ne­le

felix schwenzel

ko­misch.
es wäre mir irre pein­lich wenn je­mand hin­ter mir stün­de und das was hier, wei­ter un­ten, steht le­sen wür­de. oder je­mand bei mir auf dem schreib­tisch nen aus­druck da­von fin­den und le­sen wür­de. es ge­hört in ein ta­ge­buch mit mäd­chen-schlöss­chen dran. und trotz­dem blog­ge ich die­sen vor ei­ni­gen mo­na­ten ge­schrie­be­nen text, aus — wie ich fin­de — ge­ge­be­nem an­lass. pein­lich. das ist ja wie im ta­ge­buch hier...


mei­ne ers­te gros­se lie­be war nele. nele war die toch­ter ei­nes kol­le­gen mei­nes va­ters und wohn­te ir­gend­wann, nach­dem ich mit mei­nen el­tern mal wie­der um­ge­zo­gen war, ne­ben­an. mei­ne el­tern hat­ten ih­ren el­tern wohl mal von mei­ner be­ein­dru­cken­den „lus­ti­ge ta­schen­bü­cher“ samm­lung er­zählt. sie kam dann öf­ter vor­bei um sich wel­che aus­zu­lei­hen. trotz der lus­ti­gen ta­schen­bü­cher ver­lo­ren wir uns bald wie­der aus den au­gen. ich war da­mals aus ver­schie­de­nen grün­den ziem­lich stark in mei­nen so­zia­len fä­hig­kei­ten ein­ge­schränkt. wohl auch ein fak­tor der un­se­re be­zie­hung an­fangs gar nicht erst auf­kom­men liess.

erst mei­ne freund­schaft zum pöh­ler än­der­te das ein we­nig. pöh­ler war ne coo­le sau. gut­aus­se­hend, er­folg­reich bei den mäd­chen, im be­sitz ei­nes mo­fas. vie­le nann­ten ihn da­mals „po­pel“, die meis­ten aber ein­fach beim nach­na­men, pöh­ler. kei­ne ah­nung wie wir uns ken­nen­lern­ten, aber nach­dem wir uns ken­nen­ge­lernt hat­ten wa­ren wir un­zer­trenn­lich. wir mach­ten ir­gend­wann al­les ge­mein­sam und der re­spekt der pöh­ler ent­ge­gen­ge­bracht wur­de, färb­te auch auf mich ab. plötz­lich lern­te ich leu­te ken­nen die cool wa­ren und auch mich auch ernst nah­men.

der pöh­ler hat­te da­mals meh­re­re frau­en am start. sei­ne gros­se lie­be war aber na­ta­scha. ein irre at­trak­ti­ves, dun­kel­haa­ri­ges, fein­glied­ri­ges mäd­chen. er war jah­re­lang hin­ter ihr her. viel­leicht lief da auch mal was, aber nie so rich­tig. durch den pöh­ler lern­te ich auch nele wie­der ken­nen, dies­mal wa­ren die lus­ti­gen ta­schen­bü­cher kein the­ma. wir mach­ten das was 15/16 jäh­ri­ge halt so zu­sam­men mach­ten. mu­sik hö­ren, mit jul­chen, ne­les hund, spa­zie­ren ge­hen, eis es­sen, rum­hän­gen, stark par­fü­mier­ten tee trin­ken, auf den fried­hof ge­hen, zi­gar­ren von ne­les va­ter rau­chen, mit al­ko­hol ex­pe­ri­men­tie­ren. noch wäh­rend pöh­ler hin­ter na­ta­scha her war, ver­knalll­te sich nele in den pöh­ler. ich in nele. klas­si­sche doo­fe si­tua­ti­on.

foto von drei jungen menschen, offensichtlich aus den achtzigern, links steht nele in einem leuchtend roten mantel, in der mitte sitzt „der pöhler“ in sportklamotten, rechts sitzte ich, felix
nele, pöh­ler, ix

trotz­dem, wenn ich bloss wüss­te war­um, viel­leicht aus mit­leid, nahm sich nele ei­nes ta­ges ein herz und küss­te mich. aus blau­em him­mel und ganz feucht. mein ers­ter zun­gen­kuss. ich war glück­lich für ei­nen tag. denn am nächs­ten tag schlug ne­les herz wie­der für den pöh­ler, der zwar noch mit na­ta­scha be­schäf­tigt war, aber nele hat­te ge­duld. und sie hat­te ihre ent­schei­dung ge­trof­fen. ich bin klas­sisch mit der si­tua­ti­on um­ge­gan­gen, wie jungs das halt ma­chen; nele war von ei­nem tag auf den an­de­ren 'ne blö­de fot­ze und bei mir und al­len mei­nen freun­den un­ten durch. wir, pöh­ler und ich, rie­fen ihr, wenn sie mit jul­chen an uns vor­bei spa­zie­ren ging, be­schimp­fun­gen hin­ter­her, schrie­en pet­zig „nele sti­cher­ling raucht heim­lich, nee­lee raaau­aaaucht!“, und er­klär­ten sie zur per­so­na non gra­ta. das ging zwei, drei wo­chen so. da­nach war wie­der al­les in ord­nung. viel­leicht hats auch vier wo­chen ge­dau­ert. er­scheint al­les so flies­send in der rück­schau. mein ver­letz­ter stolz war ver­ges­sen und ei­gent­lich war al­les wie­der so wie vor­her. mit dem un­ter­schied, dass ich nicht mehr in nele ver­knalllt war.

ir­gend­wann hat­te der pöh­ler die nase voll von na­ta­scha. zwi­schen ihm und nele ent­wi­ckel­te sich eine jah­re­lan­ge, ex­trem chao­ti­sche be­zie­hung. gros­se lie­be, rie­sen krach, alle paar wo­chen schluss-ma­chen mit an­schlies­sen­der ver­söh­nung — und das jah­re­lang. ich kann mich nicht mehr an die de­tails er­in­nern, aber pöh­ler konn­te we­der treu sein, noch mit ne­les be­din­gungs­lo­ser lie­be um­ge­hen. es knall­te stän­dig. ei­ner­seits blieb ich dick ver­kum­pelt mit pöh­ler, wir fin­gen an ex­zes­si­ver mit al­ko­hol zu ex­pe­ri­men­tie­ren, das nacht­le­ben von aa­chen aus­zu­tes­ten (ganz be­son­ders den dom­kel­ler), mit 16/17 jah­ren ins por­no­ki­no zu ge­hen, ko­mi­sche be­kannt­schaf­ten zu ma­chen und auch mit dope zu ex­pe­ri­men­tie­ren. an­de­rer­seits kam ich nele im­mer nä­her, hör­te mir ge­dul­dig ihr leid mit pöh­ler an, gab ihr hob­by-psy­cho­lo­gi­sche rat­schlä­ge und wur­de so­was wie ihr bes­ter freund.

nele litt wie ein hund un­ter der wech­sel­haf­ten be­zie­hung. ihre ver­korks­te be­zie­hung zu ih­rem va­ter (hob­by-psy­cho­lo­gie! im rück­blick irre pein­lich...) spie­gel­te sich in ih­rer be­zie­hung zum pöh­ler. das gan­ze spek­trum; au­to­agres­si­ves rum­schnip­peln an den un­ter­ar­men, warn­si­gnal-schlaf­ta­blet­ten-schlu­cken-an­dro­hen, ge­wohn­heits-de­pres­si­on. ich ver­such­te im­mer für sie da zu sein und hör­te zu. ver­knallt war ich nicht mehr, viel­leicht ein biss­chen noch, aber ohne ver­lan­gen. eher ra­tio­nal eben.

der pöh­ler wur­de im­mer ex­ze­si­ver, die dro­gen-ex­pe­rie­men­te glit­ten ab. ich muss­te vom kif­fen im­mer kot­zen und liess es ir­gend­wann sein, pöh­ler konn­te ir­gend­wann ohne zu kif­fen nicht mehr ein­schla­fen. sei­ne el­tern ro­chen bei ge­schlos­se­ner türe wenn ich zu be­such war („ist fe­lix da? es stinkt nach knob­lauch!“), aber nicht, wenn er kiff­te. un­se­re be­zie­hung lös­te sich lang­sam. zu­dem ent­schie­den sich nele und ich nach der 10ten klas­se für ein jahr nach ame­ri­ka zu ge­hen.

nele lan­de­te in new hamp­shire, ich auf der an­de­ren sei­te des ame­ri­ka­ni­schen kon­ti­nents, in wa­shing­ton-sta­te. trotz­dem ver­tief­te sich un­se­re be­zie­hung in die­sem jahr un­ge­heu­er, wir schrie­ben uns glau­be ich über das jahr hin­weg min­des­tens alle zwei wo­chen ei­nen brief. pöh­ler ver­schwand von der bild­flä­che und im dro­gen­sumpf. er blieb auch ver­schwun­den, als wir zu­rück in deutsch­land wa­ren. pöh­ler, hiess es, sass ir­gend­wo in süd­ame­ri­ka im knast. nele sprach üb­ri­gens ak­zent­frei eng­lisch und kam mit ei­nem un­ge­heu­er di­cken arsch zu­rück.

in deutsch­land wa­ren nele und ich dann auch kei­ne nach­barn mehr, ich zog mit mei­nen el­tern mal wie­der um, 60 ki­lo­me­ter nach nor­den. in der schu­le bil­de­te sich ne­les arsch zu­rück und sie ver­lieb­te sich in ei­nen dür­ren, al­ten be­kann­ten aus pöh­ler-zei­ten, der jetzt in ih­rer klas­se ge­lan­det war. da­ni­el. ein stadt­be­kann­ter schwu­ler. ganz aa­chen wuss­te dass er schwul war, nur er nicht. er stritt ein­fach ab schwul zu sein wenn ihn je­mand drauf an­sprach, ob­wohl er die­se tun­ti­ge hand­hal­tung hat­te und be­kannt da­für war in der um­ge­bung von män­nern stets erek­ti­on zu tra­gen, selbst wenn er ko­ma­tös be­sof­fen war. trotz­dem, oder ge­ra­de des­halb, ver­lieb­te sich nele in da­ni­el. kurz be­vor er sie nach dem abi schwän­ger­te, zo­gen sie ge­mein­sam in eine bil­li­ge woh­nung in bel­gi­en. nicht wei­ter er­wäh­nens­wert, aber in die­ser woh­nung habe ich das ein­zi­ge mal in mei­nem le­ben eine leich­te ver­bun­den­heit zu da­ni­el ge­spürt. wir un­ter­hiel­ten uns über das wun­der der fort­pflan­zung, über die strah­len­de zu­kunft die uns jun­gen, über­op­ti­mis­ti­schen men­schen be­vor­stand und war­um hei­li­gen­bil­der aufs klo ge­hö­ren.

foto von nele und malou im wald
nele und ma­lou, 1992

die bei­den hei­ra­te­ten. ich war ne­les trau­zeu­ge. bald dar­auf fing ich mit mei­nem zi­vil­dienst in ful­da an. kurz be­vor ihre toch­ter ma­lou ge­bo­ren wur­de, zo­gen die bei­den wie­der nach aa­chen. eine klei­ne woh­nung in der bis­mark­stras­se. da­ni­el fing ein prak­ti­kum im stadt­thea­ter aa­chen an. kurz be­vor er den job hin­warf weil er kei­nen bock auf kaf­fee­ko­chen mehr hat­te traf er dort sei­ne gros­se lie­be, mar­kus. ma­lou war ge­ra­de ein paar mo­na­te alt und nele plötz­lich al­lein­er­zie­hen­de mut­ter. ma­lou hat­te pro­ble­me beim scheis­sen, woll­te nicht los­las­sen, ne­les ge­müt ver­fins­ter­te sich. ein paar mal fei­er­te ich mit nele al­lei­ne weih­nach­ten. ei­gent­lich war ich froh, dass nele das arsch­loch das sie ge­hei­ra­tet hat­te los ge­wor­den war. wir spon­nen plä­ne ein haus zu mie­ten und ge­mein­sam mit un­se­rem ge­mein­sa­men freund kars­ten eine gros­se wg zu grün­den. plä­ne aus de­nen nichts wur­de, die aber eine wun­der­ba­re pro­jekt­ti­ons­flä­che und mög­lich­keit zum rum­phan­ta­sie­ren ab­ga­ben. nele ging es ober­fläch­lich im­mer bes­ser, sie ver­lieb­te sich so­gar noch­mal, in frank, ei­nen of­fe­nen, ehr­li­chen, ru­hi­gen kerl. ein paar jah­re vor­her hat­te er mir zwar prü­gel an­ge­droht, weil ich über ihn ge­sagt hat­te, er sei ein pro­let, ein assi. was er na­tür­lich als er mit nele zu­sam­men­kam nicht mehr war. er moch­te nele und ma­lou sehr. sei­ne el­tern auch. alle moch­ten nele. frank und nele plan­ten eine ge­mein­sa­me zu­kunft, den bei­den war es ernst.

in der bri­git­te hät­te gest­qn­den, nele sei eine „power­frau“, die ihr le­ben mit kind, jobs und lie­be im griff hät­te. hat­te sie aber nicht. ihre ängs­te wa­ren stär­ker als ir­gend­je­mand, mich ein­ge­schlos­sen, dach­te. das mie­se ge­fühl ihr le­ben nicht rich­tig im griff zu ha­ben liess sie nicht los. am 27.4.1993 sprang sie im al­ter von 22 jah­ren aus der obers­ten eta­ge des hoch­hau­se am eu­ro­pa­platz in aa­chen. in ih­rem ab­schieds­brief schrieb sie: „ich kann nicht mehr. [...] ich habe ver­sagt, und ich will gar nicht um ver­zei­hung bit­ten.“

foto von mir und malou. ich rage einen pferdeschwanz, malou fasst sich an die nase
ix, ma­lou, 1993/94

ein paar er­in­ne­run­gen an nele fin­den sich im ge­schreib­sel ih­res ex-man­nes wie­der, der sich mit viel ta­lent und sei­nem „schreck­li­chen fa­mi­li­en-schick­sal“ zeit­wei­lig in die top-ten deut­scher thea­ter-au­toren schrieb (stern-bio­gra­fie, heft 1, 19.8.2002: „DRA­MA EI­NES DRA­MA­TI­KERS / Es gibt Schick­sa­le, die hält kein Mensch aus, wie also über­lebt ei­ner wie der Thea­ter­re­gis­seur DA­NI­EL C.?“). ma­lou zog zu ihm, er war ja schliess­lich ihr va­ter. nele hat­te mir auf­ge­tra­gen gut auf ma­lou auf­zu­pas­sen, soll­te ihr selbst je­mals et­was zu­stos­sen, aber hier ver­sag­te auch ich gran­di­os. ma­lou er­trank zweidrei jah­re nach ne­les tod un­ter et­was du­bio­sen um­stän­den bei ih­rem va­ter in der ba­de­wan­ne. kurz dar­auf starb auch jul­chen, ne­les da­ckel. das ein­zig po­si­ti­ve was an die­ser ge­schich­te dran ist, die drei lie­gen ge­mein­sam in ei­nem grab, der hund il­le­ga­ler­wei­se.

ich soll­te die drei mal wie­der be­su­chen ge­hen.