17 be­haup­tun­gen (teil 1 von 2)

felix schwenzel

ein paar jour­na­lis­ten und blog­ger ha­ben ha­ben über das was sie tun nach­ge­dacht und den kleins­ten ge­mein­sa­men nen­ner auf den sie sich ei­ni­gen konn­ten auf­ge­schrie­ben und es „in­ter­net-ma­ni­fest“ ge­nannt. die­ser kleins­te ge­mein­sa­me nen­ner soll zei­gen „wie jour­na­lis­mus heu­te funk­tio­niert“ — oder könn­te oder soll­te. ich schlies­se mich mar­tin re­cke an, der das er­geb­nis „ent­täu­schend“ fin­det und die be­haup­tun­gen und be­weis­füh­rung als „ge­ball­te mit­tel­mäs­sig­keit“ sieht.

mir fehlt die prä­gnanz, die stich­ha­tig­keit und die bri­li­anz die man von ei­nem „ma­ni­fest“ er­war­ten könn­te. das ma­ni­fest ani­miert die, die von den qua­li­tä­ten des in­ter­nets eh schon über­zeugt sind, zu mil­dem ni­cken, wird aber nie­man­den der das in­ter­net scheis­se fin­det, vom ge­gen­teil über­zeu­gen. aber viel­leicht ist es ein an­fang.

be­haup­tung #1: „Das In­ter­net ist an­ders.“

ein satz der dazu auf­for­dert so­fort das wei­ter­le­sen ein­zu­stel­len. eine pla­ti­tü­de. erd­beer­mar­me­la­de ist an­ders als him­beer­mar­me­la­de. bier ist an­ders als wein. na­tür­lich müs­sen die me­di­en „ihre Ar­beits­wei­se der tech­no­lo­gi­schen Rea­li­tät an­pas­sen, statt sie zu igno­rie­ren oder zu be­kämp­fen“. aber doch nicht weil das in­ter­net an­ders (als was ei­gent­lich?) ist. son­dern weil die man­geln­de an­er­ke­nung der rea­li­tät zu rea­li­täts­ver­lust führt. wer in der ver­gan­gen­heit lebt, wird nichts neu­es er­fin­den kön­nen und wer zu spät kommt, der ver­steht das le­ben nicht mehr. das in­ter­net ist rea­li­tät.

be­haup­tung #2: „Das In­ter­net ist ein Me­di­en­im­pe­ri­um in der Ja­cken­ta­sche.“

eine stei­le the­se mit wahr­heit im kern. nur ist das ge­gen­teil ge­nau­so wahr: wer im in­ter­net pu­bli­ziert wird zu 99 pro­zent nicht wahr­ge­nom­men, geht im rau­schen un­ter. das in­ter­net ist im glei­chen mas­se ein „Me­di­en­im­pe­ri­um in der Ja­cken­ta­sche“, wie das geld auf der stras­se liegt. oder an­ders ge­sagt, wer im in­ter­net pu­bli­ziert kann ge­nau­so schei­tern wie auf pa­pier. und es bleibt kei­nes­falls „nur die jour­na­lis­ti­sche Qua­li­tät, die Jour­na­lis­mus von blo­ßer Ver­öf­fent­li­chung un­ter­schei­det“, son­dern jour­na­lis­ti­sche qua­li­tät ist nur eine von un­ge­fähr zwan­zig mil­lio­nen ar­ten im in­ter­net er­folg zu ha­ben (be­zie­hungs­wei­se ein me­di­en­im­pe­ri­um auf­zu­bau­en). glaubt wirk­lich ei­ner der un­ter­zeich­ner, dass hugh heff­ner oder lar­ry flynt ihre me­di­en­im­pe­ri­en auf „jour­na­lis­ti­scher qua­li­tät“ auf­ge­baut ha­ben? es blei­ben ne­ben jour­na­lis­ter qua­li­tät eben­so tratsch, voy­eu­ris­mus und schund. na­tür­lich sind kei­ne ho­hen in­ves­ti­tio­nen mehr mit „der Ver­öf­fent­li­chung und Ver­brei­tung me­dia­ler In­hal­te“ ver­bun­den. mit dem er­folg aber schon, wenn auch nicht un­be­dingt und aus­schliess­lich fi­nan­zi­el­ler art. das in­ter­net macht ei­ni­ges ein­fa­cher und schnel­ler, aber es ver­schenkt nichts.

be­haup­tung #3: „Das In­ter­net ist die Ge­sell­schaft ist das In­ter­net.“

WTF? das in­ter­net för­dert den dia­log, klar, nur tritt man plötz­lich in den dia­log mit men­schen de­nen man zu­vor we­der „zu­hö­ren“ woll­te noch auf sie „re­agie­ren“, man hört plötz­lich stamm­tisch­sprü­che, ob­wohl man noch nie im le­ben eine knei­pe be­tre­ten hat. die ge­sell­schaft ist (wie im­mer) im um­bruch. das in­ter­net ge­hört für vie­le zum all­tag. dass heisst aber nicht, dass me­di­en­schaf­fen­de oder die ge­sell­schaft dem nicht un­ter um­stän­den et­was ent­ge­gen set­zen soll­ten. kri­ti­sche di­stanz tut (nicht nur im in­ter­net) manch­mal mehr gu­tes, als blin­des nach­äf­fen oder hin­ter­lau­fen. das in­ter­net deckt die vor­han­de­nen dunk­len und hel­len sei­ten der ge­sell­schaft glei­cher­mas­sen auf.

be­haup­tung #4: „Die Frei­heit des In­ter­net ist un­an­tast­bar.“

stei­le the­se, die die pro­vo­ka­ti­ons-wer­ber-hand­schrift von sa­scha lobo trägt. lei­der eine blöd­sin­ni­ge, in­dis­ku­ta­ble schwer ver­mit­tel­ba­re the­se. na­tür­lich muss das in­ter­net ge­re­gelt wer­den. das „wie“ ist die ent­schei­den­de fra­ge. selbst­re­gu­liert, staat­lich, wil­kür­lich, hier­ar­chisch? auch das „was“ ist ent­schei­dend: wie wird die tech­nik re­gu­liert, wel­che gre­mi­en oder or­ga­ne steu­ern die ent­wick­lung? wo­hin geht die ent­wick­lung? das in­ter­net ist vol­ler (mehr oder we­ni­ger) zen­tral ge­steu­er­ter me­sch­nais­men, ohne die es schlecht funk­tio­nie­ren wür­de. ich be­zweif­le auch, dass sich „das in­ter­net“ sei­ne in­fra­struk­tur selbst baut. da ist nach wie vor „der staat“ ge­fragt, der dann er­klärt be­kom­men möch­te, war­um er die von ihm fi­nan­zier­te in­fra­struk­tur nciht mehr an­tas­ten sol­len darf. ge­wis­se an­ar­chi­sche, un­kon­tro­lier­ba­re me­cha­nis­men im in­ter­net, vor al­lem auch die so­ge­nann­te „netz­neu­tra­li­tät“ sind ent­schei­den­de qua­li­tä­ten des in­ter­nets und sei­nes er­folgs, die ve­he­ment ge­schützt wer­den soll­ten. nur wie er­klär ichs mei­ner oma, ei­nem po­li­ti­ker oder ei­nem me­di­en­fürs­ten? selbst­re­gu­lie­rung und die un­kon­tro­lier­bar­keit des in­ter­nets in vie­len be­rei­chen sind ent­schei­den­de qua­li­tä­ten des in­ter­nets.

be­haup­tung #5: „Das In­ter­net ist der Sieg der In­for­ma­ti­on.“

in­for­ma­ti­on muss im­mer be-, ver- und auf­ge­ar­bei­tet wer­den. ob das durch me­di­en­häu­ser, jour­na­lis­ten, for­scher, blog­ger, tech­nik, „nach­rich­ten­fil­ter“ oder sonst­wen oder sonst­was ge­schieht ist nicht ent­schei­dend. ent­schei­dend ist, dass sich aus­ser der quan­ti­tät nichts ge­än­dert hat. es gibt mehr (frei ver­füg­ba­re) in­for­ma­ti­on, ja. nur ist das kein sieg der in­for­ma­ti­on, son­dern eine ver­meh­rung der in­for­ma­ti­on. dass man die­se in­for­ma­tio­nen jetzt tech­nisch bes­ser als je­mals zu­vor auf­ar­bei­ten, ord­nen oder fin­den kann ist ein fort­schritt, kei­ne fra­ge, aber ana­ly­sie­ren oder be­wer­ten kann sich in­for­ma­ti­on im­mer noch nicht selbst. selbst das bes­te goog­le-such­ergeb­niss be­darf noch ei­ner in­ter­pre­ta­ti­on und ana­ly­se. oder an­ders ge­sagt, die tat­sa­che, dass es auf ein­mal irre vie­le sta­tis­ti­ken gibt, heisst noch lan­ge nicht, dass es plötz­lich mehr rich­tig in­ter­pre­tier­te sta­tis­ti­ken gäbe. viel in­for­ma­ti­on macht nicht un­be­dingt klü­ger, aber de­fi­ni­tiv mehr ar­beit.

be­haup­tung #6: „Das In­ter­net ver­än­dert ver­bes­sert den Jour­na­lis­mus.“

wunsch­den­ken. nicht dass ich imun ge­gen wunsch­den­ken wäre, im ge­gen­teil. aber hier wäre de­fi­ni­tiv ein kon­junk­tiv an­ge­bracht. the­sen oder be­haup­tun­gen im kun­junk­tiv ma­chen sich nicht gut, ich weiss. aber hat das bild­blog die bild-zei­tung ver­bes­sert, hat ste­te blog­ger-kri­tik den spie­gel-on­line ver­bes­sert? viel­leicht, viel­leicht aber auch nicht. im­mer­hin hat das in­ter­net dem jour­na­lis­mus das durch­strei­chen ge­schenkt. aber: auch das in­ter­net macht aus scheis­se kein gold.

[edit: 08.09.2009: am text zu the­se #4 ein biss­chen rum­ge­dok­tert und ein paar for­mu­lie­run­gen ge­strafft.]

[nach­trag 10.09.209]
zu teil zwei.