lot­t­erlo­gik

felix schwenzel

ich lese die brand eins ge­nau­so lan­ge wie ich wolf lot­ters heft­the­men-pro­lo­ge nicht lese. seit ein paar aus­ga­ben lese ich lot­ters pro­lo­ge doch. hin und wie­der. und manch­mal fes­seln sie mich dann auch. ein paar klu­ge zi­ta­te am an­fang und sät­ze die in­ter­pre­ta­ti­ons­of­fen und un­spe­zi­fisch ge­nug sind um als pri­ma pro­jek­ti­ons­flä­chen für die ei­ge­nen ge­dan­ken zu die­nen. ix lese lot­ter und glau­be, da sagt ei­ner et­was das nicht dumm ist und gar nicht so weit von mei­nen ei­ge­nen er­fah­run­gen.

in der letz­ten aus­ga­be (schwer­punkt: ri­si­ko) schrob lot­ter na­tür­lich über ri­si­ko: „Wir brau­chen nicht we­ni­ger Ri­si­ko. Son­dern mehr Mut.

gleich am an­fang ein wun­der­ba­res zi­tat, das nichts mit ri­si­ko zu tun hat, son­dern der mu­ni­tio­nie­rung lot­ters ers­ter the­se dient:

Das Ge­heim­nis je­der Macht be­steht dar­in: zu wis­sen, dass an­de­re noch fei­ger sind als wir.

— Lud­wig Bör­ne

ein wirk­lich schö­ner satz und lot­ter be­tont auch ganz rich­tig, dass bör­ne we­der hel­den­mut ver­klärt, noch die feig­heit die in uns al­len steckt ver­ach­tet. und auch lot­ters ab­lei­tung aus die­sem satz stim­me ich zu; näm­lich dass ein be­lieb­tes ge­gen­mit­tel ge­gen un­se­re ver­meint­li­che ri­si­ko­ge­sell­schaft, die aut­ar­kie, auch ohne bun­ker­men­at­li­tät, al­les an­de­re als eine ge­eig­ne­te ant­wort auf kom­ple­xe sys­te­me und ihre ri­si­ken ist. auch wenn er gleich auf sei­te zwei ei­nen god­win-gruss ab­son­dert und be­haup­tet, dass das „zeit­al­ter der aut­ar­kie“ in deutsch­land mit der macht­über­nah­me der na­zis be­gann, liest sich lot­ters text wie ein sym­pa­thi­sches plä­doy­er ge­gen ängst­li­che fort­schritts­ver­stimmt­heit, zu­kunft­ängs­te und über­trie­be­nes si­cher­heits­stre­ben. lot­ter:

Gut wird al­les nur dann, wenn man es schlecht­re­det. Das ist die For­mel — oder bes­ser ge­sagt: die Dok­trin — des Zweck­pes­si­mis­mus, die ein in­ter­es­san­tes Men­schen­bild of­fen­bart. Denn nur wenn man „die Leu­te“ für un­ver­ant­wort­lich und dumm hält, für un­selbst­stän­dig also, muss man Ge­fah­ren über­trei­ben, Zu­kunft düs­ter ma­len. Man meint es ja nur gut. Eine Not­lü­ge, ge­baut auf Über­heb­lich­keit, Bes­ser­wis­se­rei und vor­ge­tra­gen mit eli­tä­rem Ge­ha­be.

toll. lot­ter mal ganz zu­kunfts- und men­schen­freund­lich — und bes­ser­wis­se­rei an­kla­gend. da scheint so­gar ein biss­chen tech­nik­be­geis­te­rung durch. naja, zu­min­dest bei kraft­wer­ken und an­de­ren „sys­te­men“ kommt bei lot­ter tech­nik-be­geis­te­rung auf. die al­ler­meis­ten sys­te­me kol­la­bier­ten näm­lich nicht, son­dern funk­tio­nier­ten er­staun­lich gut — al­ler­dings nur, wenn man den da­hin­ter­ste­hen­den ex­per­ten ver­traue, sagt lot­ter.

auf der sechs­ten sei­te legt lot­ter dann plötz­lich sei­ne hass­kap­pe an. plötz­lich, beim wort „di­gi­tal“ re­det er sich in rage und nazi-ver­gleich­stim­mung — schon zum zwei­ten mal:

Im Be­ruf ist ma­xi­ma­le Ri­si­ko­ver­mei­dung an­ge­sagt, in der Frei­zeit hin­ge­gen be­steht Kick-Pflicht. Al­ler­dings ist das in der sich ent­wi­ckeln­den di­gi­ta­len Ri­si­ko­ge­sell­schaft auch schon wie­der über­holt. Denn man kann sich sei­nen Kick auch auf dem Sofa ho­len. Als Ego-Shoo­ter, der sich durch vir­tu­el­le Wel­ten bal­lert.
Oder als Teil­neh­mer an ei­nem Shit­s­torm, der im Schutz der An­ony­mi­tät an­de­re fe­rig­macht. Die Shit-Stür­mer hal­ten sich da­bei für Hel­den. Und das geht, weil so vie­le im­mer noch fei­ger sind als sie, was ei­gent­lich kaum mög­lich ist, und be­haup­ten, man kön­ne die­sen Netz-Na­zis nichts ent­ge­gen­hal­ten.

„shit-stür­mer“ die im schutz ih­rer re­dak­tio­nen oder jus­ti­zia­re an­de­re fer­tig­ma­chen, me­di­en­kam­pa­gnen die eine oder meh­re­re säue wo­chen­lang durchs dorf trei­ben, an­ony­me au­toren, an­ony­me arsch­lö­cher — all das ist ganz si­cher nichts neu­es. die­se phä­no­me­ne ha­ben auch nichts mit ei­ner sich ent­wi­ckeln­den „di­gi­ta­len ri­si­ko­ge­sell­schaft“ zu tun, wolf lot­ters be­trach­tun­gen ha­ben aber mög­li­cher­wei­se et­was mit ver­gess­lich­keit oder man­geln­dem dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen zu tun.

das be­dau­er­li­che an lot­ters text ist, dass er sich im ers­ten teil dar­über be­klagt, dass die men­schen al­les schlecht­re­den, an­de­re men­schen, „die leu­te“, für dumm und un­selbst­stän­dig hal­ten, die welt düs­ter ma­len, ge­fah­ren über­trei­ben und eli­tä­rem ge­ha­be an­hän­gen. dann, im zwei­ten teil des tex­tes, fängt lot­ter an die di­gi­ta­le zu­kunft schlecht­zu­re­den, die mit­glie­der der „di­gi­ta­len Ri­si­ko­ge­sell­schaft“ für dumm, un­selbst­stän­dig, fei­ge und faul zu er­klä­ren, ge­fah­ren zu über­trei­ben. zwi­schen den zei­len deu­tet er schliess­lich an, dass die kunst an­de­re fer­tig zu ma­chen und me­di­en­kam­pa­gnen zu ent­fa­chen, ge­fäl­ligst den aus­ge­bil­de­ten fach­leu­ten, also jour­na­lis­ten und ko­lum­nis­ten, zu über­las­sen sei. eli­tä­res ge­ha­be, ver­steckt in sei­nem hass auf voll­idio­ten, die ihm of­fen­sicht­lich im netz be­geg­net sind.

da­bei wäre lot­ters puls so ein­fach zu be­ru­hi­gen: dif­fe­ren­zie­ren, igno­rie­ren, ge­las­sen blei­ben.

wie das geht, zeig­te kürz­lich ha­rald mar­ten­stein, in ei­nem noch län­ge­ren text als dem von lot­ter: Der Ter­ror der Tu­gend.

für mich lau­tet der zen­tra­le satz in mar­ten­steins text:

Mo­ra­li­sche Nor­men und Ge­set­ze kön­nen näm­lich kei­ne per­fek­ten Men­schen aus uns ma­chen. Sie ver­hin­dern le­dig­lich durch Sank­tio­nen, zu de­nen auch der Ge­sichts­ver­lust und die Bla­ma­ge ge­hö­ren, dass all­zu vie­le all­zu sehr über die Strän­ge schla­gen. Es wird im­mer Die­be ge­ben, Be­trü­ger, Lüg­ner, fast je­der von uns hat schon ge­lo­gen. Aber wenn wir uns mit der Lüge und dem Dieb­stahl ab­fin­den, dann bre­chen alle Däm­me.

mar­ten­stein dif­fe­ren­ziert, nennt kon­kre­te bei­spie­le und regt sich mit ge­las­sen­heit über die scheis­se miss­stän­de un­se­rer ge­sell­schaft auf, ohne in die mis­an­thro­pie ab­zu­glei­ten. lot­ter schreibt theo­re­tisch, bleibt im all­ge­mei­nen, will all­ge­mein­gül­ti­ge aus­sa­gen häm­mern. die ge­las­sen­heit ver­liert er schon nach zwei, drei sei­ten und sieht sich plötz­lich mit „Netz-Na­zis“ kon­fron­tiert. mar­ten­stein schreibt lau­ter fra­gen auf, wun­dert sich auch über „Hass­kom­men­ta­re“, glaubt aber an we­ni­ges­tens ein biss­chen rest­ver­nunft, auch in dep­pen. lot­ter kann nur rhe­to­risch fra­gen und aus­ru­fe­zei­chen* set­zen. im­mer­hin be­kommt er ei­nen op­ti­mis­ti­schen ab­schluss hin, in­dem er je­mand an­ders zu wort kom­men lässt:

Geht das ein we­nig kon­kre­ter? Si­cher, sagt Ber­ner. "Er­mu­ti­gung heißt, sich selbst und an­de­ren Im­pul­se zu ge­ben, selbst­stän­di­ger zu wer­den und Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men." Ver­zagt­heit führt in die Irre. Mut führt zu ei­nem selbst.
Das tut der Fir­ma gut, der Ge­sell­schaft und letzt­lich na­tür­lich den Ri­si­ko­ge­sell­schaf­tern. Und Bör­nes Er­kennt­nis wäre end­lich von ges­tern, wir bräuch­ten sie nicht mehr. Denn die Macht hät­ten nicht mehr die Angst­ma­cher, son­dern die Er­mu­ti­ger.

bleibt zu hof­fen, dass wolf lot­ter sei­ne ver­zagt­heit bald er­mu­tigt.



*) lot­ter be­nutzt in sei­nem text neun mal aus­ru­fe­zei­chen. mar­ten­stein vier mal, ein­mal da­von al­ler­dings in ei­nem Zi­tat.