nele

felix schwenzel, , in wirres.net    

nele und malou, 1992

komisch.
es wäre mir irre peinlich wenn jemand hinter mir stünde und das was hier, weiter unten, steht lesen würde. oder jemand bei mir auf dem schreibtisch nen ausdruck davon finden und lesen würde. es gehört in ein tagebuch mit mädchen-schlösschen dran. und trotzdem blogge ich diesen vor einigen monaten geschriebenen text, aus — wie ich finde — gegebenem anlass. peinlich. das ist ja wie im tagebuch hier...

* * *

meine erste grosse liebe war nele. nele war die tochter eines kollegen meines vaters und wohnte irgendwann, nachdem ich mit meinen eltern mal wieder umgezogen war, nebenan. meine eltern hatten ihren eltern wohl mal von meiner beeindruckenden „lustige taschenbücher“ sammlung erzählt. sie kam dann öfter vorbei um sich welche auszuleihen. trotz der lustigen taschenbücher verloren wir uns bald wieder aus den augen. ich war damals aus verschiedenen gründen ziemlich stark in meinen sozialen fähigkeiten eingeschränkt. wohl auch ein faktor der unsere beziehung anfangs gar nicht erst aufkommen liess.

erst meine freundschaft zum pöhler änderte das ein wenig. pöhler war ne coole sau. gutaussehend, erfolgreich bei den mädchen, im besitz eines mofas. viele nannten ihn damals „popel“, die meisten aber einfach beim nachnamen, pöhler. keine ahnung wie wir uns kennenlernten, aber nachdem wir uns kennengelernt hatten waren wir unzertrennlich. wir machten irgendwann alles gemeinsam und der respekt der pöhler entgegengebracht wurde, färbte auch auf mich ab. plötzlich lernte ich leute kennen die cool waren und auch mich auch ernst nahmen.

der pöhler hatte damals mehrere frauen am start. seine grosse liebe war aber natascha. ein irre attraktives, dunkelhaariges, feingliedriges mädchen. er war jahrelang hinter ihr her. vielleicht lief da auch mal was, aber nie so richtig. durch den pöhler lernte ich auch nele wieder kennen, diesmal waren die lustigen taschenbücher kein thema. wir machten das was 15/16 jährige halt so zusammen machten. musik hören, mit julchen, neles hund, spazieren gehen, eis essen, rumhängen, stark parfümierten tee trinken, auf den friedhof gehen, zigarren von neles vater rauchen, mit alkohol experimentieren. noch während pöhler hinter natascha her war, verknalllte sich nele in den pöhler. ich in nele. klassische doofe situation.

nele, pöhler, ix

trotzdem, wenn ich bloss wüsste warum, vielleicht aus mitleid, nahm sich nele eines tages ein herz und küsste mich. aus blauem himmel und ganz feucht. mein erster zungenkuss. ich war glücklich für einen tag. denn am nächsten tag schlug neles herz wieder für den pöhler, der zwar noch mit natascha beschäftigt war, aber nele hatte geduld. und sie hatte ihre entscheidung getroffen. ich bin klassisch mit der situation umgegangen, wie jungs das halt machen; nele war von einem tag auf den anderen 'ne blöde fotze und bei mir und allen meinen freunden unten durch. wir, pöhler und ich, riefen ihr, wenn sie mit julchen an uns vorbei spazieren ging, beschimpfungen hinterher, schrieen petzig „nele sticherling raucht heimlich, neelee raaauaaaucht!“, und erklärten sie zur persona non grata. das ging zwei, drei wochen so. danach war wieder alles in ordnung. vielleicht hats auch vier wochen gedauert. erscheint alles so fliessend in der rückschau. mein verletzter stolz war vergessen und eigentlich war alles wieder so wie vorher. mit dem unterschied, dass ich nicht mehr in nele verknalllt war.

irgendwann hatte der pöhler die nase voll von natascha. zwischen ihm und nele entwickelte sich eine jahrelange, extrem chaotische beziehung. grosse liebe, riesen krach, alle paar wochen schluss-machen mit anschliessender versöhnung — und das jahrelang. ich kann mich nicht mehr an die details erinnern, aber pöhler konnte weder treu sein, noch mit neles bedingungsloser liebe umgehen. es knallte ständig. einerseits blieb ich dick verkumpelt mit pöhler, wir fingen an exzessiver mit alkohol zu experimentieren, das nachtleben von aachen auszutesten (ganz besonders den domkeller), mit 16/17 jahren ins pornokino zu gehen, komische bekanntschaften zu machen und auch mit dope zu experimentieren. andererseits kam ich nele immer näher, hörte mir geduldig ihr leid mit pöhler an, gab ihr hobby-psychologische ratschläge und wurde sowas wie ihr bester freund.

nele litt wie ein hund unter der wechselhaften beziehung. ihre verkorkste beziehung zu ihrem vater (hobby-psychologie! im rückblick irre peinlich...) spiegelte sich in ihrer beziehung zum pöhler. das ganze spektrum; autoagressives rumschnippeln an den unterarmen, warnsignal-schlaftabletten-schlucken-androhen, gewohnheits-depression. ich versuchte immer für sie da zu sein und hörte zu. verknallt war ich nicht mehr, vielleicht ein bisschen noch, aber ohne verlangen. eher rational eben.

der pöhler wurde immer exzesiver, die drogen-experiemente glitten ab. ich musste vom kiffen immer kotzen und liess es irgendwann sein, pöhler konnte irgendwann ohne zu kiffen nicht mehr einschlafen. seine eltern rochen bei geschlossener türe wenn ich zu besuch war („ist felix da? es stinkt nach knoblauch!“), aber nicht, wenn er kiffte. unsere beziehung löste sich langsam. zudem entschieden sich nele und ich nach der 10ten klasse für ein jahr nach amerika zu gehen.

nele landete in new hampshire, ich auf der anderen seite des amerikanischen kontinents, in washington-state. trotzdem vertiefte sich unsere beziehung in diesem jahr ungeheuer, wir schrieben uns glaube ich über das jahr hinweg mindestens alle zwei wochen einen brief. pöhler verschwand von der bildfläche und im drogensumpf. er blieb auch verschwunden, als wir zurück in deutschland waren. pöhler, hiess es, sass irgendwo in südamerika im knast. nele sprach übrigens akzentfrei englisch und kam mit einem ungeheuer dicken arsch zurück.

in deutschland waren nele und ich dann auch keine nachbarn mehr, ich zog mit meinen eltern mal wieder um, 60 kilometer nach norden. in der schule bildete sich neles arsch zurück und sie verliebte sich in einen dürren, alten bekannten aus pöhler-zeiten, der jetzt in ihrer klasse gelandet war. daniel. ein stadtbekannter schwuler. ganz aachen wusste dass er schwul war, nur er nicht. er stritt einfach ab schwul zu sein wenn ihn jemand drauf ansprach, obwohl er diese tuntige handhaltung hatte und bekannt dafür war in der umgebung von männern stets erektion zu tragen, selbst wenn er komatös besoffen war. trotzdem, oder gerade deshalb, verliebte sich nele in daniel. kurz bevor er sie nach dem abi schwängerte, zogen sie gemeinsam in eine billige wohnung in belgien. nicht weiter erwähnenswert, aber in dieser wohnung habe ich das einzige mal in meinem leben eine leichte verbundenheit zu daniel gespürt. wir unterhielten uns über das wunder der fortpflanzung, über die strahlende zukunft die uns jungen, überoptimistischen menschen bevorstand und warum heiligenbilder aufs klo gehören.

nele und malou, 1992

die beiden heirateten. ich war neles trauzeuge. bald darauf fing ich mit meinem zivildienst in fulda an. kurz bevor ihre tochter malou geboren wurde, zogen die beiden wieder nach aachen. eine kleine wohnung in der bismarkstrasse. daniel fing ein praktikum im stadttheater aachen an. kurz bevor er den job hinwarf weil er keinen bock auf kaffeekochen mehr hatte traf er dort seine grosse liebe, markus. malou war gerade ein paar monate alt und nele plötzlich alleinerziehende mutter. malou hatte probleme beim scheissen, wollte nicht loslassen, neles gemüt verfinsterte sich. ein paar mal feierte ich mit nele alleine weihnachten. eigentlich war ich froh, dass nele das arschloch das sie geheiratet hatte los geworden war. wir sponnen pläne ein haus zu mieten und gemeinsam mit unserem gemeinsamen freund karsten eine grosse wg zu gründen. pläne aus denen nichts wurde, die aber eine wunderbare projekttionsfläche und möglichkeit zum rumphantasieren abgaben. nele ging es oberflächlich immer besser, sie verliebte sich sogar nochmal, in frank, einen offenen, ehrlichen, ruhigen kerl. ein paar jahre vorher hatte er mir zwar prügel angedroht, weil ich über ihn gesagt hatte, er sei ein prolet, ein assi. was er natürlich als er mit nele zusammenkam nicht mehr war. er mochte nele und malou sehr. seine eltern auch. alle mochten nele. frank und nele planten eine gemeinsame zukunft, den beiden war es ernst.

in der brigitte hätte gestqnden, nele sei eine „powerfrau“, die ihr leben mit kind, jobs und liebe im griff hätte. hatte sie aber nicht. ihre ängste waren stärker als irgendjemand, mich eingeschlossen, dachte. das miese gefühl ihr leben nicht richtig im griff zu haben liess sie nicht los. am 27.4.1993 sprang sie im alter von 22 jahren aus der obersten etage des hochhause am europaplatz in aachen. in ihrem abschiedsbrief schrieb sie: „ich kann nicht mehr. [...] ich habe versagt, und ich will gar nicht um verzeihung bitten.“

ix, malou, 1993/94

ein paar erinnerungen an nele finden sich im geschreibsel ihres ex-mannes wieder, der sich mit viel talent und seinem „schrecklichen familien-schicksal“ zeitweilig in die top-ten deutscher theater-autoren schrieb (stern-biografie, heft 1, 19.8.2002: „DRAMA EINES DRAMATIKERS / Es gibt Schicksale, die hält kein Mensch aus, wie also überlebt einer wie der Theaterregisseur DANIEL C.?“). malou zog zu ihm, er war ja schliesslich ihr vater. nele hatte mir aufgetragen gut auf malou aufzupassen, sollte ihr selbst jemals etwas zustossen, aber hier versagte auch ich grandios. malou ertrank zweidrei jahre nach neles tod unter etwas dubiosen umständen bei ihrem vater in der badewanne. kurz darauf starb auch julchen, neles dackel. das einzig positive was an dieser geschichte dran ist, die drei liegen gemeinsam in einem grab, der hund illegalerweise.

ich sollte die drei mal wieder besuchen gehen.