piraten-träume

felix schwenzel

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ich fand john­nys „en­dor­se­ment“ für die pi­ra­ten sehr über­zeu­gend. (mir fällt kein gu­tes deut­sches wort für das „en­dor­se­ment“ ein. „un­ter­stüt­zung“ oder „wahl­emp­feh­lung“ ist ein biss­chen schwach und be­schreibt das was john­ny, qua­si in an­gel­säch­si­scher jour­na­lis­ti­scher tra­di­ti­on ge­tan hat, nur an­satz­wei­se.) hin­zu kommt, dass ich, wäre ber­lin noch mein ers­ter wohn­sitz (ber­lin ist nur noch mein zwei­ter wohn­sitz, ix wäh­le in ham­burg), auch pi­ra­ten wäh­len wür­de.

als mich vor ein paar ta­gen eine kol­le­gin frag­te, was ich denn wäh­len wür­de zö­ger­te ich noch ein biss­chen, sag­te dann aber auch pi­ra­ten. die kol­le­gin hat sich das wahl­pro­gramm der pi­ra­ten durch­ge­le­sen und kam zu ei­nem an­de­ren er­geb­nis. näm­lich, dass das wahl­pro­gramm der pi­ra­ten „völ­lig rea­li­täts­fremd“ sei und das die pi­ra­ten jetzt mög­li­cher­wei­se eine rol­le ein­näh­men, „wel­che die Grü­nen tra­di­tio­nell auf Bun­des­ebe­ne hat­ten: Ein gu­tes, in­spi­ra­ti­ves Ge­gen­ge­wicht zu den eta­blier­ten Par­tei­en zu sein.“ ob das al­ler­dings die pi­ra­ten wähl­bar macht, fand die kol­le­gin, sei eine an­de­re fra­ge.

ich glaub es geht bei wah­len pri­mär auch nicht um par­tei­pro­gram­me. wel­ches par­tei­pro­gramm wur­de in den letz­ten 50 jah­ren denn so um­ge­setzt wie es auf dem par­tei­pro­gramm­pa­pier stand? ich wage mal ohne wei­te­re re­cher­che zu be­haup­ten: kei­nes. bei wah­len geht es den meis­ten wäh­lern mei­ner mei­nung um zwei din­ge: ver­trau­en aus­zu­spre­chen und eine rich­tung vor­zu­ge­ben. wer par­tei­pro­gram­me um­set­zen will wählt nicht nur, son­dern en­ga­giert sich in ei­ner par­tei. wer wählt weiss sehr wohl (aus er­fah­rung), dass par­tei­pro­gram­me nichts an­de­res als gro­be rich­tungs­vor­ga­ben sind.

das mit dem ver­trau­en ha­ben die vier eta­blier­ten par­tei­en ziem­lich ver­bockt. die par­tei die im par­tei­pro­gramm so­was wie nie wie­der krieg ste­hen hat­te, zog un­ter schrö­der in di­ver­se krie­ge. die SPD scheisst aus prin­zip auf ihre prin­zi­pi­en und wahl­pro­gram­me so­lan­ge es op­por­tun er­scheint und stimmt, wenns sein muss, auch ge­schlos­sen für ge­set­ze die sie für ver­fas­sungs­wid­rig hält. eher als der CDU ver­traue ich wahr­schein­lich der bild-zei­tung, also wahr­schein­lich nie und die FDP ist in je­der hin­sicht in­dis­ku­ta­bel.

oder um es an­ders aus­zu­drü­cken, ver­trau­en schen­ke ich ei­ner par­tei nicht we­gen ih­res wahl­pro­gramms, son­dern we­gen dem was sie tut, was sie un­ter­lässt und wie sie agiert. nicht an den wor­ten, son­dern an den ta­ten soll­te man par­tei­en mes­sen. in­so­fern fällt es mir der­zeit schwer über­haupt ei­ner par­tei ver­trau­en zu schen­ken.

was mir bei der SPD fehlt, habe ich kürz­lich auf­ge­schrie­ben. un­ter an­de­rem sag­te ich

ich glaube politik ist der entertainment-industrie gar nicht mal so unähnlich. man kann das publikum nicht bitten witze einzureichen und die dann die publikumswitze auf der bühne vortragen. die witze muss man schon selbst mitbringen. und damit jemand lacht, muss man auch ein bisschen könnerschaft mitbringen und eigensinn.

die­ser satz brach­te mir har­sche kri­tik von mar­tin oet­ting ein, teil­wei­se zu recht. denn na­tür­lich kann man sich nicht stän­dig hin­stel­len und mit dem fin­ger auf an­de­re zei­gen, über de­ren schlech­te per­for­mance me­ckern aber selbst kei­ne vor­stel­lung da­von zu ha­ben, wie es bes­ser wer­den könn­te. und na­tür­lich reicht die pu­bli­kums­rol­le nicht, man soll­te sich eben auch en­ga­gie­ren und mit­ge­stal­ten. trotz­dem be­schreibt der ab­satz oben ein mul­mi­ges ge­fühlt das ich seit ei­ner wei­le mit mir rum­schlep­pe. näm­lich dass der SPD den par­tei­en die gros­sen zie­le, die gros­sen ideen feh­len. viel­leicht feh­len die gros­sen zie­le und ideen auch uns al­len.

na­tür­lich be­steht po­li­tik zum gros­sen teil aus in­ter­es­sens­aus­gleich und kom­pro­mis­sen und ge­ra­de deutsch­land hat mehr­fach er­fah­ren, dass die um­set­zung gros­ser ideen, nicht im­mer zu ei­ner bes­se­ren ge­sell­schafts­or­dung füh­ren. trotz­dem ha­ben ei­ni­ge gros­se ideen und po­li­ti­sche leit­li­ni­en viel gu­tes be­wirkt: die ent­span­nungs­po­li­tik der SPD in der zeit des kal­ten krie­ges, der zu schau ge­tra­ge­ne fast krank­haft be­schei­de­ne und mega-nor­ma­le le­bens­til von hel­mut schmidt in sei­ner zeit als kanz­ler, die anti-atom­krafthal­tung der grü­nen, der wil­le zur eu­ro­päi­schen ein­heit der CDU.

mir feh­len zur zeit ideen die­ser art. mir kommt es in den letz­ten jah­ren vor, als ob po­li­tik sich mit nichts an­de­rem be­schäf­tigt, als lö­cher zu stop­fen. hin­ter den re­for­men der letz­ten 20 jah­re stan­den we­ni­ger gros­sen ideen, son­dern kri­sen die ge­löst wer­den muss­ten. kri­sen schei­nen die po­li­tik zu trei­ben, nicht ideen.

mög­li­cher­wei­se über­se­he ich die gros­sen ideen oder die po­li­tik ist un­fä­hig sie mir zu ver­mit­teln — oder die gros­sen ideen sind uns tat­säch­lich aus­ge­gan­gen.

der as­tro­phy­si­ker neil de­gras­se ty­son sag­te kürz­lich, wir hät­ten auf­ge­hört zu träu­men. in ei­ner talk­show sag­te er:

First of all, let's clarify what the NASA budget is. Do you realize that the $850 billion dollar bailout, that sum of money is greater than the entire 50-year running budget of NASA?

And so when someone says, "We don't have enough money for this space probe," I'm asking, no, it's not that you don't have enough money, it's that the distribution of money that you're spending is warped in some way that you are removing the only thing that gives people something to dream about tomorrow.

You remember the 60s and 70s. You didn't have to go more than a week before there's an article in Life magazine, "The Home of Tomorrow," "The City of Tomorrow," "Transportation of Tomorrow". All of that ended in the 1970s. After we stopped going to the Moon, it all ended. We stopped dreaming.

And so I worry that the decision that Congress makes doesn't factor in the consequences of those decisions on tomorrow. Tomorrow's gone. They're playing for the quarterly report, they're playing for the next election cycle, and that is mortgaging the actual future of this nation, and the rest of the world is going to pass us by.

kei­ner sagt mehr „no fu­ture“, aber eben­so denkt auch kei­ner mehr an mor­gen. das mor­gen ist aus der zu­kunft ver­schwun­den. für po­li­ti­ker ist die zu­kunft auf vier oder fünf jah­re be­schränkt, dann ist wie­der wahl.

und weil die pi­ra­ten „völ­lig rea­li­täts­fremd“ zu träu­men wa­gen und ideen for­mu­lie­ren zu wa­gen, von de­nen wir heu­te noch nicht wis­sen ob und wie sie um­setz­bar sind, die­se ideen aber in eine rich­tung zei­gen die mir zu­sagt, weil man nach dem le­sen des pi­ra­ten-par­tei­pro­gramms „ro­man­tisch“ wer­den könn­te, des­halb wür­de ich am sonn­tag pi­ra­ten wäh­len.

und ab­ge­se­hen da­von: wenn wir wie­der mehr zu träu­men wa­gen, könn­te das mit dem po­li­ti­schen en­ga­ge­ment auch wie­der funk­tio­nie­ren.

und was ist „ber­lin ver­ste­hen“ bit­te für eine idee?