blinde flecken bei der journalismusrettung
felix schwenzel,
,
in wirres.net
krautreporter.de: Der blinde Fleck #
sebastian esser:
Der britische Autor Jon Ronson hat gerade ein Buch mit dem Titel „So You've Been Publicly Shamed“ veröffentlicht. Er schreibt darin über Menschen, die einen Fehler machen und anschließend von einem Tornado aus öffentlicher Kritik mitgerissen werden. Eine Welle von Schande überschüttet sie. In manchen Fällen spült sie ihr Ansehen, ihren Job, ihr Leben weg. [...]
Es wäre eine einfache Lösung, wenn Krautreporter sich von Tilo Jung trennen würde. Aber es wäre nicht die richtige. Jeder hat das Recht auf einen bescheuerten Post - zumindest, wenn er versteht, was er falsch gemacht hat.
auf meine frage:
verstehe ix das richtig, dass @TiloJung ansehen, job und leben verlieren würde, wenn er nicht mehr bei @krautreporter wäre?
Nein, das verstehst Du falsch. Mein Punkt: Konsequenzen sollten angemessen sein und auch etwas bewirken.
weil tilo jung sich nicht mehr erinnern kann, was an seinem witz lustig war, haben die krautreporter ihm jetzt zeit gegeben einen „blinden fleck“ in seinem kopf zu erleuchten:
Wir haben beschlossen, Tilo Zeit zu geben, diesen „blinden Fleck“ auszuleuchten. Es ist seine Entscheidung, ob und wie er auf diese Fragen antworten will. Wir werden vorübergehend keine neuen Beiträge von Tilo Jung veröffentlichen, aber er bleibt ein Teil von Krautreporter.
ich glaube allerdings, dass gar nicht der blinde fleck bei tilo jung ein problem ist, sondern viele blinde flecken bei den krautreportern — und einer davon heisst tilo jung. wenn sich die krautreporter nicht entscheiden, wie sie zu tilo jung und seinem kruden humor- und qualitätsverständnis stehen, könnten sie ein problem bei der nächsten finanzierungsrunde bekommen — oder auch nicht. denn tilo jung hat viele fans, wie man unter seiner entschuldigung und rechtfertigung auf facebook sehen kann. wie bei dieter bohlen, der auch viele fans hat und den viele lustig und ironisch finden, kann ich gut damit leben, dass die welt nicht allein nach meiner façon geformt ist. allerdings kaufe und konsumiere ich nichts von dieter bohlen und genauso wenig möchte ich an der finanzierung von tilo jungs (oder dieter bohlens) lebensstil, humorverständnis oder auftritten beteiligt sein.
ich finde es gut, nicht immer gleich akuten druck oder hochgeschaukelten empörungswellen nachzugeben, egal woher der druck oder die wellen kommen. aber ich würde mir wünschen, dass krautreporter-mitglieder sich nicht nur in den kommentaren, in ihren eigenen blogs, auf diversen mailinglisten oder hinter den kulissen äussern und die ausrichtung der krautreporter mitsteuern könnten, sondern dass die krautreporter ihren mitgliedern und lesern die möglichkeit bieten, beiträge auch direkt zu bewerten. diese wertungen müssen nicht öffentlich sein und sollten auch keine direkten inhalts- oder personalentscheidungen zur folge haben, aber ich würde mir als krautreportermitglied sehr wünschen meine kritik oder lob dediziert und konkret hinterlassen zu können. stattdessen werden, soweit ich das verstehe, lediglich unscharfe signale gemessen (wie leserzahlen, klickpfade und verweise aus den weiten des netzes).
ich möchte nicht nur einmal pro jahr pauschal an der urne mit der kreditkarte abstimmen dürfen, ich würde mir wünschen, dass ich und andere mitglieder messbar und eindeutig quantifizierbar an jedem artikel ihre stimme hinterlassen könnten. was die redaktion dann daraus macht sei dann der redaktion überlassen, aber immerhin hätte sie so eine basis für ihre entscheidungen und das stimmungsbild unter ihren mitgliedern. und eigentlich sieht sich die redaktion ja durchaus verpflichtet, im sinne der mitglieder mit dem ihr anvertrauten vertrauens- und geldvorschuss umzugehen. das schrieb sebastian esser alexander von streit nach dem rauswurf von jens schröders datensport-format:
Wir haben eine große Verantwortung übernommen und müssen das uns anvertraute Geld richtig einsetzen. In diesem Fall ist der Einsatz zu hoch für das, was das Projekt in der Gesamtschau auf unser Programm leistet.
ablehnung oder desinteresse an inhalten, können bei den krautreportern also durchaus zu personellen konsequenzen führen.
journelle.de: Kraut, Schuld und Sühne #
journelle sieht den umgang mit, oder genauer den nicht-rauswurf von tilo jung bei den krautreporter als richtig an:
Aus Sicht eines Arbeitnehmers finde ich die Reaktion der Krautreporter fair und richtig. Ich wünsche mir auch, dass mein Arbeitgeber mich nicht nach einem Fehler feuert.
trotzdem sieht sie bei der ausrichtung der krautreporter das eine oder andere strukturelle problem:
Für mich sind die Krautreporter eine Gruppe selbstgefälliger Journalisten, die glaubten, Kraft ihres empfundenen Genies den digitalen Journalismus neu zu erfinden. Immerhin konnten sie genügend Geld für ihr Projekt zusammentragen, aber das Resultat ist in 95% der Artikel der gleiche langweilige Journalismus, den sie ja ursprünglich revolutionieren wollten. Zu allem Übel haben sie nicht nur die Langeweile, sondern auch den gesellschaftlich tolerieren Sexismus der etablierten Medien übernommen.
übrigens wollten die krautreporter ja nicht nur den journalismus neu erfinden, sondern auch das dazugehörige content management system. alles nach dem motto: wir machen das selbst und wir machen es besser. leider ist das ergebnis ernüchternd; einzelne artikel kann ich tatsächlich auf krautreporter.de ganz gut (sprich ohne technische probleme oder irritationen) lesen. sobald ich aber einen bestimmten artikel oder autoren suche, verzweifle ich. die website treibt mich beim stöbern in den wahnsinn. ich glaube das ist symptomatisch und ein zeichen dafür, dass beim krautreporter-konzept tilo jung nicht der einzige blinde fleck ist.
* * *
[anmerkung]
am absatz über die absetzung von jens schröders datensport-format habe ich nachträglich etwas rumeditiert: einerseits hatte ich alexander von streit mit sebastian esser verwechselt, jens schröder wurde nicht rausgeschmissen, sondern nur sein datensport-format wurde eingestellt und den satz nach dem zitat habe ich hinzugefügt.