Gesucht: Die Prokrastionationalmannschaft

Sascha Lobo

Pro­kras­ti­na­ti­on ist ein häss­li­ches Wort für eine schö­ne Tä­tig­keit oder viel­mehr Nicht­tä­tig­keit, denn Pro­kras­ti­na­ti­on be­deu­tet Auf­schie­ben. Pro­kras­ti­nie­ren ist ein ge­sell­schaft­li­ches Phä­no­men, das in an­de­ren Län­dern oft dis­ku­tiert wird - in Deutsch­land ist das The­ma me­di­al un­ter­re­prä­sen­tiert (2 deut­sche Goog­le-News-Tref­fer vs. 379 ame­ri­ka­ni­sche. Stand 17. De­zem­ber). Da­bei kennt je­der Pro­kras­ti­na­ti­on, der am Bild­schirm tä­tig ist: wer kann schon an­fan­gen zu ar­bei­ten, be­vor die liebs­ten 26 Blogs, die wich­tigs­ten fünf Com­mu­ni­ties und So­cial Net­works, die drei In­stant Mes­sa­ger und Chats plus Twit­ter-Pos­tings der letz­ten vier Stun­den, SpOn, hei­se, die vier Mail­ac­counts, die da­zu­ge­hö­ri­gen acht Spam­ord­ner, die zwei aus den 90er Jah­ren im In­ter­es­sen­port­fo­lio üb­rig­ge­blie­be­nen Boards, das knap­pe Dut­zend News-Alerts, Tech­no­ra­ti & Goog­le Blogse­arch und drei oder vier So­cial Book­mark Diens­te durch­ge­se­hen, ana­ly­siert, aus­ge­wer­tet und ge­ge­be­nen­falls mit so­fort not­wen­di­gen Re­ak­tio­nen ver­se­hen wor­den sind?

Wenn Pro­kras­ti­na­ti­on in deut­schen Me­di­en be­han­delt wird, dann fast aus­schliess­lich im stu­den­ti­schen Kon­text, da­bei sind in west­li­chen Ge­sell­schaf­ten min­des­tens 20% al­ler Men­schen pro­kras­ti­na­ti­ons­er­fah­ren. Aus­ser­dem wer­den im­mer die sel­ben drei Fach­leu­te be­fragt, die dann „dra­ma­ti­sche Ar­beits­stö­rung“ oder „angst­ge­steu­er­te Fehl­funk­ti­on“ mur­meln und als Ge­gen­mit­tel ToDo-Lis­ten, Selbst­dis­zi­plin und ToDo-Lis­ten emp­feh­len.

Das ist na­tür­lich Quatsch. In Wirk­lich­keit ist Pro­kras­ti­na­ti­on in den meis­ten Fäl­len eine gute, rich­ti­ge und na­tür­li­che Re­ak­ti­on, die uns hilft, Pro­ble­me zu er­ken­nen und das Le­ben bes­ser zu meis­tern. Man muss nur ler­nen, rich­tig mit ihr um­zu­ge­hen, dann wird Pro­kras­ti­na­ti­on zu ei­nem schnur­ren­den Kätz­chen, das ei­nem den All­tag ver­süsst und stets in Ku­schell­au­ne ist. Das hört sich jetzt nach ei­ner stei­len The­se an. Weil es näm­lich eine stei­le The­se ist. Es han­delt sich aber um eine der zen­tra­len Aus­sa­gen un­se­res neu­en Bu­ches. Un­se­res? Ja, ich schrei­be ge­mein­sam mit Kath­rin Pas­sig (Li­te­ra­tur­no­bel­preis 2006, „Le­xi­kon des Un­wir­schen“) ein Buch, das 2008 bei Ro­wohlt er­schei­nen wird. Der Un­ter­ti­tel steht schon fest: „Wie man Din­ge ge­re­gelt kriegt ohne ei­nen Fun­ken Selbst­dis­zi­plin“. (vergl. Vor­trag vom 9to5-Fes­ti­val, mp3).

Zwar gibt es be­reits ei­nen gros­sen Hau­fen Bü­cher zu die­sem und an­gren­zen­den The­men­fel­dern, von „Sim­pli­fy Your Life“ („statt Kaf­fee ein­fach war­mes Was­ser trin­ken!“) bis zum gen­re­prä­gen­den Stan­dard­werk „Get­ting Things Done“ („Selbst­dis­zi­plin spie­lend leicht er­ler­nen un­ter Zu­hil­fe­nah­me von, ähm, Selbst­dis­zi­plin“). Die meis­ten von ih­nen gei­zen we­der mit Rat­schlä­gen noch mit Vor­wür­fen. So ma­chen sie sich mit dem Um­feld des ge­üb­ten Pro­kras­ti­nie­ren­den ge­mein, das „Gib dir doch ein­fach mehr Mühe“ für ei­nen ernst­zu­neh­men­den Rat­schlag hält. Da­bei äh­nelt der Ein­satz von Selbst­dis­zi­plin und Zeit­ma­nage­ment­tools für uns Pro­kras­tis dem Ver­such, ei­nem Hund die Flö­he weg­zu­dres­sie­ren.

Es liegt auf der Hand, dass ein sol­ches Buch von bun­ten Bei­spie­len und Fall­stu­di­en lebt. Aber wäh­rend sonst im­mer über be­mit­lei­dens­wer­te Ge­stal­ten be­rich­tet wird, die 24 Jah­re für ihre Di­plom­ar­beit brau­chen und wäh­rend die­ser Zeit ein Cre­scen­do der Sui­zid­ge­fähr­dung er­lei­den, wol­len wir eher an­de­re Ge­schich­ten. Wir wol­len von Men­schen hö­ren, die trotz Pro­kras­ti­na­ti­on ei­ni­ger­mas­sen gut zu­recht kom­men und eben nicht Miss­erfolg an Miss­erfolg rei­hen. Wir glau­ben, dass eine vom Be­sit­zer lie­be­voll ge­pfleg­te Pro­kras­ti­na­ti­on eher zum per­sön­li­chen Er­folg bei­trägt - wenn auch manch­mal in an­de­ren Be­rei­chen als er­war­tet. Da­zwi­schen darf na­tür­lich auch mal eine klas­si­sche Ver­sa­ger­sto­ry vor­kom­men, das soll ja nicht tot­ge­schwie­gen wer­den.

Wir wür­den uns freu­en, Eure Pro­kras­ti­na­ti­ons­ge­schich­ten, An­ek­do­ten, Er­fah­run­gen zu le­sen, ob hier in den Kom­men­ta­ren, in Eu­ren Blogs, auf Twit­ter, per SMS, per Mail oder wie auch im­mer. Es be­steht eine gute Chan­ce, dann (nur zi­tiert, nicht im Voll­text) im Buch zu lan­den, wenn man das möch­te. Teil­neh­mer be­kom­men ein Frei­ex­em­plar und wer­den im Ab­spann wohl­wol­lend er­wähnt, aus­ser­dem prägt man das zu­künf­ti­ge Ge­sicht der deut­schen Pro­kras­ti­na­ti­ons­land­schaft mit. Das ist nicht viel, schon klar, aber es fühlt sich nicht schlecht an, wenn man in ei­nem Buch drin­steht, das er­klärt, war­um man ei­gent­lich ein ganz tol­ler Typ ist, ob­wohl man seit sech­zehn Mo­na­ten nicht ge­schafft hat, den Flur zu re­no­vie­ren.

Ach ja: Wir wis­sen, dass ihr viel zu tun habt und des­halb vor­aus­sicht­lich nicht vor Ende 2012 dazu kom­men wer­det, eu­ren Bei­trag ab­zu­schi­cken. Das geht lei­der in die­sem Fall nicht, denn da das Buch mehr oder we­ni­ger ges­tern fer­tig sein muss­te, brau­chen wir eure Bei­trä­ge al­ler-al­ler­spä­tes­tens heu­te*.

* im üb­li­chen Sin­ne von „bis Ende De­zem­ber, dann aber wirk­lich!“