netz ohne gesetz?

felix schwenzel

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die ak­tu­el­le ti­tel­ge­schich­te des spie­gel, die pos­tu­liert, dass das in­ter­net „neue re­geln“ bräuch­te, liest sich ziem­lich ver­wir­rend. stre­cken­wei­se liest sich die be­stands­auf­nah­me zum sta­tus quo im in­ter­net recht dif­fe­ren­ziert, es wer­den ex­per­ten und bei­spie­le zi­tiert die zei­gen sol­len, dass das in­ter­net kei­nes­wegs ein „rechts­frei­er raum“ sei, dann wer­den wie­der die schlimms­ten hor­ror­ge­schich­ten aus­ge­gra­ben, die dann doch die an­geb­li­che rechts­frei­heit und das cha­os im in­ter­net be­le­gen sol­len:

So ist das In­ter­net zwar die größ­te Be­frei­ung des Geis­tes seit der Er­fin­dung der Buch­dru­cker­kunst, aber zu­gleich ein Mas­sen­spei­cher für alle Übel, die Men­schen sich aus­den­ken, vom schlich­ten Schmutz bis zu den schlimms­ten Aus­wüch­sen der Phan­ta­sie. Es ist ein Be­schleu­ni­ger für In­no­va­tio­nen, aber eben auch für kri­mi­nel­le En­er­gien, vom Trick­be­trug mit der er­fun­de­nen Ge­schich­te ei­ner ni­ge­ria­ni­schen Dik­ta­to­ren­wit­we, die drin­gend ein Kon­to braucht, auf das sie ein paar Mil­lio­nen Euro über­wei­sen kann, bis zu den här­tes­ten For­men der Or­ga­ni­sier­ten Kri­mi­na­li­tät.

Der so­ge­nann­te Kan­ni­ba­le von Ro­ten­burg fand sein Op­fer in ei­nem In­ter­net­fo­rum. Es gibt Selbst­mord­treffs, Fol­ter- und Snuff­vi­de­os zu­hauf, es gibt Amok­fo­ren, An­lei­tun­gen zum Mi­xen von Me­di­ka­men­ten- und Dro­gen­cock­tails und na­tür­lich Bom­ben­bas­tel­sei­ten. So­wohl die so­ge­nann­ten Kof­fer­bom­ber als auch die Sau­er­land­grup­pe hat­ten die In­struk­tio­nen für ihre Höl­len­ma­schi­nen aus dem In­ter­net.

dass es all die­se men­scheits­übel, be­trug, mord, selbst­mord, bom­ben, dro­gen und me­di­ka­men­ten­miss­brauch auch schon vor dem in­ter­net gab, muss man als spie­gel-au­tor nicht ex­tra be­to­nen, klar. trotz­dem fra­ge ich mich manch­mal, war­um sich das in­ter­net von ei­ner durch­schnitt­li­chen deut­schen gross­stadt oder bou­le­vard-zei­tung un­ter­schei­den soll­te?

über sei­ten hin­weg sam­meln die fünf au­toren in­di­zi­en, um die recht- und re­gel­lo­sig­keit des in­ter­nets hoch­zu­sti­li­sie­ren. po­si­ti­ves wird nur am ran­de er­wähnt und gar nicht erst in er­wä­gung ge­zo­gen:

Tat­säch­lich war es noch nie so ein­fach, vor welt­wei­tem Pu­bli­kum sei­ne Mei­nung über Ein­zel­per­so­nen oder Un­ter­neh­men zu ver­brei­ten, ganz gleich, wie be­grün­det oder wie halt­los bis heim­tü­ckisch sie ist.

dass mei­nun­gen nicht im­mer heim­tü­ckisch sein müs­sen, scheint den au­toren im zu­sam­men­hang mit dem in­ter­net wohl halt­los. nach die­sem satz fol­gen meh­re­re ab­sät­ze mit ne­ga­tiv­bei­spie­len. man hat den ein­druck, dass die spie­gel-au­toren mit­leid mit fir­men emp­fin­den, die sich mit kri­tik aus­ein­an­der­set­zen müs­sen und sich plötz­lich „um das An­se­hen ih­rer Häu­ser und Füh­rungs­kräf­te“ sor­gen. da will man noch nicht­mal ein zi­tat der jus­tizm­i­ni­te­rin un­kom­men­tiert ste­hen ge­las­sen, die meint, dass die recht­la­ge doch „glas­klar“ sei: „Was off­line ver­bo­ten ist, ist on­line eben­so ver­bo­ten.“ das möge so sein, nör­geln die spie­gel-au­toren, doch am voll­zug man­ge­le es wohl. da könn­ten sie ja mal bei jens wein­reich nach­fra­gen, wie man­gel­haft der voll­zug ist.

schlimm und skan­da­lös fin­det der spie­gel auch, dass der ur­he­ber ei­nes hass­vi­deo ge­gen ei­nen baye­ri­schen la­tein­leh­rer nie ge­fun­den wer­den konn­te. nur ob das wirk­lich et­was mit dem in­ter­net zu tun ha­ben muss oder viel­leicht der man­gel­haf­ten welt in der wir le­ben (oder gar schlech­ter po­li­zei­ar­beit), kommt den be­sorg­ten au­toren nicht in den sinn. ich er­in­ner mich zum bei­spiel dar­an, dass die schü­ler die ei­nem leh­rer an mei­ner schu­le hun­de­scheis­se auf die win­schutz­schei­be und die lüf­tung schmier­ten eben­so wie die, die den vor­gar­ten des di­rek­tors ver­wüs­te­ten und sein haus mit klo­pa­i­er schmück­ten, nicht iden­ti­fi­ziert wer­den konn­ten.

spä­ter fan­gen die spie­gel-au­toren sich im glo­ba­len mas­stab zu sor­gen und ru­fen nach ei­ner glo­ba­len kon­troll­in­stanz. und ganz grund­sätz­lich wer­den sie auch, nach gross­vä­ter-art wird sehn­suchts­voll in die gute alte zeit zu­rück­ge­blickt:

Tat­säch­lich war es ja der ex­klu­si­ve Ho­heits­an­spruch, der einst den Fort­schritt der Neu­zeit ein­ge­lei­tet hat. Sei­ne Er­fin­dung mit der Ver­kün­dung des ewi­gen Land­frie­dens im Hei­li­gen Rö­mi­schen Reich Deut­scher Na­ti­on und der Grün­dung des Reichs­kam­mer­ge­richts 1495 folg­te kurz auf die Ent­wick­lung der be­weg­li­chen Let­tern durch Jo­han­nes Gu­ten­berg. So en­de­te durch staat­lich ga­ran­tier­tes Recht und geis­ti­ge Auf­klä­rung das dunk­le Zeit­al­ter, in dem pri­va­te Mäch­te, Kir­chen­fürs­ten, Aber­glau­be re­gier­ten.

Der di­gi­ta­le Fort­schritt könn­te nun die zi­vi­li­sier­te Welt in die Zeit der Selbst­jus­tiz, des Faust­rechts zu­rück­füh­ren. Der Staat, will er über­haupt noch ernst ge­nom­men wer­den, muss sich, de­mü­ti­gend ge­nug, mit den selbst­herr­li­chen Lehns­her­ren des Cy­ber­space, den Goo­gles und Face­books, den Pro­vi­dern und der Lob­by der IT-In­dus­trie ge­mein­ma­chen.

auf­klä­rung, frei­er, un­kon­trol­lier­ba­rer wis­sens- und in­for­ma­ti­ons­aus­tausch wa­ren 1495 ein se­gen und jetzt, 2009, sind sie ein pro­blem?

in der ak­tu­el­len GEO las ich in „die re­vo­lu­ti­on des le­sens“ von ja­han­na romm­berg fol­gen­des:

[Horst Wen­zel] ent­deckt da­bei im­mer wie­der er­staun­li­che Par­al­le­len zwi­schen his­to­ri­schen Um­brü­chen und den Me­di­en­dis­kus­sio­nen der Ge­gen­wart.

Wenn et­was bahn­bre­chend Neu­es in die Welt kommt, sagt er, dann geht im­mer auch et­was ver­lo­ren. Und die Ver­lus­te sind für die Zeit­ge­nos­sen oft stär­ker spür­bar als die Ge­win­ne.

Als der Buch­druck auf­kam, er­hob sich eine Viel­zahl von Kla­gen: Das neue Me­di­um be­wahrt kei­ne Ge­him­nis­se! Es macht die Schrei­ber ar­beits­los! Es ver­fälscht die Wer­ke der al­ten Dich­ter und Phi­lo­so­phen durch schlud­ri­ge Raub­dru­cke! Am schlimms­ten aber sei, dass es jede Mei­nung un­ge­prüft ver­brei­te, „al­leyn uff ge­wynn und groß be­schisß“, so­dass die Leu­te am Ende den „bu­ren“ mehr glau­ben als den „gler­ten“. So schimpf­te, um 1500, der Dich­ter Se­bas­ti­an Brant.

ge­nau sol­che ar­ti­kel sind der grund, war­um ich ie­ber die dif­fe­ren­zier­te, un­auf­ge­reg­te GEO lese, als den stets leicht hys­te­ri­schen und bi­got­ten spie­gel.

am meis­ten aber är­ge­re ich mich dar­über, dass ich den spie­gel im­mer noch ernst neh­me und mit­un­ter so­gar geld da­für zah­le ihn zu le­sen.

[nach­trag 0:45h]
mar­kus be­cke­dahl hat die ge­schich­te auch schon ge­le­sen und meint:

Der Ti­tel “Netz ohne Ge­setz - War­um das In­ter­net neue Re­geln braucht” ist wie­der ge­wohnt reis­se­risch und spielt mit dem be­lieb­ten Vor­ur­teil, dass das In­ter­net ein rechts­frei­er Raum ist. […]

Als Spie­gel-Abo-Be­sit­zer konn­te ich mir prak­ti­scher­wei­se ge­ra­de schon die Sto­ry durch­le­sen. Die Kurz-Kri­tik nach dem le­sen von 57680 Zei­chen: Die Sto­ry ist bes­ser als der Ti­tel ver­spricht. Es wer­den vie­le rich­ti­ge Fra­gen ge­stellt und Pro­ble­me be­schrie­ben, auch wenn ich nicht alle Schluß­fol­ge­run­gen tei­le.

[nach­trag 12:30h]
alex­an­der svens­son über die „bi­za­re“ schluss­poin­te im spie­gel-ti­tel:

Die Spie­gel-Ti­tel­sto­ry „Netz ohne Ge­setz – war­um das In­ter­net neue Re­geln braucht“ ist er­freu­lich dif­fe­ren­ziert, nennt un­ge­lös­te Pro­ble­me und stellt vor al­lem vie­le Fra­gen. Völ­lig über­ra­schend und bi­zarr ist al­ler­dings die Schluss­poin­te: Auf der letz­ten Sei­te brin­gen die fünf Au­toren ICANN ins Spiel, die In­ter­net Cor­po­ra­ti­on for As­si­gned Names and Num­bers, und kon­stru­ie­ren sie zum po­ten­zi­el­len Heils­brin­ger um. Ich dach­te, wir hät­ten die­se Zei­ten hin­ter uns. (wei­ter­le­sen bei wort­feld.de)

[nach­trag 10.08.2009]
nachem ich die spie­gel-ti­tel­ge­schich­te zwei tage re­flek­tie­ren konn­te, ist mir auf­ge­gan­gen, wie af­fek­tiert und gross­kot­zig sie stel­len­wei­se ist. ei­ner­seits ist die ana­ly­se über wei­te stre­cken ge­nau und dif­fe­ren­ziert, an­de­rer­seits sind die schluss­fol­ge­run­gen und der te­nor wahn­wit­zig. das fiel mir al­ler­dings erst dann in al­ler deut­lich­keit auf, nach­dem ich die­sen ar­ti­kel von chris­ti­an stö­cker von spie­gel on­line las (via netz­po­li­tik). der ar­ti­kel ist nicht nur dif­fe­ren­ziert, son­dern auch noch klug — ohne die af­fek­tier­te, auf­ge­ba­se­ne spra­che und an­sprü­che des (ge­druck­ten) spie­gels. die fra­ge bleibt, war­um las­sen die nicht ein­fach stö­cker die ti­tel­ge­schich­te schrei­ben?

[nach­trag 12.08.2009 16:54]
burk­hard schrö­der hat den spie­gel-ar­ti­kel schön aus­ein­an­der­ge­nom­men. te­nor (ge­rich­tet an die au­toren): „Ist bei Euch noch al­les ganz rich­tig im Ober­stüb­chen?“

[nach­trag 12.08.2009 21:05]
fünf tage nach der (vor-)ver­öf­fent­li­chung des spie­gel-ti­tels schreibt auch ste­fan nig­ge­mei­er (sehr le­sens­wert) drü­ber:

Die The­se des Auf­ma­chers lau­tet etwa: „Das In­ter­net ist kein rechts­frei­er Raum, kann aber leicht mit ei­nem ver­wech­selt wer­den”, mög­li­cher­wei­se aber auch: „Das In­ter­net ist ein rechts­frei­er Raum, müss­te das aber nicht blei­ben”, ganz ge­nau ist das nicht aus­zu­ma­chen. Das Stück ent­stammt dem be­lieb­ten „Spie­gel”-Mul­ti-Au­toren-Gen­re, in dem das Haupt­ziel ist, so vie­le Na­men, Zi­ta­te und Fak­ten­fet­zen wie mög­lich in ei­nem Text un­ter­zu­brin­gen, die dann not­dürf­tig mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den. (wei­ter­le­sen)