10 gegenthesen zu 10 thesen zur digtalen zukunft

felix schwenzel, , in wirres.net    

dieser artikel von martin weigert ist mittlerweile zwei monate alt. als ich ihn zum ersten mal las, wollte ich jeder seiner zehn these widersprechen. bis jetzt hatte ich noch nicht die zeit das ausführlich zu tun. ich wollte einfach ein bisschen mehr schreiben als: „so ein abgestandener quark.“

also hab ich die thesen als vollzitate genommen und jeweils meinen widerspruch dazuformuliert. die grundaussage von oben bleibt allerdings. wer nicht so gerne liest kann hier aufhören. ich versichere hiermit, die zehn thesen von martin weigert haben ähnlichkeit mit abgestandenen quark. wer mir das nicht glauben will, muss wohl oder übel lesen.

1. Print als Massenmedium stirbt
Ein viel diskutiertes Thema, bei dem für mich nur noch die Frage offen ist, wann es passieren wird, nicht ob. Print als Massenmedium hat keine Zukunft. Die Web-Vorteile geringer Produktions- und Distributionskosten, hoher Flexibilität, entscheidender Aktualität und signifikanter Nähe zum Leser werden Inhalte weiterhin und mit zunehmender Geschwindigkeit vom Papier ins Netz verlagern.

ich halte nicht nur die hauptthese für übermässig steil, sondern auch die paar kümmerlichen annahmen die hier als argumente verkleidet wurden als übermässig steil. mag sein, dass die distributionskosten im web niedriger als bei print sind, aber ich bezweifle, dass die produktionskosten so viel niedriger sind. zum einen sind die kosten qualitativ hochwertiger inhalte unabhängig vom medium sehr, sehr hoch. und wer sagt eigentlich, die digitale distribution oder auslieferung sei wirklich so viel günstiger? eine webseite wie spiegel online zu hosten dürfte nicht ganz trivial und das gegenteil von günstig sein. kosten für die sicherheit und pflge der systeme, die pflege der „community“, die technische weiterentwicklung der site, des content-managment-systems wirken vielleicht vernachlässigenswert im direkten vergleich mit einer hochleistungsdruckerei, aber ich tippe mal, mit nem 20 euro-paket bei strato bekommt man massenmedien nicht geschultert. ein bildblog im übrigen auch nicht mehr.

was ich auch nicht verstehe, warum flexibilität und aktualität so wichtig sein sollen für ein massenmedium. massenmedien sind nicht per definition aktuell, im gegenteil. vielleicht ist genau das gegenteil von aktualität und gehetzter gereiztheit das künftige profilierungsmerkmal für den print: gut abgehangene, sauber recherchierte hintergrundinformationen. grandiose, opulente bildstrecken. reportagen nicht aus den bäumen vor östereichischen psychiatrien geschrieben, sondern aus der distanz, aus dem kaffeehaus oder dem hotelzimmer.

und dann die nähe zum leser. wirklich schlüssig finde ich es nicht, dass das vorhandensein einer kommentar-funktion wirklich mehr nähe zum leser herstellt als das nicht-vorhandensein. ich empfinde nähe zu einem autor oder einem text übrigens nicht abhängig vom medium, sondern abhängig vom schreibstil oder der persönlichkeit die ich hinter die worte projeziere. auch der fehlende rückkanal der printmedien fehlt bei genauer betrachtung eigentlich nicht. ich kann einen print-artikel wunderbar online kritisieren oder korrigieren.

kurz: print als massenmedium bleibt. es wird sich vieles am print ändern, aber papierlos wird die zukunft ganz sicher nicht. die prophezeiung der papierlosen zukunft wird durch mantraartiges wiederholen nicht wahrer oder plausibler.

2. Social Networks werden Kommunikationstool für jedermann
Social Networking ist kein temporärer Hype. Soziale Netzwerke werden langfristig für jeden Menschen zum täglichen Kommunikations- und Informationswerkzeug, auf das man von überall Zugriff hat.

einer platitüde mag ich nicht widersprechen. hilfreicher wäre es, zu überlegen welche arten von sozialen netzen sich künftig bilden. denn auch telefone waren bereits soziale netzwerke, kneipen und kaffeehäuser sind es auch und die künftigen werden sich sicherlich radikal von der derzeitigen, noch sehr rudimentären und primitiven ausprägung, unterscheiden.

kurz: kommunikationstools bleiben kommunikationstools.

3. E-Mail verschwindet nicht
Die E-Mail als das einfachste, praktischste und schnellste Kommunikationsmittel im Web wird nicht verschwinden, aber verstärkt mit Elementen des Social Web verschmelzen.

verstehe ich nicht. warum sollte email (die elektronische übermittlung von nachrichten) verschwinden? die protokolle werden sich sicher verändern und weiterentwickeln, aber weg geht das nicht mehr: email bleibt.

4. “The Winner takes it all”-Theorie behält Gültigkeit
Einzelne Bereiche des Internetgeschäfts werden weiterhin von einem (oder wenigen) großen Anbieter dominiert. Für Nischenanbieter lässt es sich aber auch im Long Tail gut leben.

auch hier mag ich nicht wirklich widersprechen. ausser vielleicht, dass ich gerne noch eine steile these hinterherschieben möchte. die dynamik mit der nischenanbieter und dominierende unternehmen ihre plätze tauschen wird zunehmen. oder anders gesagt: aus einem nischenanbieter wird auch in zukunft über nacht ein globaler spieler werden können: das netz ist und bleibt dynamisch.

5. Personalisierte Werbung wird zum Standard
Im Netz brauchen sich Werbetreibende keine Streuverluste mehr zu leisten. Das Ausliefern von maßgeschneiderten Anzeigen, basierend auf den soziodemografischen Daten und Präferenzen des Users, entwickelt sich zum allgemein akzeptierten Standard.

ich halte es für einen irrtum, dass man menschen dinge die sie nicht interessieren, mit soziodemografischen daten schmackhaft machen kann. das problem ist nicht nur weiterhin eine ungeheuer grosse technische herausforderung oder die blödheit der werber, sondern einfach die tatsache, dass man auch mit einer 24-stunden-überwachung eines menschen nicht herausbekommt was ihn wirklich interessiert und was nicht. werbung pisst den konsumenten auch massgeschneidert an, streuverluste sind optimierbar, aber unvermeidlich. personalisierte werbung ist genauso unpersönlich wie unpersonalisierte werbung: personalisierte werbung bleibt ein feuchter wunschtraum von werbefuzzis.

6. E-Commerce steigt zu populärem Geschäftsmodell auf
In Zukunft gerät das Verkaufen von realen und virtuellen Gütern verstärkt in den Blickpunkt von Anbietern, die heute noch nichts mit Handel im Netz zu tun haben. Die Erzielung transaktionsbasierter Umsätze macht Webanbieter unabhängiger vom Schwankungen unterworfenen Werbemarkt.

ich dachte wir reden hier von thesen zur digitalen zukunft? e-commerce ist bereits ein populäres geschäftsmodell. abgesehen davon passt in diese these so ungefähr jedes zukunfts-szenario, man könnte es auch so sagen: immer mehr leute kaufen online, aber die meisten kaufen in absehbarer zukunft weiterhin in geschäften ein: e-commerce bleibt. einzelhandel auch.

7. Bezahlte Inhalte erleben Renaissance
Der momentane Trend, sämtliche Inhalte im Web kostenlos anzubieten, wird abflauen. Gerade für Qualitätsangebote, die auf hohe Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit setzen, kann sich das Bereitstellen von Content gegen Gebühr als (wirtschaftliches) Erfolgsrezept erweisen. Anzunehmen, dass sämtliche digitalen Inhalte, für die bisher bei physischer Distribution bezahlt wurde, in Zukunft durch Werbung finanziert werden könnten, ist Illusion.

nach punkt 5 werden wir zum zweiten mal zeuge wie ein wunschgedanke zu einer these umgeschmiedet wird. es wird in der digitalen informations-ökologie keinen weg geben, inhalte oder content zu verkaufen, zumindest nicht in der grössenordnung eines massenmarktes. was google nicht findet gibt es nicht und was noch schlimmer ist: es ist irrelevant.

es gibt vielleicht ein paar ausnahmen, inhalte mit denen sich der konsument stark identifiziert, musik, filme, manche texte. sobald es techniken gibt, die die einfache und freiwillige zahlung eines obulus, also einer spende erlauben, könnte man von einer solchen renaissance sprechen. ein paar musiker zeigen wie soetwas funktionieren kann, alles umsonst weggeben, aber entweder für aufwändig gestaltete CD-editionen oder qualitativ hochwertigere downaloads zahlen die fans gerne. auf freiwilliger basis. das funktioniert auch bei open-source software seit jahren ganz gut, viele autoren können von kostenlos verteilter software ganz gut leben. ebenso könnte das über mediensprünge funktionieren: die musik im netz kostenlos, das konzert kostet. die texte im netz kostenlos, aber die opulente printausgabe, das best of, die lesung, das buch mit goldbordüre kostet.

aber im netz für etwas bezahlen müsen, wird weiterhin als bauernfängerei gelten. da helfen weder spin-doktoren, pr-fuzzis oder wunschdenken: bezahlte inhalte funktionieren im web nicht.

8. Marketing wird erheblich komplizierter
Dank der allgegenwärtigen Möglichkeiten zum Abrufen und zum Erstellen von weltweit verfügbaren Informationen lassen sich Konsumenten nicht länger durch leere Werbeversprechen täuschen. Verbraucher werden zu Prosumenten, die die Kunde von guten oder schlechten Produkterlebnissen sofort im Netz weitertragen. Dieses Phänomen wird sich in den nächsten Jahren noch deutlich verstärken.

das wort prosumenten ist ja so ein komlizierter marketingbegriff der genauso erkenntnisfördernd ist wie das wort „kolosskalmar“. prosument ist eine in buchstaben gegossene platitüde: die menschen sind nicht so doof wie marketingfuzzis sie immer gehalten haben. nur haben die marketingfuzzis das bisher nicht gemerkt. jetzt wo ihnen der wind ins gesicht bläst merken sie es und geben dem wind namen. anders gesagt, marketing war immer schon komliziert, wird es immer bleiben, insbesondere wenn das produkt scheisse ist. kurz: marketing bleibt kompliziert.

9. Physische Distribution von Musik und Film ist bald Geschichte
In wenigen Jahren werden Musik und Filme nur noch digital über das Netz verkauft und vertrieben. Die Zeit optischer Datenträger ist dann abgelaufen.

hier hat martin weigert ein entscheidendes „wenn“ vergessen. richtig muss es heissen: „Physische Distribution von Musik und Film ist Geschichte, sobald DRM Geschichte ist.“ solange elektronisch veteilte musik oder filme damit kundenfeindlich verseucht werden, solange die usability, die funktionalität und zuverlässigkeit dieses vertriebskanals so dermassen unter aller sau ist, solange werden auch datenträger verkauft. musik, video und filme werden allgegenwärtig, der einzige grund sie zu kaufen ist sie zu besitzen und zu einem frei gewählten zeitpunkt konsumieren zu können. ich will musik die ich kaufe auch in 10 jahren noch hören können, wen mein ipdod und mein festplattenbackup längst durch altersschwäche oder fehlbedienung alle ihre daten verloren haben. ich will in mein regal greifen und den film gucken wann ich will und ich will und nicht nach der pfeife des „rechteinhabers“ tanzen müssen. der mensch sammelt und will besitzen. DRM und rechtemanagement sind eine illusion der industrie bei der die konsumenten auf dauer nicht mitspielen werden. bei der musikindustrie ist diese erkenntniss auch nach 10 jahren erfahrung erst ansatzweise angekommen. warum sollte das bei der filminsustrie schneller gehen? these 9 lege ich auf wiedervorlage, in ca. 20 jahren: DRM ist gift für die digitale distribution.

10. Lineares Fernsehen wird sich (vorerst) behaupten
Die On-Demand-Konsumtion von visuellen Inhalten nimmt zwar zu, aber die mit herkömmlichen Fernsehen verbundene Möglichkeit zur vollständigen Passivität des Zuschauers sichert klassischen TV-Sendern mit starrem Programmschema vorläufig die Existenz. Selbst der größte Freund der digitalen Revolution genießt es noch gelegentlich, sich auf der Couch für einen Augenblick passiv berieseln zu lassen.

lineares fernsehen ist tot. zumindest für mich. wenn ich fernsehen gucke, dann auf DVD als UK-import. wenn mich das zeug im fernsehen noch interessieren würde, würde ich es ausschliesslich per festplattenrekorder konsumieren. selbst der angebliche passive zuschauer wird die vorzüge der entlinearisierung entdecken, wenn festplattenrekorder bezahlbar und genauso einfach wie lineares fernsehen zu bedienen (und konfigurieren) sind. auch die letzte hochburg des linearen fernsehens, wetten dass …? ist auf dem absteigenden ast, bzw. auf dem weg in den longtail.

selbst die letzte bastion des linearen fernsehens, der sport, wird durch die verlagerung ins werbeverseuchte privatfernsehen den umsatz von festplattenrekordern anheizen. wenn ich formel1 gucke, dann am liebsten mit 10 bis 20 minuten zeitverzögerung, die mir erlaubt die werbung zu überspringen. eine bastion des linearen fernsehens wird bestehen bleiben: die sport-kneipe mit fernseher und pay-tv. dem rest werden tivo und co. den garaus machen: das lineare fernsehen wird irrelevant.