netz ohne gesetz?

felix schwenzel, , in wirres.net    

spiegel 33/2009

die aktuelle titelgeschichte des spiegel, die postuliert, dass das internet „neue regeln“ bräuchte, liest sich ziemlich verwirrend. streckenweise liest sich die bestandsaufnahme zum status quo im internet recht differenziert, es werden experten und beispiele zitiert die zeigen sollen, dass das internet keineswegs ein „rechtsfreier raum“ sei, dann werden wieder die schlimmsten horrorgeschichten ausgegraben, die dann doch die angebliche rechtsfreiheit und das chaos im internet belegen sollen:

So ist das Internet zwar die größte Befreiung des Geistes seit der Erfindung der Buchdruckerkunst, aber zugleich ein Massenspeicher für alle Übel, die Menschen sich ausdenken, vom schlichten Schmutz bis zu den schlimmsten Auswüchsen der Phantasie. Es ist ein Beschleuniger für Innovationen, aber eben auch für kriminelle Energien, vom Trickbetrug mit der erfundenen Geschichte einer nigerianischen Diktatorenwitwe, die dringend ein Konto braucht, auf das sie ein paar Millionen Euro überweisen kann, bis zu den härtesten Formen der Organisierten Kriminalität.

Der sogenannte Kannibale von Rotenburg fand sein Opfer in einem Internetforum. Es gibt Selbstmordtreffs, Folter- und Snuffvideos zuhauf, es gibt Amokforen, Anleitungen zum Mixen von Medikamenten- und Drogencocktails und natürlich Bombenbastelseiten. Sowohl die sogenannten Kofferbomber als auch die Sauerlandgruppe hatten die Instruktionen für ihre Höllenmaschinen aus dem Internet.

dass es all diese menscheitsübel, betrug, mord, selbstmord, bomben, drogen und medikamentenmissbrauch auch schon vor dem internet gab, muss man als spiegel-autor nicht extra betonen, klar. trotzdem frage ich mich manchmal, warum sich das internet von einer durchschnittlichen deutschen grossstadt oder boulevard-zeitung unterscheiden sollte?

über seiten hinweg sammeln die fünf autoren indizien, um die recht- und regellosigkeit des internets hochzustilisieren. positives wird nur am rande erwähnt und gar nicht erst in erwägung gezogen:

Tatsächlich war es noch nie so einfach, vor weltweitem Publikum seine Meinung über Einzelpersonen oder Unternehmen zu verbreiten, ganz gleich, wie begründet oder wie haltlos bis heimtückisch sie ist.

dass meinungen nicht immer heimtückisch sein müssen, scheint den autoren im zusammenhang mit dem internet wohl haltlos. nach diesem satz folgen mehrere absätze mit negativbeispielen. man hat den eindruck, dass die spiegel-autoren mitleid mit firmen empfinden, die sich mit kritik auseinandersetzen müssen und sich plötzlich „um das Ansehen ihrer Häuser und Führungskräfte“ sorgen. da will man noch nichtmal ein zitat der justizminiterin unkommentiert stehen gelassen, die meint, dass die rechtlage doch „glasklar“ sei: „Was offline verboten ist, ist online ebenso verboten.“ das möge so sein, nörgeln die spiegel-autoren, doch am vollzug mangele es wohl. da könnten sie ja mal bei jens weinreich nachfragen, wie mangelhaft der vollzug ist.

schlimm und skandalös findet der spiegel auch, dass der urheber eines hassvideo gegen einen bayerischen lateinlehrer nie gefunden werden konnte. nur ob das wirklich etwas mit dem internet zu tun haben muss oder vielleicht der mangelhaften welt in der wir leben (oder gar schlechter polizeiarbeit), kommt den besorgten autoren nicht in den sinn. ich erinner mich zum beispiel daran, dass die schüler die einem lehrer an meiner schule hundescheisse auf die winschutzscheibe und die lüftung schmierten ebenso wie die, die den vorgarten des direktors verwüsteten und sein haus mit klopaier schmückten, nicht identifiziert werden konnten.

später fangen die spiegel-autoren sich im globalen masstab zu sorgen und rufen nach einer globalen kontrollinstanz. und ganz grundsätzlich werden sie auch, nach grossväter-art wird sehnsuchtsvoll in die gute alte zeit zurückgeblickt:

Tatsächlich war es ja der exklusive Hoheitsanspruch, der einst den Fortschritt der Neuzeit eingeleitet hat. Seine Erfindung mit der Verkündung des ewigen Landfriedens im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und der Gründung des Reichskammergerichts 1495 folgte kurz auf die Entwicklung der beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg. So endete durch staatlich garantiertes Recht und geistige Aufklärung das dunkle Zeitalter, in dem private Mächte, Kirchenfürsten, Aberglaube regierten.

Der digitale Fortschritt könnte nun die zivilisierte Welt in die Zeit der Selbstjustiz, des Faustrechts zurückführen. Der Staat, will er überhaupt noch ernst genommen werden, muss sich, demütigend genug, mit den selbstherrlichen Lehnsherren des Cyberspace, den Googles und Facebooks, den Providern und der Lobby der IT-Industrie gemeinmachen.

aufklärung, freier, unkontrollierbarer wissens- und informationsaustausch waren 1495 ein segen und jetzt, 2009, sind sie ein problem?

in der aktuellen GEO las ich in „die revolution des lesens“ von jahanna rommberg folgendes:

[Horst Wenzel] entdeckt dabei immer wieder erstaunliche Parallelen zwischen historischen Umbrüchen und den Mediendiskussionen der Gegenwart.

Wenn etwas bahnbrechend Neues in die Welt kommt, sagt er, dann geht immer auch etwas verloren. Und die Verluste sind für die Zeitgenossen oft stärker spürbar als die Gewinne.

Als der Buchdruck aufkam, erhob sich eine Vielzahl von Klagen: Das neue Medium bewahrt keine Gehimnisse! Es macht die Schreiber arbeitslos! Es verfälscht die Werke der alten Dichter und Philosophen durch schludrige Raubdrucke! Am schlimmsten aber sei, dass es jede Meinung ungeprüft verbreite, „alleyn uff gewynn und groß beschisß“, sodass die Leute am Ende den „buren“ mehr glauben als den „glerten“. So schimpfte, um 1500, der Dichter Sebastian Brant.

genau solche artikel sind der grund, warum ich ieber die differenzierte, unaufgeregte GEO lese, als den stets leicht hysterischen und bigotten spiegel.

am meisten aber ärgere ich mich darüber, dass ich den spiegel immer noch ernst nehme und mitunter sogar geld dafür zahle ihn zu lesen.

[nachtrag 0:45h]
markus beckedahl hat die geschichte auch schon gelesen und meint:

Der Titel “Netz ohne Gesetz - Warum das Internet neue Regeln braucht” ist wieder gewohnt reisserisch und spielt mit dem beliebten Vorurteil, dass das Internet ein rechtsfreier Raum ist. […]

Als Spiegel-Abo-Besitzer konnte ich mir praktischerweise gerade schon die Story durchlesen. Die Kurz-Kritik nach dem lesen von 57680 Zeichen: Die Story ist besser als der Titel verspricht. Es werden viele richtige Fragen gestellt und Probleme beschrieben, auch wenn ich nicht alle Schlußfolgerungen teile.

[nachtrag 12:30h]
alexander svensson über die „bizare“ schlusspointe im spiegel-titel:

Die Spiegel-Titelstory „Netz ohne Gesetz – warum das Internet neue Regeln braucht“ ist erfreulich differenziert, nennt ungelöste Probleme und stellt vor allem viele Fragen. Völlig überraschend und bizarr ist allerdings die Schlusspointe: Auf der letzten Seite bringen die fünf Autoren ICANN ins Spiel, die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers, und konstruieren sie zum potenziellen Heilsbringer um. Ich dachte, wir hätten diese Zeiten hinter uns. (weiterlesen bei wortfeld.de)

[nachtrag 10.08.2009]
nachem ich die spiegel-titelgeschichte zwei tage reflektieren konnte, ist mir aufgegangen, wie affektiert und grosskotzig sie stellenweise ist. einerseits ist die analyse über weite strecken genau und differenziert, andererseits sind die schlussfolgerungen und der tenor wahnwitzig. das fiel mir allerdings erst dann in aller deutlichkeit auf, nachdem ich diesen artikel von christian stöcker von spiegel online las (via netzpolitik). der artikel ist nicht nur differenziert, sondern auch noch klug — ohne die affektierte, aufgebasene sprache und ansprüche des (gedruckten) spiegels. die frage bleibt, warum lassen die nicht einfach stöcker die titelgeschichte schreiben?

[nachtrag 12.08.2009 16:54]
burkhard schröder hat den spiegel-artikel schön auseinandergenommen. tenor (gerichtet an die autoren): „Ist bei Euch noch alles ganz richtig im Oberstübchen?“

[nachtrag 12.08.2009 21:05]
fünf tage nach der (vor-)veröffentlichung des spiegel-titels schreibt auch stefan niggemeier (sehr lesenswert) drüber:

Die These des Aufmachers lautet etwa: „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, kann aber leicht mit einem verwechselt werden”, möglicherweise aber auch: „Das Internet ist ein rechtsfreier Raum, müsste das aber nicht bleiben”, ganz genau ist das nicht auszumachen. Das Stück entstammt dem beliebten „Spiegel”-Multi-Autoren-Genre, in dem das Hauptziel ist, so viele Namen, Zitate und Faktenfetzen wie möglich in einem Text unterzubringen, die dann notdürftig miteinander verbunden werden. (weiterlesen)