bodo hombach will regulieren

felix schwenzel

bodo hom­bach be­schäf­tigt sich ge­fühl­te 3 jah­re nach­dem das in­ter­net-ma­ni­fest er­schien und ein kol­lek­ti­ves schul­ter­zu­cken aus­lös­te, auch mal mit dem ma­ni­fest und schreibt eine „re­plik“.

im teaser steht:

Essen. „Es gibt keine Systeme, die ohne Regeln funktionieren“, sagt Bodo Hombach, Geschäftsführer der WAZ Mediengruppe, und fordert eine Debatte über Netz-Regularien. „Augen zu und durch“ ist keine Lösung, sagt er - und „Es wird schon alles gut“ erst recht nicht. Eine Replik.

was ge­nau das mit „Es­sen.“ zu tun ha­ben soll, weiss ich nicht, er­in­nert mich aber an eine mei­ner ers­ten ar­chi­tek­tur-vor­le­sun­gen in stutt­gart, als der do­zent am an­fang sei­ner vor­le­sung laut ins mi­kro rülps­te und das mit der sül­ze die er am abend vor­her im spei­se­wa­gen ge­ges­sen hat­te er­klär­te. mei­ne ant­wort auf hom­bachs stei­le the­se:

ham­burg. „es gibt sys­te­me die ohne re­geln funk­tio­nie­ren“, sagt fe­lix schwen­zel, „on­line­com­mu­ni­ty­be­nut­zer“ aus ber­lin und ham­burg und ver­weist auf die letz­ten zwan­zig­tau­send jah­re mensch­heits­ge­schich­te und die phy­sik.

aber mal im ernst, wenn man die be­deu­tung des wor­tes „re­gel“ nach­schlägt, er­fährt man, dass re­geln nor­men, vor­schrif­ten oder ge­setz­mäs­sig­kei­ten sind (wi­ki­pe­dia: „Eine Re­gel ist eine aus be­stimm­ten Re­gel­mä­ßig­kei­ten ab­ge­lei­te­te, aus Er­fah­run­gen und Er­kennt­nis­sen ge­won­ne­ne, in Über­ein­kunft fest­ge­leg­te, für ei­nen be­stimm­ten Be­reich als ver­bind­lich gel­ten­de Richt­li­nie.“). Ich weiss nicht ob es bodo hom­bach über­rascht, aber das gröss­te sys­tem das wir men­schen ken­nen, funk­tio­niert ohne re­geln: das uni­ver­sum un­ter­liegt kei­ner­lei vor­schrif­ten oder über­ein­künf­ten, son­dern aus­schliess­lich den na­tur­ge­set­zen. kei­ne re­gel oder vor­schrift hält die schwer­kraft auf, auch wenn das in vie­len fäl­len wün­schens­wert wäre. auch von men­schen ge­schaf­fe­nen sys­te­me funk­tio­nie­ren ohne re­geln. klar, manch­mal funk­tio­nie­ren sie mit re­geln bes­ser, ge­rech­ter oder men­schen­freund­li­cher, aber sie funk­tio­nie­ren auch ohne re­geln.

der ent­schei­den­de punkt steckt aber tat­säch­lich be­reits in der de­fi­ni­ti­on die ich aus der wi­ki­pe­dia ge­klaubt habe: re­geln wer­den aus er­fah­run­gen und er­kennt­nis­sen ge­won­nen, sie sind über­ein­künf­te und sie wer­den stets nach dem sam­meln von er­fah­run­gen und er­kennt­nis­sen auf­ge­stellt. sys­te­me ohne re­geln sind per de­fi­ni­ti­on selbst­or­ga­ni­siert. gäbe es die­se sys­te­me ohne re­geln nicht, gäbe es auch kei­ne re­geln — oder um es für bodo hom­bach ver­ständ­lich aus­zu­drü­cken: es gab be­reits vor der grün­dung des VDZ BDZV zei­tun­gen und es gab be­reits vor der nie­der­schrift des pres­se­ko­dex qua­li­täts­jour­na­lis­mus.

jetzt habe ich be­reits mit der aus­ein­an­der­set­zung nur ei­nes sat­zes von bodo hom­bach, knapp 400 wör­ter ver­pul­vert. das kann ja lus­tig ein lan­ger ar­ti­kel wer­den, denn der oben zi­tier­te satz ist nicht die ein­zi­ge pseu­do­ar­gu­men­ta­ti­on hom­bachs. statt zu ar­gu­men­tie­ren, pos­tu­liert hom­bach lie­ber: über das in­ter­net wird nicht de­ba­tiert, weil es eine „Ver­drän­gungs­spi­ra­le“ gibt, im ge­gen­satz zu den klas­si­schen me­di­en, sei das in­ter­net von der po­li­tik kaum re­gle­men­tiert, ir­gend­wel­che apos­tel oder leu­te for­dern „un­an­tast­ba­re Frei­heit“ für das in­ter­net und so wei­ter und so fort. mit be­le­gen oder quel­len müht hom­bach sich nicht ab.

hom­bach:

Ein Medium, das massenhaft Opfer produziert, hat seine universelle Freiheit längst aufgegeben. Anarchie führt eben nicht zur herrschaftsfreien Gesellschaft, sondern zur Machtübernahme durch die Rücksichtslosen. Man kann sich fragen, wie man z. B. Kinderpornografie im Internet eindämmt und möglichst verhindert, aber im Sinne der unantastbaren Freiheit gar nichts zu unternehmen, ist die Insolvenzeröffnung des Rechtsstaates, einer verantwortlichen Politik und einer offenen und freien Bürgergesellschaft.

mit dem me­di­um das mas­sen­haft „op­fer“ pro­du­ziert meint hom­bach na­tür­lich nicht etwa die bild­zei­tung, „wild und hund“ oder das feld­te­le­fon, son­dern das in­ter­net. mit „an­ar­chie“ meint er of­fen­bar news­groups, fo­ren, blogs, web­sei­ten, such­ma­schi­nen oder so­zia­le netz­wer­ke die sich welt­weit ge­bil­det ha­ben und dum­mer­wei­se nur in deutschand der deut­schen ju­ris­dik­ti­on un­ter­lie­gen. und wie je­der weiss, sind nur die rück­sichts­lo­sen im in­ter­net er­folg­reich: goog­le, spie­gel on­line, netz­po­li­tik.org, die huf­fing­ton post, ebay, ama­zon. schlim­mer noch ist das bei­spiels­wei­se bei face­book, xing, stu­divz und dem an­archo-netz­werk twit­ter. auch dort sind nur die rück­sichts­lo­ses­ten mit­glie­der an der macht. das al­les muss drin­gend re­gle­men­tiert wer­den, jetzt kommts, weil frei­heit kin­der­por­no­gra­phie er­mög­licht. frei­heit, an­ar­chie, op­fer, rück­sichts­lo­sig­keit, kin­der­por­no­gra­fie. was für eine ar­gu­men­ta­ti­ons­ket­te!

man kann den oben zi­tier­ten hom­bach-satz für ein plä­doy­er für den po­li­zei­staat hal­ten, wenn man den be­griff des „me­di­ums“ und des „in­ter­net“ mal weg­lässt. denn kin­der­por­no­gra­fie und kin­des­miss­brauch ent­steht nun­mal vor al­lem im fa­mi­li­en­um­feld (in der rea­li­tät und nicht im in­ter­net). und trotz­dem: un­ser li­be­ra­les rechts­sys­tem schafft frei­räu­me in de­nen sol­ches un­recht mög­lich ist. der staat über­lässt der fa­mi­lie, der pri­vat­s­sphä­re, dem ein­zel­nen men­schen be­stimm­te un­an­tast­ba­re frei­hei­ten. das we­sen der frei­heit ist, dass sie po­ten­zi­ell miss­ba­rucht wer­den kann. er­staun­li­cher­wei­se nennt hom­bach die­se un­an­tast­bar­keit der fa­mi­lie und der pri­vat­s­s­hä­re nicht „die In­sol­venz­er­öff­nung des Rechts­staa­tes“ — ob­wohl ge­ra­de die­se frei­heit mit­un­ter un­fass­ba­re ver­bre­chen mög­lich macht. die in­sol­venz­er­öff­nung des rechts­staats sieht er nur im in­ter­net. im in­ter­net for­dert er ein­grif­fe in ele­men­ta­re bür­ger­rech­te (oder de­bat­ten dar­über) — zum schutz der kin­der und der ur­he­ber.

das grund­sätz­li­che pro­blem von re­geln ist, dass man sie zwar auf­stel­len kann, aber ihre ein­hal­tung manch­mal nicht durch­set­zen kann, ohne an­de­re re­geln zu ver­let­zen. beim ur­he­ber­recht ist das ziem­lich plas­tisch sicht­bar. laut hom­bach wür­den ur­he­ber­rech­te im in­ter­net „plötz­lich“ nicht mehr gel­ten, weil man sie ja mas­sen­haft ver­let­zen kön­ne. die fra­ge ist, wol­len wir um ur­her­ber­rech­te zu schüt­zen, re­geln auf­stel­len und durch­set­zen die be­stimm­te bür­ger­rech­te auf­wei­chen oder ab­schaf­fen? wol­len wir pri­vat­wirt­schaft­li­che in­ter­es­sen, also ge­schäfts­mo­del­le, über bür­ger­rech­te stel­len? don dah­l­mann hat das di­lem­ma auf­schluss­reich be­schrie­ben.

um es kurz zu ma­chen: hom­bach hat na­tür­lich recht, auch das in­ter­net braucht re­geln, die ge­sell­schaft muss sich wei­ter­hin fra­gen, wie sie ihr zu­sam­men­le­ben ge­stal­ten will. was hom­bach aber über­sieht, ist dass sich die­se re­geln längst eta­bliert ha­ben und wei­ter eta­blie­ren wer­den. es ha­ben sich in de­mo­kra­ti­schen (nicht an­ar­chi­schen) pro­zes­sen er­fah­run­gen und er­kennt­nis­se her­aus­ge­bil­det aus de­nen über­ein­künf­te und re­geln er­wach­sen sind. die­se re­geln schme­cken hom­bach nicht, des­halb igno­riert oder ver­teu­felt er sie. hom­bach:

Jede Gesellschaft steht vor der Frage, welche Gesellschaft sie haben will. In der Demokratie geht alle Macht vom Volke aus. Warum also sollten wir nicht darüber diskutieren dürfen, nach welchen Regeln wir das Spiel spielen wollen. Wir wollen es nämlich nicht in jedem Fall verlieren.

wür­de hom­bach zu­ge­ben, dass sich im in­ter­net ganz gut funk­tio­nie­ren­de regeln eta­bliert ha­ben, die teil­wei­se nicht ganz den klas­si­chen re­geln ent­spre­chen, könn­te er sich nicht aufs „volk“ be­ru­fen und hof­fen, dass es sein spiel spielt und für ihn ge­winnt. er müss­te zu­ge­ben, dass sich das volk (oder gros­se tei­le da­von) be­reits über­legt hat, wel­che ge­sell­schaft es ha­ben will. dum­mer­wei­se hat das volk nicht im­mer die in­te­re­es­sen oder die ge­schäfts­mo­del­le der zei­tungs­ver­le­ger, der un­ter­hal­tungs­in­dus­trie, des fi­nanz­mi­nis­te­ri­ums oder der po­li­zei­be­hör­den im sinn, wenn es sich über­legt in wel­cher ge­sell­schaft es le­ben will.

des­halb, aber auch aus ein paar an­de­ren grün­den, ist die re­plik von bodo hom­bach auf das in­ter­net-ma­ni­fest, in­ter­es­sen­ge­trie­ben und schein­hei­lig und da­mit noch klein­geis­ti­ger und halb­ga­rer als das ma­ni­fest selbst. ab­ge­se­hen von sei­ner in­ter­es­sen­ge­trie­be­nen schein­hei­lig­keit, hat bodo hom­bach na­tür­lich recht.