ein, dass die probleme die das internet verursacht auch schon in der welt ohne internet existierten. aber leider vereinfacht er mitunter auch so sehr, dass das bild, das er zeichnet, mir stellenweise sehr verzerrt erscheint.

in keens weltbild ist das internet am niedergang der kultur schuld. seine lieblingsbeispiele sind der buchhandel und die musikbranche. er beklagt sich sogar darüber, dass es kaum noch vinyl-platten gebe und sieht die schuld im niedergang der musikindustrie nicht nur in piraterie, der „Monopolisierung des Online-Musikmarkts durch Anbieter wie iTunes und Amazon“ (und spotify und youtube und soundcloud [sic!]), sondern auch in einer von ihm persönlich ausgedachten neuen gefahr, der „Tyrannei der übergrossen Auswahl“. störende fakten lässt keen einfach weg. bei ihm liest sich der niedergang der buchbranche wie eine logische folge von amazon:

Im Jahr 2014 gab es rund 3440 im Börsenverein des Deutschen Buchhandels organisierte Buchläden und damit fast ein Drittel weniger als noch 1999.

keen verliert kein wort darüber, dass ende der neunziger jahre ein brutaler konzentrationsprozess im buchhandel begann, bei dem filialisten wie thalia oder hugendubel aggressiv expandierten. torsten meinicke, ein buchhädler aus hamburg, erinnerte im deutschlandfunk daran, welche probleme in den neunziger jahren auch erkennbar waren:

Es sind zu viele Bücher, wir müssen weniger produzieren. Mit dem Ergebnis, dass bei der nächsten Herbstvorschau die Titelzahl der Neuerscheinungen noch einmal erhöht worden ist. Das hat sehr lange gedauert, bis ein paar Sachen erstmals zurückgefahren wurden.

ganz ohne die hilfe des internets kreierte die buchbranche eine „Tyrannei der übergrossen Auswahl“; 1969 lag die anzahl der neuerscheinungen und neuauflagen bei 35.577, um 40 jahre später, 2007 und 2011, auf rekordwerte von über 96.000 zu steigen. konzentrationsprozesse, „eine Fokussierung des Geschäfts auf immer weniger und schnelllebigere Titel“ (nochmal deutschlandfunk) und viele andere faktoren, sorgen dafür, dass sich die buchbranche seit jahrzehnten in unruhigen gewässern befindet — aber für keen ist die antwort ganz einfach: amazon, internet — die sind schuld.

keen schreckt auch vor unsinnigen behauptungen nicht zurück. basierend auf seiner unbegründeten, einfach in den raum gestellten these, dass „das publikum“ schlechter informiert denn je sei, versteigt er sich zu der gewagten these, dass früher™, als es noch medien gab die „uneingeschränkt vertrauenswürdig“ waren, sogar über kriege wahrheitsgemäss, objektiv und ohne jede propaganda berichtet wurde. das sei jetzt „angesichts der Macht und Popularität der sozialen Medien“ vorbei. plötzlich, wegen des internets, bleibe die wahrheit bei der kriegsberichterstattung auf der strecke.

diese vereinfachungen, zuspitzungen, einseitigkeiten und blödsinnigkeiten, die sich durch das ganze buch ziehen, rauben keens analyse einiges an glaubwürdigkeit und durchschlagkraft. das ist schade, denn vieles an seiner analyse ist natürlich richtig und diskussionswürdig.

die fehlende tiefe der analyse und die teilweise geradezu schlampige aneinanderreihung von begebenheiten, zitaten, beschimpfungen und steilen thesen ist die grösste enttäuchung an keens buch. vielleicht hat sich keen aber auch einfach nicht getraut, das grosse fass aufzumachen, nämlich statt internetkritik gesellschaftskritik zu üben. sogar seine hin und wieder durchscheinende kapitalismuskritik relativiert er mehrfach, offenbar um das fass geschlossen zu halten. er konzentriert sich lieber darauf, „junge weiße“ internetfuzzis wie mark zuckerberg, travis kalanick, eric schmidt oder steve jobs [sic!] (zu recht) anzuprangern — aber verzichtet darauf, die selben strukturellen missstände im finanzsektor, justizsystem oder globalen handel aufzuzeigen. flapsig und vereinfachend ausgedrückt, für andrew keen ist das internet nicht scheisse, weil die welt scheisse ist, sondern das internet ist für ihn scheisse, weil das internet scheisse ist und alles zerstört.

teilweise sind keens auslassungen auch frappierend. über microsoft oder den ehemals elitären „jungen weißen Mann“ bill gates verliert keen nicht ein einziges negatives wort. wenn es um das böse geht, schreibt er immer von der dreierkombination google, apple, facebook — manchmal ergänzt von uber, instagram und twitter. und während er seitenweise über junge, weisse, grosskotzige männer wie zuckerberg, kevin systrom, larry page, travis kalanick schimpft, die sich ihre jeweils ungefähr 30 milliarden dollar privatvermögen aus „unserer Arbeit, unserer Produktivität“ zusammengeklaubt hätten, erwähnt er menschen wie craig newmark gar nicht. der hat zwar auch, wie die vorher genannten, eine ganze branche zerstört, aber sich daran nicht „grosskotzig“ bereichert. das passt keen dann einfach nicht ins narrativ von der „einen elitäre Gruppe junger weißer Männer“ und so lässt er es einfach aus.

keen redet auch unablässig vom niedergang der kultur, vor allem wegen des von ihm festgestellten absurden kult um amateure, der „Tyrannei der übergrossen Auswahl“, der piraterie und kostenloskultur, vergisst aber zu erwähnen, dass derzeit alle welt zeuge einer renaissance des qualitäts-fernsehens wird, die nicht unwesentlich durch die vernetzung und das internet befeuert wird. keen bietet amanda palmer als zeugin gegen die schlechte bezahlung von künstlern durch spotify auf, erwähnt aber nicht, dass sie eine grosse verfechterin der „kostenlos-“ und „sharing-kultur“ ist, die keen so sehr verachtet und als euphemismen für piraterie versteht.

amanda palmer:

Free Digital Content (and Tits) for Everybody.

andrew keen:

»Kostenlose« Inhalte haben in Wirklichkeit einen unbezahlbaren Preis. Und der Erfolg des Internets ist in Wirklichkeit eine riesige Pleite. Eine Riesen-Scheiß-Pleite.

* * *

nochmal zum promo-material des verlags. dort heisst es:

Andrew Keen liefert eine scharfe, pointierte Analyse unserer vernetzten Welt und zeigt, was sich ändern muss, um ein endgültiges Scheitern des Internets zu verhindern.

tatsächlich versucht keen nach 248 seiten die antwort (auf 22 ½ seiten) darauf zu geben, wie man das scheitern des internets verhindern könnte. auch das kann man flott zusammenfassen: regulierung, globale steuern für oligarchen und einen neuen gesellschaftsvertrag an den sich alle halten:

Die Antwort ist, das Internet mit Gesetzen und Verordnungen aus seiner Dauerpubertät zu holen.

»Was für eine Gesellschaft schaffen wir hier eigentlich?«, fragt Jeff Jarvis. Diese Frage sollte am Anfang jedes Gesprächs über das Internet stehen.

das ist nicht falsch, aber auch irre unkonkret. immerhin haben wir das jahr 2015 und nicht nur das internet sollte aus seiner „Dauerpubertät“, in der es sich zweifellos befindet, geholt werden, auch die internetkritik sollte mittlerweile etwas weiter sein, als lediglich „regulierung“ zu rufen oder auf regierungen zu hoffen, die „Google die Stirn bieten“. diese forderungen erhob andrew keen schon, als ich ihn 2009 erstmals sah. dass es auch konkreter und klüger geht, zeigt übrigens ein anderes jüngst erschienes buch: michael seemanns „das neue spiel“. seine analyse ist der von keen sehr ähnlich (allerdings im gegenteil zu keen, ohne häme, gespött und ad-hominem-angriffe aufgeschrieben), aber seine „10 regeln für das neue spiel“ sind konkreter, klüger und differenzierter als keens ganzes buch. aber das, und strategien für den umgang mit dem internet, sind das thema eines eigenen texts, der wahrscheinlich anfang februar im internet erscheint.

* * *

nachdem ich das buch gelesen habe, fiel mir ein besserer, passenderer umschlagtext für andrew keens buch ein als das original:

Das Internet hat versagt. Trotz seiner offenen, dezentralen Struktur hat es uns nicht mehr Chancengleichheit und Vielfalt gebracht, im Gegenteil: Es vergrößert die wirtschaftliche und kulturelle Ungleichheit. Der Graben zwischen zwischen einer Handvoll junger weißer Männer, die an Reichtum und Einfluss gewinnen, und dem Rest der Gesellschaft wird immer größer. Bissig und pointiert rechnet Silicon-Valley-Insider Andrew keen mit unserer vernetzten Gesellschaft ab und fordert uns auf, staatlicher Untätigkeit und Internetmonopolisten wie Google und Amazon den Kampf anzusagen.

das ist mein vorschlag:

Das Internet ist nicht gescheitert, wir haben nur noch nicht die richtigen Strategien entwickelt damit umzugehen. Andrew Keen hatte sich fest vorgenommen sich ein paar Strategien auszudenken, es aber in der kürze der Zeit bis zur Drucklegung nicht geschafft sie auszuformulieren. Dafür hat er bissig und pointiert aufgeschrieben, wie das Internet entstanden ist und was er über das Internet denkt.

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andere über das buch:

youtube-video
youtube

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ich habe das buch vom verlag als rezensionsexemplar (als gebundene ausgabe) zur verfügung gestellt bekommen.

links vom 22.06.2014

felix schwenzel, in wirres.net    

max schrems, kämpf um deine daten

felix schwenzel, in wirres.net    

max schrems ist zu etwas berühmtheit gelangt, weil er einer der ersten menschen der welt war, der facebook nervte (zitat sz):

Der Mann, der Facebook nervt
Der Österreicher Max Schrems wollte wissen, welche Informationen Facebook über ihn speichert - und löste damit das größte Datenschutzverfahren in der Geschichte des Unternehmens aus. (auf sueddeuschte.de lesen)

in einer der letzten wochen kam sein buch mit dem titel „kämpf um deine daten“ raus. ich habs kostenlos zugeschickt bekommen und gelesen.

der verlag sieht das buch wie folgt:

Jetzt legt der Student mit der Gabe, den Datenwahnsinn so einfach zu erklären wie Jamie Oliver das Kochen, sein Wissen und seine Erfahrungen aus erster Hand als Buch vor.
Ohne Panikmache und mit ungebrochener Lust an Technologie, erklärt er, wie Konzerne ihre Kunden durchleuchten, auch ohne dass die ihre Daten angeben.

uwe ebbinghaus ist in der faz vom „Erzähltalent“ schrems begeistert und fand die art und weise, in der schrems „die Mythen der IT-Industrie“ durchleuchte „ein intellektuelles Vergnügen“.

ich bin da in meinem meinungsbild eher gespalten. weder erklärt schrems den „Datenwahnsinn“ einfach, noch verzichtet er auf panikmache, noch ist die lektüre des buches ein „intellektuelles Vergnügen“.

schrems quält sich und seine leser in den ersten hundertfünfzig seiten an der frage ab, warum privatshäre „doch etwas wert“ sei. eigentlich müsse man das ja gar nicht erklären, sagt er in der einleitung, aber er hätte da „einige Elemente, Hintergründe und Gedanken, die auch für bereits Überzeugte interessant sein könnten“. leider fehlt es diesen elementen und hintergründen teilweise an argumenten, interessanz und differenziertheit. natürlich ist das nicht alles quatsch, was schrems da zusammengetragen hat, aber so richtig rund ist das buch eben auch nicht.

am sauersten ist mir tatsächlich aufgestossen, dass max schrems nirgendwo klar definiert was er eigentlich mit „meinen daten“ meint, für die ich kämpfen soll. auch um den begriff der privatsphäre dribbelt er ständig herum und landet dann irgendwann auch bei der geistlosen und wenig hilfreichen analogie von privatsphäre und dem unbeobachteten benutzen der toilette.

das mit der definition (oder problematisierung des begriffs) von daten hat jürgen geuter (auch anlässlich des buchs von schrems) hier aufgeschrieben: „Wem gehört mein digitaler Zwillig?

apropos definitionen; auch witzig, dass ausgerechnet sergey brin kürzlich eine sehr kompakte, brauchtbare definition von privatsphäre geliefert hat: die erwartung das dinge die man geheimhalten möchte, auch geheim bleiben.

was an den ersten 150 seiten neben der begriffsunschärfe und vielen ungenauigkeiten besonders nervt, ist das undifferenzierte überspitzen, das schrems zu allem überfluss auch noch mit flapsigkeit und sarkasmus würzt.

[Es gibt] immer noch Nutzer, die Unmengen an persönlichen Daten offen ins Netz stellen. Die meisten von ihnen sind meiner Beobachtung nach aber vor allem süchtig nach menschlicher Zuneigung, ausgedrückt in Likes, Retweets und Kommentaren. Die Designer dieser Dienste sprechen hier von einer »positiven Nutzererfahrung«. Die Stimmlage erinnert dabei oft an Drogenhändler […].

bei solchen abschnitten, in denen arroganz und verachtung bei schrems durchscheint, habe ich mich immer wieder gefragt, warum (offenbar) niemand das manustript gegengelesen und korrigiert hat. möglicherweise sind solche absätze auch köder für papier-feuilletonisten wie ebbinghaus, die in solchen absätzen dann ihr intellektuelles vergnügen finden und das buch positiv rezensieren. ich finde solche passagen vor allem überflüssig und der sache nicht dienlich. benutzer als dämliches klickvieh, dass sich von der industrie mit „roten Zuckerln“ in „Pawlowsche Hunde“ verwandeln lässt oder in „total willenlose Zombies“ findet max schrems dann nach vier, fünf seiten wortschwall auch irgendwie „überspitzt“ und relativiert seine beschimpfungen dann als anregung zum „überdenken“.

auch die paternalistisch angehauchte panikmache in sachen filterblasen kommt nicht zu kurz:

[D]ie Algorithmen [schneiden] jene Seiten weg, die Sie selten lesen. Politik? Weg damit! Sie blättern eh immer nur darüber. Dafür gibts jetzt 25 Seiten Sport und Chronik. Wenn Sie glauben, jeder bekommt die gleichen Ergebnisse bei Google, die gleichen Updates bei Facebook oder die gleichen Vorschläge bei Amazon, dann liegen Sie falsch. Es wird alles anhand Ihrer Daten gefiltert und angepasst. […] Andere Meinungen und neue Dinge, für die wir uns bis dato nicht interessiert haben, werden weggefiltert. Demokratiepolitisch ein Wahnsinn.

ein wahnsinn, wie schwierig es ist ein differenziertes buch zu schreiben, in dem andere meinungen und neue dinge nicht einfach weggefiltert werden. noch schwerer ist es natürlich ein buch zu schreiben, in dem man bei einer meinung bleibt:

auf seite 88 erzählt schrems wie nutzlos anonymisierung und pseudonymisierung von benutzerdaten ist und zählt mehrere beispiele auf, wie man aus ano- oder pseudonymisierten daten auf identäten zurückschliessen kann. unter anderem erzählt er von der berühmten AOL-datenspende vor acht jahren, aus der sich (natürlich) zahlreiche persönliche daten rekonstruieren liessen.

auf seite 194 schlägt schrems dann plötzlich im kapitel „was tun?“, bzw. „Privacy by Design“ vor, künftig einfach „viele Daten auch anonymisiert oder zumindest pseudonymisiert zu speichern“, um sie zu schützen.

auf seite 94 behauptet schrems, dass auf der seite des ORF „keine Daten der Nutzer“ gesammelt werden:

Jedenfalls funktioniert das, wie bei den meisten klassischen Webseiten, ohne irgendwelche Überwachung und Datensammelei.

das stimmt eben auch nur so halb. die vier externen tracker die beim aufruf von orf.at aufgerufen werden, sammeln nach eigenen angaben anonyme („Ad Views, Browser Information, Hardware/Software Type, Interaction Data , Page Views“) und pseudonyme („IP Address (EU PII)“) daten, die sie wiederum auch mit dritten teilen (xaxis) oder nicht sagen ob sie das tun (adition, meetrics, owa). so oder so preisen sich sowohl adition, als auch xaxis dafür an, targeting, also personalisierte, auf datensammelei basierende werbung anzubieten.

zugegebenermassen findet das „Ausspähen für Werbeklicks“ (zitat uwe ebbinghaus) beim ORF in geringerem umfang als auf vielen anderen werbefinanzierten nachrichtenseiten statt, aber zu behaupten, die meisten klassischen webseiten funktionierten ohne „irgendwelche Überwachung und Datensammelei“ ist quatsch. zumal schrems am ende des buches seinen lesern auch explizit „Plug Ins für […] Browser“ (schreibweise schrems) empfiehlt, „die Tracking so weit wie möglich unterbinden“. also plugins wie ghostery oder donottrackme oder disconnect oder priv3.

die ungenauigkeiten, die fehler, die auslassungen, der unwillen zu differenzieren und bindestriche zu benutzen macht die ersten zwei teile des buches wirklich schwer und unvergnüglich zu lesen. natürlich stimmt vieles was schrems sagt, das eine oder andere ist sogar ganz interessant, aber für ein buch reicht das nicht. oder besser: hätte jemand das buch um mindestens die hälfte eingedampft, ein paar fehler rauskorrigiert und schrems dazu gedrängt sich auf das konkrete zu konzentrieren, hätte das ein lesenswertes buch werden können. (wenn ich, ausgerechnet ich, übermässig viele fehler finde, ist das immer ein ganz schlechtes zeichen. CO² mit hochgestellter zwei schreiben? „Lösungsfristen“?)

denn wenn schrems über die juristischen und fiskalen tricks von facebook redet, die hilflosigkeit des gesetzgebers, der datenschützer und die absurditäten des europäischen rechts beschreibt, liest sich das buch ganz gut. auch seine konkreten vorschläge am ende des buches, was einzelne, was alle tun könnten, wo auswege zu finden sein könnten, sind anregend und beinahe inspirirend.

kurz vor ende schreibt schrems im kapitel „Bewusstseinsbildung“:

Ein großes Problem ist dabei, dass wir von sehr abstrakten, nicht greifbaren Problemen sprechen. Wie mich der östereichische Fersehmoderator treffend fragte: »Wie filmen Sie Datenschutz? Wie zeigen Sie verlorene Freiheit? Wie werden solche abstrakten Begriffe für den Durchschnittsnutzer sichtbar?« Die Vermittlung dieser Probleme braucht viel Aufwand, viel Können und Engagement.

an aufwand und engagement fehlt es schrems jedenfalls nicht.

baumeister vorher und nachher

felix schwenzel, in wirres.net    

baumeister vorher und nachher

vor ein paar wochen hat mir stefan niggemeier zwei ausgaben des baumeisters in die hand gedrückt, weil er keine zeit oder lust hatte etwas über den heft-relaunch des baumeisters zu schreiben. die eine ausgabe war vom september 2011, also noch im alten design, die andere ausgabe vom november, die erste im neuen design. wolfgang jean stock war schonmal alles andere als begeistert vom redesign: er hält die neugestaltung des heftes für eine art selbstmord des baumeisters:

Was sich nun darbietet, ist das reine Desaster. Schon beim Titel […] ein Schriftensalat sondergleichen - mal linksbündig, mal auf Mittelachse gesetzt - umrahmt ein rätselhaftes Foto, das für alles und nichts stehen kann. Im Heft selbst, das bislang übersichtlich, sehr leserfreundlich gegliedert war, macht das hanebüchene Layout selbst die wenigen seriösen Beiträge zunichte.

ich habe mir das november-heft vor ein paar wochen auf dem weg von berlin nach hamburg im zug durchgelesen. andertalb stunden reichen dicke um die knapp hundert seiten durchzulesen. tatsächlich ist mir nicht viel vom heft in erinnerung geblieben. begeisterung erregten gerade mal ein, zwei bilder, eins von vom MVRDV balancing barn und ein eins vom „magic mountain“ in duisburg. die texte waren OK, nett fand ich einen text über eine studie zum selbstverständnis und berufsbild des architekten, der mich vor allem in meiner entscheidung bestärkte, nicht architekt geworden zu sein. in dem text fanden sich auch die einzigen zwei stellen die ich mir mit einem stift und eselsohren markiert habe. eine stelle war ein zitat von fritz schumacher vom anfang des letzten jahrhunderts. schumacher war damals baudirekttor in hamburg und deutete an, dass schon vor hundert jahren der architekt als knecht von unternehmern galt. schumacher klagte:

Nicht der „Konsument“ der Wohnungen ist Bauherr, sondern eine neutrale Macht, der Unternehmer …

hat sich nichts geändert. jan kleihues formuliert das heute so:

Leider gibt es fast nur noch Investorengruppen, die mehr Interesse daran haben, dass sich das Projekt schnell dreht, als an Qualität.

auch hanno rautenberg beklagte das jüngst in der zeit.

ganz anders ging es mir mit der september-ausgabe die ich donnerstag im zug von berlin nach hamburg las. schon nach wenigen seiten fing ich an im heft rumzukrizeln. ich liebe es in rezensionsexemplaren rumzukritzeln und notizen reinzuschmieren, etwas was ich in gekauften heften (der baumeister kostet happige 15 euro) oder büchern nie machen würde. gleich mehrere texte, bildstecken und selbst ein paar anzeigen begeisterten mich und weckten das bedürfnis in mir mich mit den jeweiligen themen näher zu beschäftigen oder selbst etwas drüber zu schreiben oder im web informationen zu suchen, um sie zu teilen. das fing gleich auf seite 6 mit einem unglaublich tollen bild von bernhard ludewig von der moskauer u-bahn an (bild hier, im website-kontext leider nicht verlinkbar, aber hier ist die ganze bildstrecke) und gleich im ersten interview mit vier architekten über die folgen von 9/11 für die architektur, strich ich mehrere absätze an. marc kushner sagte darin unter anderem über new york:

New York gehört auch nicht nur den New Yorkern, sondern letztlich eher der ganzen Welt. Ich unterhielt mich darüber kürzlich mit Neil Denari: Er sagte dass sein Gebäude an der Highline eine Reaktion auf 9/11 ist. Es ist ein Mittelfinger, der Gefahr entgegengereckt.

lauter inspirierendes zeug stand in der septemberausgabe, so viel, dass es mich völlig vom thema abbringt, das neue heft zu beurteilen, weshalb ich das weiter unten fortführe.

fakt ist: die september-ausgabe ist ein ziemlich tolles und inspirierendes heft. der neugestaltete baumeister, zumindest die november-ausgabe ist dagegen ziemlich langweilig. offenbar ist die energie der heftmacher vollkommen in das neue design geflossen und für tolle inhalte war keine kraft mehr da. anzeigen und sonderwerbeformen, oder wie der verlag das ausdrückt, advertorials waren in der september ausgabe auch sehr viel mehr vorhanden, was darauf hindeutet, dass die anzeigenkunden dem relaunch eher kritisch und zurückhaltend gegenüber standen. 29 solche seiten gabs in der september-ausgabe, im november keine einzige. kein gutes zeichen, oder vielleicht doch, denn bei solchen texten läuft es mir kalt den rücken runter:

BAUMEISTER-Portfolio-Advertorials
[…] Die Advertorials werden individuell und passend zum Werbeträger BAUMEISTER gestaltet. Es besteht eine Kennzeichnungspflicht als „ANZEIGE“. Sie liefern uns PR-Texte und Bildmaterial und wir prüfen die Realisierbarkeit. Das Advertorial wird über uns erstellt und direkt mit dem Werbetreibenden abgestimmt. Bitte geben Sie hierfür bei Buchung immer eine entsprechende Kontaktperson an.

Vorteile von Advertorials:
Durch die redaktionelle Anmutung wird ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit [sic] erzielt und der Leser erhält die Informationen innerhalb seines gewohnten redaktionellen Umfeldes präsentiert.

die neue gestaltung würde ich nicht wie wolfgang jean stock „hanebüchen“ nennen, sondern eher „irritierend“. man sieht das alles und fragt sich: warum? das design tut so als sei es minimalistisch und arbeitet weniger mit grafik als mit typographie- und layout-spielchen. die sind aber, betrachtet man sie genau, nicht viel mehr als überflüssiges ornament. wem hilft es, wenn der anfangsbuchstbe eines absatzes aus dem absatz herausgezogen und grotesk vergrössert zentriert über dem absatz abgestellt wird? plötzlich prangt da ein A unnütz über einem absatz und fehlt am satzanfang: „lain de Botton ist ein Tausendsassa.“ (der tausendsassa heisst alain de botton.)

ich frage mich auch, warum der fliesstext unbedingt fett gesetzt sein muss. das hat den vorteil, dass die anzeigen neben den fliesstexten plötzlich leicht und gekonnt gesetzt wirken, aber das kann ja nicht der sinn von heftgesatltung sein. bildunterschriften sind mal nach links, mal nach recht gedreht, so dass man mal den kopf nach links, mal nach rechts neigen muss, um zu lesen, was auf dem bild zu sehen ist.

ich würde sehr gerne wolfgang jean stocks kritik widersprechen, vor allem weil ich immer erstmal alles neue grundsätzlich gut finden möchte. ich schätze experiemntierfreude und sehe lesbarkeit, klassische typographische tugenden oder erwartungserfüllung keinesfalls als die topprioritäten bei gestaltung oder layout an (wie man an diesem blog und meiner art zu schreiben gut erkennt). aber das design des baumeisters ist leider total in die hose gegangen. und das schlimmste: offenbar hat die neugestaltung auch das niveau der beiträge mit in den abgrund gerissen.

am ärgerlichsten fand ich tatsächlich die, bzw. eine der titelgeschichten über den spiegel-neubau in hamburg. ein öder, anbiedernder und liebloser text der mit acht PR-fotos des spiegels illustriert ist. sorry, aber sowas ist echt fürn arsch. nein, es ist eine zumutung, denn die baumeister-redaktion ist sich nicht zu schade über die vom spiegel gestellten, von andreas gehrke prima gemachten bilder drüberzuschreiben:

Wir bringen die ersten Bilder des Henning-Larsen-Neubaus in Hamburg — und kontrastieren diese mit Architektur-Headlines aus dem Nachrichtenmagazin.

alexander gutzmer behauptet im editorial, dass sich die neu-konzeption des heftes an drei kernbegriffen orientierte: „Inspiration, Orientierung, Beratung“. das stimmt insofern, als das sicher besser geklappt hätte wenn man sich hätte beraten lassen, nicht die orientierung verloren hätte und inspiration nicht mit typographischem tand verwechselt hätte.

so ist der baumeister eher zu einem sanitärmagazin geworden, dass einen dicken griff ins klo illustriert.

* * *

im september-heft war sogar die werbung inspirierender als die inhalte des november-hefts. eine anzeige des entwässerungsspezialisten aco zeigte diesen grandiosen entwurf eines cruise terminals von koen olthuis.

der text über den vater des plattenbaus, ernst may, anlässlich einer ausstellung im deutschen architekturmuseum in frankfurt war interessanter als die gesamte november-ausgabe (ich übertreibe jetzt ein bisschen) und ganz grandios war die fotostreckte und der text über die „norwegischen Landschaftrouten“, für die 18 landstrassen mit hilfe von meist norwegischen architekten an markanten stellen mit zeitgenössischer architektur und installationen aufgehübscht werden, um „Touristen Norwegen als ein noch attraktiveres Reiseziel zu präsentieren“. im heft waren tolle fotos zu sehen, die zumindest auf den ersten blick auch nicht alle einfach PR-fotos der norwegischen tourismusbehörden zu sein scheinen (aber wahrscheinlich doch sind). sie sind nämlich viel besser und aufregender als die die man auf der offiziellen seite sieht.

toll auch das interview mit der architekturtheoretikerin saskia sassen, die zwar auffällig oft die firma cisco erwähnte, aber unter anderem auf die frage der fragen „Wo sind Architekten heute noch gefragt“ antwortete:

Sie können und sollten die vielfältigen räumlichen Formen sichtbar machen, in denen die neuen technologien opereien — sie also für Passanten verständlich machen. Ich bin der Ansicht, dass alle wesentlichen Infrastrukturen vom Abwasser über Elektrizität zu Telekommunikationsverbindungen durch transparente Wände und Flure sichtbar gemacht werden sollten, zum Beispiel an Busahltestellen und Bahnhöfen, in Schulen und Universitäten; überall dort eben, wo Menschen Zeit verbringen. Während man zum Beispiel auf den Bus wartet, kann man zusehen, wie die Stadt funktioniert. Man beginnt so, sich einbezogen zu fühlen. Wenn unsere Wände schon voll mit Computertechnologie sind, warum soll man das nicht transparent machen? Unsere computerisierten Systeme müssen sichtbarer und transparenter werden.

auch schön, die idee das „kritikerpaar“ elisabeth blum und peter neitzke auf zwei grundverschiedene bauten loszulassen, einmal das organische unstudio in groningen von ben van berkel und einmal den eckigen, mies van der rohe weiterdenkenden gebäudekomplex „romeo und julia“ in frankfurt am main von max dudler. zwei solide, in die tiefe gehende und liebevoll geklöppelte auseinandersetzungen mit zeitgenössischer architektur. was mir besonders gefallen hat ist wie peter neitzke die zitate von ben van berkel mit fussnoten belegt:

1 Hier und passim zitiert nach einem Telefonat mit dem Architekten (2. August 2011)
2 http://bit.ly/mTrVv7
3 Ben van Berkel, zitiert nach: ICON. International Design, Architecture & Culture, Heft 097, Juli 2011

ben van berkel rechnet wunderbar mit dem moderenen parametrischen entwurfsmüll ab:

Digital design labs all over the world spew out an interminable stream of inchoate compositions in the form of hectically curvy spaghetti, impenetrable blobs, and, as a last resort, the dune-like shapes that result from morphing blobs into spaghetti. It makes no difference if the topic of the parametric design study is a museum, a school, a railway station, or a rich person’s house; it makes no difference if it is supposed to be situated on a beach, in a city, or in a post-industrial periphery. Spaghetti is always on the menu.

neitzke hat das sauber übersetzt und verfazitet:

Zeitgemäss entwirft, wer Themen und Parameter projektbezogen auswählt, wer deren Zusammenspiel kunstvoll zu organisieren und sie in einem architektonischen Projekt komplex zusammenzuführen weiss.

so gilt das übrigens auch für gestaltung auch in allen anderen bereichen.

etwas unentschlossen und wirr schroben david selbach und sibylle schikora über die neubauten der unternehmenszentralen von google und apple. vor allem ist der titel etwas irreführend und aufbauschend: „So baut das Internet“. nun denn.

einerseits beklagen sich die beiden, dass die pr-abteilung von apple nichts zum neubau sagen möchte, nutzen dann aber nur eins der fünftausend bilder die die stadt cupertino zur planung veröffentlichte. und sie beklagen sich, dass apple nicht mal den architekten nennen möchte und schreiben: „Insider spekulieren, dass bei Norman Foster Seniorpartner Stefan Behling für die Planung verantwortlich zeichnet“ und beschriften eine visualisierung des baus mit „Rendering des Apple-Rondells von Foster + Partners“. was denn jetzt? geheimes insiderwissen oder nicht? thomas knüwer darf in dem artikel auch ein, zwei sätze zu seinem silicon valley insiderwissen sagen: „[In den USA] wachsen Unternehmen nicht in die Höhe, sondern in die Breite, meist indem sie bestehende Gebäude kaufen.“ das gleiche hat steve jobs auch in diesem video gesagt, von dem david selbach und sibylle schikora aber nur screenshots zeigen.

sauber übersetzt und überarbeitet von einer dame die daniela reinsch heisst (sorry, den gag konnte ich mir nicht verkneifen: diesen satz auf KEINEN FALL LAUT VORLESEN!) wurde dieser grandiose und irre lange text von greg lindsay über die gigantische koreanische retortenstadt „new songdo“ (readbility-link). in beiden versionen, der original- und der baumeister-version, sehr lesenswert.

auch beachtenswert, das BMW guggenheim lab in new york.

* * *

ich wiederhole nochmal: das alte heft erschien mir vollgepackt mit interessanz und inspiration, das neue heft wie leergesaugt. man kann dem baumeister nur wünschen, dass er wieder seine spur findet. ich schau, wenn es den baumeister dann noch gibt, gerne in einem jahr nochmal rein (wenn ich ein rezensionsexemplar bekomme).

nerdattack!

felix schwenzel, in wirres.net    

christian stöcker hat vor ungefähr zwei jahren einen vielbeachteten artikel über die generation C64 vs. ursula von der leyen geschrieben. ich habe ihn damals auch beachtet und gelobt. spätestens seit dem generation C64-Artikel bin ich bekennender stöcker-fan.

im prinzip hat christian stöcker seinen artikel von damals mit einer ordentlichen einführung über sechs oder sieben kapitel versehen und am ende den bogen aufgespannt um seine kernthese an aktuellen beispielen zu illustrieren. die kernthese, die essenz des buches steht bereits im zwei jahre alten spigel-online-artikel, nämlich: die dinge die wir heute im internet beobachten können, sind alle mehr oder weniger eine direkte folge der hacker- und cracker-kultur die rund um den C64 entstanden ist.

stöcker 2009:

Gleichzeitig leben in diesem Land an die 20 Millionen Menschen zwischen 15 und 35 (um mal eine willkürliche Grenze für die Angehörigen der Generation C64 zu ziehen), in deren Leben digitale Technologie eine zentrale, eine vor allem selbstverständliche Rolle spielt. Für die das Internet nicht "der Cyberspace" ist, sondern ein normaler Teil ihres Alltags, ebenso wie Telefone für die Generationen davor.

in seinem buch steht auf seite 264:

Gleichzeitig leben in diesem Land mehr als 20 Millionen Menschen, die jünger sind als 35 oder 40 (um mal eine willkürliche Grenze für die Angehörigen der Generation C64 und der nachfolgenden Generationen zu ziehen), in deren Leben digitale Technologie eine zentrale, eine vor allem selbstverständliche Rolle spielt. Für die das Internet nicht »der Cyberspace« ist, sondern ein normaler Teil ihres Alltags, ebenso wie Telefone für die Generationen davor. Die Computerspiele seit ihrer Jugend kennen und deshalb nicht für gefährliche Amoktrainer halten. Die wissen, was ein Browser ist.

das was stöcker über seine jugend, also unsere jugend, bzw. die jugend der menschen um die 40 schreibt liest sich gut und füllte mir beim lesen so manche gedächnislücke. teilweise wurde ich sehr nostalgisch und stellte mal wieder erschütert fest, wie ähnlich die lebensläufe von mittelstandkindern im westen der bundesrepublik verliefen. eine generation der erlebnis-klone.

und stöcker zieht kluge schlüsse, bzw. erklärt schlüssig wie sich hacker- und cracker-ethik, kinderzimmer-disketten-kopiererei (die man heute raubkopiererei nennt) vermischten und haltungen schufen die wir heute im internet beobachten können. er spannt den bogen von crackern, die ohne kommerzielle interessen den kopierschutz von spielen entfernten, zur heutigen demo- und open-source-szene, von john perry barlow, zu julian assange und zensursula-protesten, vom C64-kopierprogramm „fastcopy“ zur piratebay.

Der C64 und das um ihn herum wuchernde Ökosystem installierten in unseren Köpfen ein Gefühl von nahezu unbegrenzter Machbarkeit, der Kalte Krieg, die drohende Umweltkatastrophe eines von nahezu absoluter Ohnmacht. Vieles von dem, was den heute 30- bis 40-Jährigen von den Älteren vorgeworfen wird – politische Apathie, ein Mangel an gesellschaftspolitischen Visionen, eine laxe Einstellung zum Urheberrecht und nicht zuletzt die Bereitschaft, sich technologischen Wandel ohne Rücksicht auf Geschäftsmodelle, gesellschaftliche Konventionen oder rechtliche Fragen zunutze zu machen – sind mittelbare oder unmittelbare Folgen dieser paradoxen Kombination aus Ohnmacht und grenzenlosen Möglichkeiten.

die beiden ersten kapitel in denen stöcker seine schlüsse vorbereitet hat er jetzt auch stark gekürzt auf spiegel online veröffentlicht. das liest sich alles sehr gut und beim lesen kommt man aus dem kopfnicken kaum raus.

man liest das und fühlt sich gebauchpinselt. wir waren schon tolle checker damals — und sind es heute im internet immer noch! wobei diese eher unkritische eigenbauchpinselei natürlich auch problematisch ist: wer soll das bitte lesen, ausser leute die jetzt um die 40 sind und damals ihren eltern mit der platten lüge damit hausaufgaben zu machen einen homecomputer aus dem bauch geleiert haben? deren eltern vielleicht, die jetzt von ihren kindern stöckers buch zu weihnachten geschenkt bekommen, damit sie mit 20 jahren verspätung erfahren, was sich damals im kinderzimmer wirklich abgespielt hat?

stöcker hat ein buch geschrieben, dass bei den angehörigen der generation C64 offene türen einrennt und sie bauchpinselt und für den rest der welt den erklärbär macht. wenn der rest der welt sich denn dafür interessieren würde. beim lesen fühlte ich mich wie ein heisses messer, dass durch butter schneidet. hängengeblieben ist nicht viel, ausser ein bisschen fett, ein paar vorgefertigte argumente die künftige diskussionen etwas schmieren und aufladen könnten.

das buch hat mir ausserordenlich gut gefallen — und das ist auch ein bisschen das problem. am ende sagt man „ja“ und vermisst das was wirklich gute bücher in einem hinterlassen: ein kleines inspirations-pflänzchen das man weiter hegen und pflegen und grossziehen kann.

immerhin habe ich jetzt ein weihnachtsgeschenk für meine eltern.

* * *

der umschlag sieht aus, als hätte christian stöcker ihn höchstpersönlich gezeichnet — mit dem mund. auf dem umschlag fand ich dann nach einigem suchen auch den urheber der gräslichen illustration (ein krakelig gezeichneter tisch mit einem fernseher, einer datasette, einem joystick und einem c64): www.buero-jorge-schmidt.de

bevor ich den link in meinen browser eingab, schloss ich eine wette mit mir selbst ab. wetten das die büro jorge-schmidt-site eine voll-flash-site ist? in der tat, vollflash es war. nachdem ich den flash-blocker deaktiviert hatte: musik. gräslich. immerhin, wenn man in der flashdatei ein bisschen rumklickt rettet das büro jorge-schmidt seinen ruf ein bisschen: die haben nicht nur scheussliche buchumschläge gestaltet, sondern auch ein paar ganz ansehnliche.

david foster wallace: „schrecklich amüsant - aber in zukunft ohne mich“

felix schwenzel, in wirres.net    

vor ein paar tagen hat mir die beifahrerin ein buch von david foster wallace auf den nachttisch gelegt. auf dem nachttisch sind bücher bei mir nicht sonderlich gut aufgehoben, weil ich beim im bett lesen immer einschlafe. als ich es dann mal mit in die badewanne nahm, hab ich es in einem rutsch halb durchgelesen (zuende gelesen habe ich es an einem anderen tag in der badewanne). es ist mit 183 kleinen seiten aber auch nicht sonderlich umfangreich. der inhalt des buches lässt sich ebenfalls flott zusammenfassen: david foster wallace begibt sich im märz 1995 für eine woche an bord eines kreuzfahrtschiffes und schreibt darüber.

das buch liest sich auch deshalb so flüssig, weil es grossartig von marcus ingendaay übersetzt wurde. mir ist das überhaupt noch nie passiert, dass ich beim lesen dachte: „was für ein schönes deutsch!“ und mir plötzlich auffiel, dass das gar kein deutscher autor ist, den ich da lese. ingendaay hat das buch so toll übersetzt, dass wallace glatt als deutscher autor durchgehen würde. ich würde sogar so weit gehen und sagen, ingendaay übersetzt und schreibt noch einen ticken besser als carl weissner.

wallace schreibt unprätentiös, aber unfassbar scharf und genau beobachtend, lästert unerbittlich gegen gäste oder bedienstete die er nicht mag, wirkt aber nie misanthrop, im gegenteil, er schreibt extrem subjektiv, wertet aber vielmehr durch die art wie er menschen und zustände neutral beschreibt als durch urteile. ähnlich wie jochen reineckes „geister abschütteln“, erinnert mich „schrecklich amüsant - aber in zukunft ohne mich“ an einen zu lang geratenen blogartikel. wallace nennt sich im buch auch einmal selbst „verkappter journalist“, etwas was heutzutage nur noch blogger tun (oder so von musikanten genannt werden). statt hyperlinks nutzt wallace fussnoten, insgesamt weit über 136 stück. fussnote 136 ist die letzte fussnote, da manche fussnoten aber auch mit fussnoten versehen sind, dürften es so um die 150 fussnoten sein.

natürlich schweift wallace teilweise irre weit ab, bleibt aber selbst in diesen abschweifungen akribisch. in einer dieser abschweifungen, widmet er sich über ca. 10 seiten der werbung und der PR. er regt sich furchtbar über einen bezahlten PR-text des von ihm hochgeschätzten amerikanischen schriftstellers frank conroy auf, der im katalog der kreuzfahrtlinie, mit der auch wallace unterwegs war, erschienen ist.

Das Hauptübel des Projekts «Meine Celebrity-Kreuzfahrt» ist seine Scheinheiligkeit. Wie dreist hier Product-Placement betrieben wird, zersetzt jede literarische Seriosität und übertrifft in dieser hinsicht alles, was man in den vergangenen Jahren erleben musste. Conroys «Essay» erscheint in einer Art Sonderteil in der Mitte des Heftes, auf dünnerem Papier und mit einem anderen Layout, und erweckt dadurch den Eindruck eines Auszugs aus einem eigenständigen literarischen Werk. Doch das ist keineswegs der Fall. Tatsächlich handelt es sich um eine reine Auftragsarbeit, bezahlt von Celebrity, nur wird das nirgendwo erwähnt. […]

Kurz, Celebrity Cruises verkauft uns Conroys Reisebericht als Essay und nicht als Werbung. Dies jedoch ist von Übel. Warum? Weil ein Essay, unabhängig von der darin zum Ausdruck gebrachten Wertung des Celebrity-Produkts, eben zuallererst dem Leser verpflichtet ist und nicht dem Auftraggeber. Und ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, der Leser verlässt sich auf diese Selbstverpflichtung des Autors und begegnet dem Essay mit einem hohen Grad an Vertrauen. Werbung funktioniert dagegen völlig anders. Werbung hat sich, was ihren Wahrheitsgehalt angeht, nur an bestimmte formaljuristische und mit etwas rhetorischem Geschick leicht zu umgehende Regeln zu halten — und kennt darüber hinaus nur ein einziges Ziel: Umsatzsteigerung. Ganz gleich, was die Werbung zur Ergötzung des Lesers alles inszeniert, es geschieht nie zu dessen Nutzen. Und der Leser weiß das natürlich, er weiß dass der Unterhaltungswert von Werbung einem Geschäftskalkül folgt und wird ihr entsprechend mit Vorsicht begegnen. Wir alle nehmen Werbung gewissermaßen nur gefiltert wahr38.

Im Fall des Conroy-«Essays» setzt Celebrity Cruises alles daran, diesen Filter durch den Kunstanspruch des Textes zu deaktivieren. Doch Werbung, die vorgibt, Kunst zu sein, gleicht im günstigsten Fall dem gewinnenden Lächeln dessen, der etwas von einem will. Das ist nicht nur unaufrichtig, die dubiose Ausstrahlung solcher Erzeugnisse kann sich in uns anreichern wie ein Umweltgift. Die aus Berechnung unternommene Simulation zweckfreier Freundlichkeit bringt langfristig alle unsere Maßstäbe durcheinander und führt dazu, dass irgendwann auch das echte Lächeln, die genuine Kunst, die wahre Freundlichkeit unter Kommerzverdacht stehen. Andauernder Vertrauensbruch macht ratlos und einsam, hilflos und wütend und ängstlich. Er ist die Ursache von Verzeiflung.

* * *

(38) Aus diesem Grund wird selbst wirklich schöne, intelligente oder mitreißende Werbung (und die gibt es) niemals echte Kunst sein können. Ihr fehlt nämlich der Geschenkcharakter (d.h. sie wurde nie für ihren Adressaten gemacht).

[seite 65 ff., fettungen von mir]

die fussnote 38 hat es meiner meinung nach in sich. in einigen blogartikeln der letzen tage habe ich genau über dieses thema gelesen, wenn auch meist in etwas anderem zusammenhang. so schreibt michael seemann auf faz.net, dass blogtexte (in der regel) „geschenke“ seien:

Man setzt sich hin, schreibt und veröffentlicht ohne die Intention, irgendetwas dafür zurück zu bekommen. Antje Schrupp hat das auf ihre unnachahmlich persönliche Art erzählt, wie das Bloggen für sie funktioniert und ich kann mich ihrer Erfahrung nur anschließen. Für sie funktioniert Bloggen über eine Form des "Begehrens" nach dem Ausdruck für ein Thema. Dieser Ausdruck, würde ich hinzufügen, ist ein Begehren des Schenkens, des Teilens der Information mit der Welt.

dieser geschenkcharakter von blogs (oder auch literatur oder kunst) ist wohl auch der grund, warum einige so empfindlich oder übersensibel auf werbung in blogs reagieren. wie ich mir vor einer weile schon mal länglich überlegt habe, auch nicht ganz zu unrecht. vertrauen und aufmerksamkeit der leser sind, ebenso wie blogtexte, geschenke, die man gar nicht hoch genug schätzen kann. vor allem wenn man so schreibt wie ix.

um die pathos-skala noch eine stufe höherzudrehen: heute habe ich bei ralf schwartz ein video über einem todkranken mann gesehen, der seine ganze sozialhilfe und restlebenszeit für musikinstrumente und kostenlosen musikuntericht ausgibt die er kindern schenkt. unter anderem sagt er in diesem film: „music is a gift.“

bleibt eigentlich nur eine frage: ist das werbung wenn ich zum kauf des david foster wallace-buches auffordere?

markus reiter verschenkt sein buch, findet das aber gefährlich

felix schwenzel, in wirres.net    

markus reiter meint in dumm 3.0 (unter anderem), dass „die Kostenlos-Mentalität“ des internets die „Kreativwirtschaft auf Dauer“ austrockne. über sein buch und andere geistige leistungen sagt er:

Ich befürworte weder, dass [mein Buch] aus Buchhandlungen geklaut wird, noch dass es jemand elektronisch kopiert, ohne dass mein Verlag und ich davon profitieren. Es steckt ein gutes Jahr Arbeit darin, ein durchgearbeiteter Sommer, schlaflose Nächte, die Geduld meiner Mitmenschen, einiger Schweiß und viel Mühe. Wenn wir nicht wollen, dass wir bald nur noch über geistige Arbeiten verfügen können, die irgendjemand aus irgendeinem unbekannten Grunde sponsort, werden wir uns daran gewöhnen müssen, auch im Internet für geistige Leistungen zu bezahlen. Das ist auf den kürzesten Nenner gebracht, die zentrale Botschaft dieses Buches.

was mich aber wundert: die pr-agentur die reiters buch vermarktet, schrob mir vor einiger zeit einen brief, in dem sie mir anbot, den „debatten-beitrag“ (gemeint ist das buch) von markus reiter kostenlos zur rezension zuzusenden. keine elektronische kopie, sondern eine gedruckte version, die normalerweise 18 euro kostet. wenn ich die intention richtig verstehe, sieht markus reiter diese art der „Kostenlos-Mentalität“ nicht als gefahr für die „Kreativwirtschaft“, sondern als hilfreich für die vermarktung und den verkauf seiner „geistigen Leistung“ an.

dass also das verschenken von büchern durchaus die „Kreativwirtschaft“ fördern könnte, weiss reiter also, sagt es aber nicht. und dafür, dass das verschenken von büchern über rezensionsexemplare hinaus den verkaufszahlen gut tun könnte, gibt es zumindest schlüssige hinweise: „Free ebooks correlated with increased print-book sales“.

gut dass ich das buch nicht gekauft habe. es ist so einseitig geschrieben, dass man es nur mit zwei händen lesen kann. und das macht mir gerade keinen spass. für eine komplette rezension muss ix erstmal meine gleichmut-battereien aufladen.

susanne gaschkes strategien gegen verdummung

felix schwenzel, in wirres.net    

susanne gaschke mag das internet nicht. das ist nichts neues, wenn man schonmal über einen text von gaschke oder ihr autorenregister auf zeit.de gestolpert ist:

wenn man ihr buch liest, erfährt man, dass sie auch computerspiele, fernsehen, „konsumismus“, zeitverschwendung und „überflüssige kommunikation“ nicht mag. was sie mag sind bücher, literatur, kunst, musik und „erfahrungen mit sozialem engagement“.

noch weniger als das internet, mag gaschke allerdings die leute, die das internet gut finden. alle die das internet nicht entschieden ablehnen, nennt sie „Digitalisten“ oder „Internet-Apologeten“. sie wirft alle in einen topf: techniker, unternehmer, industrielle, blogger, twitterer, suchmaschinenoptimierer, netzpolitik-aktivisten, marketing-fuzzis, netzpolitik-aktivisten — selbst differenzierenden kritikern des internet oder seiner auswüchse unterstellt sie oppurtunismus oder konfliktscheu, wenn sie nicht, wie sie, das internet undifferenziert, klar und deutlich verurteilen. sie wirft alle zusammen in einen eimer mit der aufschrift „Digitalisten“. man muss sich nur mal vorstellen wer sich alles in diesem eimer wiederfindet, brin und page neben lawrence lessig, stefan niggemeier neben kai dieckmann, bill gates neben linus thorvald, barack obama neben angela merkel, jeff jarvis und hubert burda. alles „Digitalisten“.

gaschke ist nicht nur extrem undifferenziert, was das internet angeht, ihr ist auch nichts recht zu machen:

  • einerseits beklagt sie die durchkommerzialisierung des netzes und seine aufdringlichen marketingstrategien, schimpft aber auch darüber, dass internet-kolumnisten („blogger“) ihre beiträge kostenlos, oder wie sie vieldeutig sagt, „umsonst“ ins internet stellen. „blogger“ nennt sie interessanterweise auch nicht „autoren“, sondern meist „nutzer“.
  • einerseits beklagt sie, dass durch das internet und moderne „medien“ die literalität und fähigkeiten zu lesen abnehme, geisselt die im internet ablaufende schrift-kommunikation von menschen untereinander aber gerne als profane oder überflüssige „sinnloskommunikation“.
  • einerseits beklagt sie die aggressivität und die determiniertheit der netzbefürworter („Digitalisten“) und welch verheerende folgen die erfolgreiche propagierung der netzideologie habe (sie sieht hier eine „Ideologiemaschine“ am werk), andererseits bezweifelt sie rundheraus, dass aus dem netz überhaupt etwas politisch wirksames kommen könne und behauptet, dass das netz entpolitisiere.
  • einerseits beklagt sie sich über leute die geschichten aus ihrem leben mit anderen teilen („Wer sich in »sozialen Netzwerken« selbst weltöffentlich entblättert, ist nur eins: selber schuld.“), andererseits fordert sie, dass geschichten aus dem leben anderer die auf papier gedruckt sind („Bücher“) mehr gelesen werden sollten.

auf der anderen seite hat mir auch einiges von dem was sie schreibt auch ein kopfnicken abgerungen. wer würde einem satz wie diesem widersprechen?

Ich bin fest davon überzeugt, dass es keine zweite Fähigkeit gibt, die für das Zurechtkommen in modernen Gesellschaften so wichtig ist wie das flüssige, souveräne Lesen, Verstehen und Beurteilen von Texten.

„Leseförderung“, offenbart gaschke, sei eines der themen, das sie beruflich am meisten interessiere und für das sie sich in ihrem erwachsenenleben am meisten engagiert habe. auch das sieht man recht deutlich, wenn man die liste der artikel die sie in den letzten drei jahren für die zeit schrob kurz durchsieht (1, 2, 3, 4, 5, 6). natürlich hat sie recht; ohne lesen zu können, kann man auch nicht im internet lesen. ohne souveränität im umgang mit texten, wird das mit der urteilsfähigkeit und dem aufgeklärten, mündigen bürger schwierig.

allerdings behauptet gaschke steil, dass die „Digitalisten“ das anders sähen, bzw. lesefeindlich seien. einerseits weil die netzapologeten nicht (an)erkennen, dass es zwischen dem guten lesen (bücher, „die zeit“) und dem schlechten lesen (am bildschirm) eine konkurenzsituation besteht, also die neuen medien dem buch zeit und aufmerksamkeit entziehen. andererseits, weil die „Digitalisten“ mit ihrer forderung nach freiem und unlimitierten zugang zu informationen „die geistige Haltung für die ein gefülltes Bücherregal steht“ bekämpften: „die Bereitschaft Mühe auf sich zu nehmen, um Freude zu erlangen; eine Aufschub statt einer Sofortismuskultur.“ — und so das interesse am konzentrierten lesen und verstehen-wollen rapide abnehme.

im kern mag die analyse ja stimmen, auch wenn gaschkes überzeugungskraft stark darunter leidet, dass sie eine 13 jahre alte studie von jakob nielsen hervorkramt um zu belegen, dass niemand längere texte am bildschirm liest und ausser acht lässt, dass sich mittlerweile vieles verändert hat; webseiten sind lesbarer und lesefreundlicher geworden (siehe zeit.de), die bildschirme sind besser, flackerfreier, kleiner und hochauflösender geworden (vergleichen sie mal nen 17" röhrenmonitor mit dem bildschirm eines iphones oder eine palm pre. die sind mittlerweile so scharf, dass man millimetergrosse buchstaben lesen kann).

trotzdem. selbst wenn man gaschkes analyse folgt, fällt es schwer ihren schlussfolgerungen zu folgen. sie stellt fest, dass das interesse und die fähigkeit zu lesen abnehmen und fordert als konsequenz eine konzentration auf das medium papier? sie stellt fest, dass die konzentrationsfähigkeit beim lesen abnimmt und fordert als therapie eine zugangserschwerung oder verknappung von informationen?

der gesunde menschenverstand oder genauer, der gesellschaftliche konsens, den ich zu diesem thema bisher wahrnahm, fordert eine verbesserung des bildungssystems und eine schulung in medienkompetenz. „medienkompetz“ ist allerdings eines der reizwörter die gaschke in rage bringen. sie vermutet auch hinter der forderung nach mehr medienkompetenz ideologische motive der „Digitalisten“ und ihrer verdummungsstrategien. zumal natürlich auch die schulung zur medienkompentenz zeit und mühe kostet, die wiederum zu lasten des buches, der zeitung, der literatur und des wahren lebens („real life“ nennt gaschke das) gehen.

gaschkes analyse ist alles andere als widerspruchsfrei. so jubelte sie noch im oktober 2007 darüber, dass „wir dem Triumphzug eines Buches beiwohnen“ („Die Welt liest“) und beobachtet, wie „plötzlich […] allein in Deutschland Hunderttausende von Lesern, unter ihnen viele Jugendliche, in Kauf [nehmen], einen 1000-Seiten-Wälzer auf Englisch zu lesen.“ 2009 ist ihre analyse wieder vom pessimismus überdeckt und ihr harry-potter-jubel abgeflaut: „Bücher und Lesen verlieren an Popularität, und dies besonders bei Jugendlichen.“ schuld sind vor allem die netzapologeten, mit ihrer teuflischen ideologie der wissensgesellschaft.

könnte es nicht auch umgekehrt sein? verlieren „Bücher und Lesen“ vielleicht nicht deshalb leser an die digitalen medien, weil die jugendlichen sich nicht mehr mühen oder durch lange texte durchbeissen wollen, sondern weil die inhalte auf papier so schlecht geworden sind? ist die zeitungskrise nicht eher ein qualitätsproblem, als ein technologieproblem? warum lesen junge menschen rowling, aber nicht gaschke? ich war siebzehn, als ich neil postmans „wir amüsieren uns zu tode“ gelesen habe. wieso kann ich mir heute keinen siebzehnjährigen vorstellen der gaschkes „strategien gegen die digitale verdummung“ liest? richtig. weils kreuzöde und flach wie ein bügelbrett ist.

apropos bedürfnisse zurückhalten und mühe in kauf nehmen. stellen wir uns vor, gaschke würde die erfindung des kühlschranks oder der tiefkühltruhe mit der erhöhung des durchschnittlichen gewichts der einwohner westeuropas und nordamerikas in verbindung bringen. wahrscheinlich läge sie gar nicht so falsch damit, dass die sofortige befriedigung kulinarischer genüsse, die so ein kühlschrank ermöglicht, die leute dazu animiert mehr zu essen. wer mag noch die mühe auf sich nehmen, eine kuh zu melken, wenn er milch im kühlschrank stehen hat? nur: verfetten uns kühlschränke deshalb, so wie das internet „uns“ laut gaschke verblödet?

ich glaube der mensch ist lernfähig und anpassungsfähig. wir werden lernen die probleme die mit neuen technologien aufkommen (sei es ernährung, informationsüberflutung) in den griff zu bekommen, indem wir kulturtechniken entwickeln um die negativen folgen zu dämpfen. der umgang mit alkoholkonsum in der westlichen welt zeigt das exemplarisch. obwohl die negativen folgen des alkoholkonsums nicht zu leugnen sind, haben wir kulturtechniken und tabus entwickelt, um damit umzugehen. besser zumindest, als es die nordamerikanischen indianer können, in deren kultur alkoholkonsum nicht verankert war (und ist). alkoholkonsum ist so tief in unserer gesellschaft verankert, dass sogar die altehrwürdige, gesellschaftskritische wochenzeitung „die zeit“ der droge alkohol, die jährlich allein in deutschland ungefähr 40.000 menschen das leben kostet, breiten raum zur verherrlichung einräumt.

solche prozesse in der gemeinschaften mit gefahren und risiken umzugehen lernen dauern mitunter sehr lange, aber was ist die alternative? die zeit können wir nicht zurückschrauben, wir können weder alkohol, noch fertigessen, noch den freien fluss der informationen verbieten (bzw. wenn wir es versuchten, wären die negativen folgen vermutlich weitaus ausgeprägter als die positiven). wir können nur versuchen möglichst vernünftig mit neuen problemen („digitalisten“-sprech: „herausforderungen“) umzugehen.

gaschke mag pragmatische ansätze aber nicht. sie polemisiert, überspitzt und spaltet lieber: wer nicht gegen das internet ist, ist dafür, ist ein digitalist, ein ideologe. pragmatische und differenzierte betrachtungsweisen kanzelt gaschke als feige und oppurtunistisch ab. sie unterstellt differenzierenden kritikern des internets, dass sie nicht kulturpessimistisch oder altmodisch wirken wollen oder konfliktscheu seien.

gaschke gibt sich kampfeslustig und aggressiv. genau betrachtet ist gaschke aber gar nicht kampfeslustig. sie sehnt sich nur nach anerkennung. anerkennung für ihre lebensart, ihre haltung. sie möchte nicht mehr als kulturpessimist gesehen werden, sondern als prophetin. sie will um die deutungshoheit ringen, dafür kämpfen, „Technik benutzen zu dürfen, ohne sie anbeten zu müssen.“ nur, wer zwingt gaschke dazu, technik „anbeten zu müssen“? mann kann sich doch enthalten. man muss die neuen medien nicht lieben. und wenn man sie liebt, heisst das nicht, dass man ihnen völlig kritiklos gegenüberstehen müsste. ich vermute, sie will einfach ihre ruhe (und recht) haben, sie will das dieses geschnatter weggeht, dass ihre und die stimmen ihrer intellektuellen mitstreiter wieder da sind, wo sie hingehören: ganz oben, da wo die deutungshoheit und relevanz sie sanft umwehen. weg mit dem pöbel-geschnatter!

ich kann gaschke aber auch verstehen. wenn ich morgens im balzac sitze und am bildschirm hochphilosophische texte und emails lese, dann stört es schon, dass in dem laden jeder sprechen darf. teilweise bellen sogar hunde. jeder meint was zu sagen zu haben — in der öffentlichkeit! es ist anstrengend und es macht aggressiv, wenn man fremde, ungebetene meinungsäusserungen nicht einfach ausfiltern kann.

was ich aber nicht verstehe, ist gaschkes ablehnung von verfügbarmachung von wissen oder (genauer) informationen durch das netz. sie lehnt es ja nicht nur deshalb ab, weil die „Digitalisten“ information und wissen oft synonym benutzen, sondern weil allgegenwärtige information eine „Sofortismuskultur“ fördere. nur, was ist beispielsweise der unterschied zwischen der altertümlichen bibliothek von alexandria und dem internet heute? der hauptunterschied den ich erkenne ist, dass in alexandria das wissen der damaligen welt nur einigen wenigen priviligierten zur verfügung stand. und zwar — wie in jeder ordentlich geführten bibliothek — sofort, nur ein paar regale weiter, quasi „information at your fingertips“. im internet steht das wissen plötzlich allen zur verfügung. ob es sich alle anzueignen vermögen, ob alle etwas damit anzufangen vermögen, ist natürlich eine ganz andere frage, übrigens genau wie in einer bibliothek.

aber gaschke stört tatsächlich dass nun plötzlich alle zugriff haben. besonders für kinder sei es besonders schädlich, wenn es keine geheimnisse, keine tabus mehr gäbe. auch die erwachsenen würden durch die „Sofortismus-Kultur“ infantilisiert: „Der digital native aber will nicht ringen, er will klicken“. vermutlich rotiert neil postman angesichts solcher hausmacher-makramee-philosophie, die sich auch noch explizit auf ihn beruft, in seinem grabe.

apropos makramee-philosophie. ein gutes drittel ihres buches verwendet gaschke darauf, darzulegen wie schädlich, konzentrations-, lese- oder bildungsfeindlich das internet gerade für kinder und heranwachsende sei. dass auch sport, vor allem leistungssport, das potenzial hat jugendliche zu verblöden oder von einer umfassenen bildung im gaschke’schen klasischen sinne abhält, weiss jeder der schonmal sportler-interviews im fernsehen gesehen hat. die probleme des bildungssystems, meinetwegen auch, um es mal gaschkesque auszudrücken, die verblödungstendenzen unserer gesellschaft sind kein technologisches problem, genauso wie die lösung nicht rein technologisch möglich ist. niemand wird ernsthaft behaupten, dass fernseher oder computer kinder besser aufziehen können als engagierte eltern, die ihren kindern zeit und aufmerksamkeit und liebe schenken. (obwohl ich durchaus leute kenne, die die ersten 20 jahre ihres lebens vor dem fernseher verbracht haben und aus denen durchaus etwas respektables geworden ist.) die mischung machts und gaschke scheint die jugend für blöder zu halten als sie ist. jugendliche können sehr gut zwischen der angeblichen scheinwelt der sozialen netze im internet und denen im „wahren leben“ unterscheiden, ihr sensorium ist wahrscheinlich sehr viel ausgeprägter als gaschke es ihnen zutraut. es ist gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass „das Internet keine negativen Auswirkungen auf die Sozialbeziehungen von Jugendlichen hat – sondern positive“. aber selbst wenn gaschke recht hätte und das internet, oder die modernen medien, nicht förderlich für die entwicklung von jugendlichen sind, wieso soll eine gesellschaft, frei nach mark twain, kein steak essen, nur weil babies es nicht kauen können?

aber gaschke unterschätzt nicht nur die jugendlichen, sondern auch die internetnutzer. für sie sind das alles hirnlose und vereinsamte auf-den-bildschirm-glotzer, die einer scheinwelt erliegen. die positiven folgen die die vernetzung von menschen (und informationen) hat, blendet gaschke einfach aus. schlimmer noch, sie nimmt sie gar nicht wahr. wäre ihr buch eine restaurantkritik, wäre es die erste restaurant-kritik, die ohne das betreten des besprochenen restaurants entstanden wäre. sie hätte dann zwar mit den gästen vor der tür geredet, tagelang das geschehen durch die fenster beobachtet und unzählige bücher und untersuchungen von restaurant-kritikern zitiert, aber selbst im restaurant gegessen hätte sie nicht. sie hätte all die erfahrungen die sie an imbissständen, gulaschkanonen oder ihrer eigenen küche gemacht hätte in ihr buch einfliessen lassen, aber ihr urteil durch einen eigenen, intensiven restaurantbesuch trüben lassen, das hätte sie wohl nicht gewollt.

anders kann ich mir zumindest nicht erklären, warum sie die kultur die an vielen ecken und enden des internets wächst und gedeiht nicht wahrnimmt oder eben nicht als kultur anerkennt, warum sie soziale netzwerke im internet als unpersönliche, oberflächliche „Ersatz-Gemeinschaften“ bezeichnet und steif und fest behauptet, das netz entpolitisiere. meine erfahrungen zeigen das gegenteil. wir haben es im internet nicht nur mit maschinen zu tun, sondern auch mit menschen. vor allem das social-web könnte, nein, bringt bereits völlig neue kultur-techniken zutage. natürlich gibt es schund und schrott und abzocker und scharlatane und idioten und perverse und doofe im internet. so wie das in jeder zeitungsredaktion, stadt oder auch schule ist. allerdings behaupten deshalb nur ganz wenige, dass zeitungen, städte oder schulen uns deshalb verblödeten.

aber: gaschkes buch hat meine wahrnehmung verändert. neuerdings erwische ich mich manchmal beim lesen eines längeren textes am bildschirm, wie ich plötzlich das interesse am text verliere. ich denke dann an gaschke und ihre these, dass man bildschirm nicht ordentlich lesen könne, reisse mich zusammen und lese trotzig den text zuende. später fällt mir dann manchmal auf, dass mir das ebenso oft mit zeitungen oder büchern passiert. entweder bin ich schon total verblödet oder gaschke hat es tatsächlich geschafft meine aufmerksamkeit zu schärfen.

[nachtrag]
ein paar 2009er-rezensionen zu gaschkes buch bei buecher.de.