pro­test­wahl

felix schwenzel

>

sa­bi­ne leu­theu­ser-schnar­ren­ber­ger vor ein paar ta­gen in der faz:

Es ist schon sehr er­staun­lich, dass die­je­ni­gen, die sich in der deut­schen De­bat­te über die von Ed­ward Snow­den ent­hüll­ten Späh­pro­gram­me auf­re­gen, zu­gleich Be­für­wor­ter der Vor­rats­da­ten­spei­che­rung in Deutsch­land sind. Nicht ein­mal ei­nen Mo­nat ist es her, dass die grün-rote Lan­des­re­gie­rung von Ba­den-Würt­tem­berg auf der Jus­tiz­mi­nis­ter­kon­fe­renz ei­nen An­trag auf Wie­der­ein­füh­rung der Vor­rats­da­ten­spei­che­rung stell­te. Die­ser An­trag wur­de, mit der Aus­nah­me von Nie­der­sach­sen, von al­len rot-grü­nen Lan­des­re­gie­run­gen mit­ge­tra­gen. Da darf man durch­aus die Fra­ge stel­len, wer ei­gent­lich die di­gi­ta­len Fein­de der of­fe­nen Ge­sell­schaft sind, von de­nen der SPD-Vor­sit­zen­de Ga­bri­el am 02. Juli in die­ser Zei­tung schrieb.


ich habe es mir noch nie so schwer ge­tan wie die­ses jahr mit mei­ner ent­schei­dung wen ich zur bun­des­tags­wahl wäh­len soll. dass die SPD ein chao­ten­hau­fen ist, in dem der lin­ke rand nicht weiss was der rech­te rand tut und so­wohl für, als auch ge­gen al­les mög­li­che ist und stimmt, fin­de ich nicht mal das schlimms­te. das kommt in den bes­ten fa­mi­li­en vor. auch dass ein­zel­ne ab­ge­ord­ne­te ger­ne mit „bauch­schmer­zen“ für ver­fas­sungs­wid­ri­ge ge­set­ze stim­men, scheint in al­len par­tei­en vor­zu­kom­men. mein haupt­pro­blem mit der SPD ist das glei­che wie mit dem 2013er jahr­gang oba­ma: ich glau­be dem re­den der SPD-ver­tre­ter kein wort, weil al­les was sie sa­gen durch ihre ta­ten ge­trübt wird. peer stein­brück hat nicht erst seit sei­nen turn­übun­gen im sprin­ger-darm bei mir jeg­li­che sym­pa­thie ver­lo­ren (die er durch­aus hat­te), son­dern an dem tag an dem an­drea nah­les über ihn sag­te: „er kanns“ (das zi­tat ist ein un­ver­ständ­li­ches sym­bol­bild, das ich nicht er­klä­ren mag. es schrob sich nur ge­ra­de so fluf­fig).

aber es hängt gar nicht so sehr an der SPD. aus­ser (tei­len) der FDP hat sich mei­ner wahr­neh­mung nach kei­ne im bun­des­tag ver­tre­te­ne par­tei in den letz­ten jah­ren glaub­haft für die stär­kung und wah­rung von bür­ger­rech­ten stark ge­macht. alle, auch die FDP, schnip­peln seit jah­ren an den bür­ger­rech­ten rum und be­grün­den das mit kin­der­schutz, ter­ror­ge­fahr, ver­bre­chens­be­kämp­fung, der volks­ge­sund­heit und recht­frei­en räu­men im in­ter­net.

klar gibt es ne­ben den bür­ger­rech­ten an­de­re wich­ti­ge the­men. aber das miss­trau­en der par­tei­en ge­gen­über ih­ren wäh­lern und nicht-wäh­lern, also ge­gen­über den bür­gern, hat in den letz­ten 30 jah­ren so der­mas­sen zu­ge­nom­men und die rech­te der schwä­che­ren glie­der im staat­ge­fü­ge so enorm ge­schwächt, dass es mir un­lo­gisch er­scheint die­sen men­schen und par­tei­en ver­trau­en zu schen­ken. ne­ben sa­bi­ne leu­theu­ser-schnar­ren­ber­ger gibt es in fast al­len par­tei­en ei­ni­ge men­schen de­nen ich ver­trau­en wür­de, de­ren wor­te ich ih­nen als auf­rich­tig ab­neh­me und bei de­nen ich das ge­fühl habe, dass sie nicht zur pro­fi­lie­rung oder aus kar­rie­re­grün­den in die po­li­tik ge­gan­gen sind, son­dern um et­was zum po­si­ti­ven zu ver­än­dern.

lei­der müss­te ich aber um sa­bi­ne leu­theu­ser-schnar­ren­ber­ger zu wäh­len, auch gui­do wes­ter­wel­le, phil­ipp rös­ler, chris­ti­an lind­ner oder so­gar rai­ner brü­der­le mit­wäh­len. wel­cher mensch, der noch bei sin­nen ist, wür­de das wol­len?

und dann sind da noch die pi­ra­ten. die wür­den sich mög­lich­wei­se für bür­ger­rech­te ein­set­zen, kön­nen sich mir aber nicht so recht ver­ständ­lich ma­chen. ich be­ob­ach­te wie de­ren mit­glie­der sich in al­ler öf­fent­lich­keit selbst zer­rei­ben oder zer­rei­ben las­sen, wie sie mit den köp­fen ge­gen die wand schla­gen, statt durch die wand und sich selbst die zun­gen raus­schnei­den.

an­de­rer­seits; über­for­dert sind alle. ein mit al­len was­sern ge­wa­sche­ner po­li­ti­ker wie tho­mas de mai­ziè­re, der mei­ner wahr­ne­hung nach al­les an­de­re als un­fä­hig ist, schei­tert an dem chao­ten­hau­fen, der uns an­geb­lich ver­tei­di­gen soll. pe­ter alt­mai­er ver­sem­melt ge­ra­de un­ter den au­gen der öf­fent­lich­keit die en­er­gie­wen­de. win­fried kret­sch­mann baut stutt­gart 21 wei­ter. an­ge­lea mer­kel und frank-wal­ter stein­mei­er schaf­fen es nicht das volk von dem sie scha­den ab­wen­den sol­len, vor den schlepp­net­zen der ame­ri­ka­ni­schen ge­heim­diens­te oder vor gu­an­ta­na­mo zu schüt­zen. po­li­tik in deutsch­land re­giert nicht, son­dern ka­pi­tu­liert.

dass sich nie­mand ge­gen die kräf­te die der po­li­tik ge­gen­über ste­hen vor­wagt, ist nur zum klei­nen teil mit über­zeu­gun­gen, prin­zi­pi­en oder par­tei­pro­gram­men zu be­grün­den. der haupt­grund ist mei­ner an­sicht nach über­for­de­rung und un­fä­hig­keit — und in fol­ge da­von angst. das po­li­ti­sche mot­to die­ser zeit scheint: sol­len die me­di­en und in­hal­te-pro­du­zen­ten, sol­len die in­län­di­schen und aus­län­di­schen ge­heim­diens­te, die si­cher­heits­po­li­ti­ker, die lob­bis­ten und in­ter­es­sen­ver­tre­ter doch ih­ren wil­len be­kom­men. wi­der­stand ist müh­sam und schwie­rig — und im ram­pen­licht wirds schnell rich­tig un­ge­müt­lich.

fast ver­ges­sen habe ich die lin­ken. ehr­lich­ge­sagt möch­te ich es auch da­bei be­las­sen, die zu ver­ges­sen. un­ver­ges­sen ist zwar die (mit-)re­gie­rungs­zeit der lin­ken in ber­lin, in der sie be­ein­dru­ckend ge­zeigt ha­ben, dass sie wo­we­reit zwar die hand hal­ten, aber nicht füh­ren kön­nen. aber ins­ge­amt kann man die glau­be ich gu­ten ge­wis­sens ver­ges­sen.


vor ein paar wo­chen habe ich mich ent­schie­den, das ers­te mal in mei­nem le­ben nicht wäh­len zu ge­hen. weil ich alle zur wahl ste­hen­den al­ter­na­ti­ven scheis­se fin­de so we­nig ver­trau­ens­voll fin­de und sie das nicht nur per in­ter­net wis­sen las­sen möch­te, son­dern auch mit mei­ner ver­wei­ge­rung mei­ne stim­me ab­zu­ge­ben.

dann habe ich aber wei­ter drü­ber nach­ge­dacht und mich er­in­nert, dass die ent­hal­tung meis­tens ge­nau die fal­schen stärkt. die fa­na­ti­ker, die dump­fen, die po­le­mi­ker, die lüg­ner. und dann kam ed­ward snow­den, der sich bis zur wahl wohl nicht un­ter den tisch keh­ren lässt und so ekla­tan­te män­gel in un­se­rer de­mo­kra­tie of­fen­legt, dass ich mit mei­ner win­zi­gen stim­me ger­ne ein zei­chen set­zen wür­de. ein klei­nes, aber gut les­ba­res zei­chen für mehr bür­ger­rech­te, mehr ak­zep­tanz da­für dass das in­ter­net rea­li­tät ist (und ge­gen das „wie­seln­des Her­um­druck­sen an al­len Fron­ten“), ein zei­chen, dass men­schen und ihre rech­te und ihre frei­heit wich­ti­ger sind als de­ren über­wa­chung.

des­halb wäh­le ich am 22. sep­tem­ber die pi­ra­ten­par­tei.

nicht weil ich ih­nen zu­traue wirk­lich et­was zu än­dern oder zu en­tern, nicht weil ich glau­be, dass sie bald zu sin­nen kom­men und sich nicht mehr selbst oder ge­gen­sei­tig zer­rei­ben, son­dern weil sie ein sym­bol da­für sind, dass sich et­was än­dern muss und wir uns auf un­se­re de­mo­kra­ti­schen wur­zel zu­rück­be­sin­nen soll­ten.

wer glaubt dass das naiv ist hat mög­li­cher­wei­se recht. aber wenn ich mich zu­rück­er­in­ne­re an den un­or­ga­ni­sier­ten grü­nen hau­fen der 1983 in den bun­des­tag ge­spült wur­de, dann kann ich mir nicht vor­stel­len, dass nai­vi­tät und un­fä­hig­keit von neu- und son­der­lin­gen dem bun­des­tag oder der po­li­tik mehr scha­det, als die un­fä­hig­keit und brä­sig­keit der ar­ri­vier­ten. im ge­gen­teil, frisch­luft und idio­ti­sche ideen schei­nen sich im lau­fe der jah­re zu main­stream-an­sich­ten zu wan­deln. und wenns, wo­nach es der­zeit doch sehr aus­sieht, mit den 5 pro­zent und den pi­ra­ten nicht klappt, dann ist mei­ne stim­me im­mer­hin we­ni­ger ver­lo­ren, als wenn ich nicht ge­wählt hät­te. und gleich­zei­tig eine spen­de von €2,80 für den wahl­kampf der pi­ra­ten­par­tei.

[sym­bol­bild von han­no zula]


[nach­trag 12.07.2013]
till wes­ter­mey­er feh­len die grü­nen in mei­nem text. ich dach­te ei­gent­lich, dass zu­min­dest für die­sen text das zi­tat von sa­bi­ne leu­theu­ser-schnar­ren­ber­ger aus­rei­chen wür­de. till wes­ter­may­er meint al­ler­dings zu recht, dass die mi­nis­te­rin hier na­tür­lich ein biss­chen die fak­ten biegt. er sagt, dass bei der jus­tiz­mi­nis­ter­kon­fe­renz ress­ort­ho­heit herr­sche, also die je­wei­li­gen jus­tiz­mi­nis­ter die ab­stim­mungs­po­si­ti­on ent­schei­den. und die ein­zi­ge grü­ne jus­tiz­mi­nis­te­rin in deutsch­land habe dem an­trag auf wie­der­ein­füh­rung der vor­rats­da­ten­spei­che­rung“ nicht zu­ge­stimmt. aus­ser­dem sei ba­den-würt­tem­bergs-jus­tiz­mi­nis­te­ri­um so­zi­al­de­mo­kra­tisch be­setzt. so­wohl sa­bi­ne leu­theu­ser-schanrren­ber­gers, als auch till wes­ter­may­ers äus­se­run­gen soll­te man in wahl­kampf­zei­ten wohl nicht auf die gold­waa­ge le­gen (link zum gan­zen dis­kus­si­ons­strang mit till wes­ter­may­er).

bei den grü­nen ist es für mich wie bei den meis­ten par­tei­en: alle ha­ben ein paar gute leu­te auf ih­ren hin­ter­bän­ken sit­zen, man­che auch in spit­zen­po­si­tio­nen. kürz­lich habe ich ein paar „netz­po­li­ti­ker“ der vier gros­sen par­tei­en auf ei­ner büh­ne ge­se­hen und war nicht in der lage un­ter­schied­li­che po­si­tio­nen der vier wahr­zu­neh­men. die vier wirk­ten so har­mo­nisch, als wür­den sie sich re­gel­mäs­sig mit­ein­an­der be­sau­fen.

das pro­blem dass ich mit den grü­nen habe sind nicht die hand­voll netz­af­fi­ner oder sym­pa­thi­scher oder prag­ma­ti­scher po­li­ti­ker, son­dern bei­spiels­wei­se das ab­stim­mungs­ver­hal­ten der grü­nen im bun­des­tag. wenn ein drit­tel der grü­nen­frak­ti­on aus der op­po­si­ti­on her­aus für ei­nen re­gie­rungs­vor­schlag zur er­rich­tung ei­ner zen­sur­in­fra­struk­tur stimmt, dann wirds für mich ganz schwer, die grü­nen als „Bür­ger­rechts­par­tei“ wahr­zu­neh­men. auch bei den ra­di­ka­len an­sich­ten des grü­nen thi­lo wei­chert wird mir im­mer ganz an­ders. es gibt bei den vie­len grü­nen da­ten­schutz­be­auf­trag­ten in deutsch­land auch wel­che die ih­ren job re­la­tiv wi­der­spruchs­frei er­le­di­gen, aber wei­cherts kon­ser­va­ti­ve und ideo­lo­gi­sche hal­tung ist für mich ty­pi­scher grün, als die prag­ma­ti­schen hal­tun­gen von grü­nen exo­ten wie mal­te spitz oder kon­stan­tin von notz.

kat­rin gö­ring-eckardt, die jetzt spit­zen­kan­di­da­tin der grü­nen ist, ent­hielt sich 2009 bei der ab­stim­mung über das zu­gangs­er­schwe­rungs­ge­setz. was sich nicht an­ders deu­ten lässt, als dass sie da­mals der über­zeu­gung war, dass zen­sur gut für kin­der sei und ein „zu­gangs­er­schwe­rungs­ge­setz“ eine schnaff­te idee. mög­li­cher­wei­se se­hen sie und vie­le an­de­re grü­ne die netz­po­li­tik oder bür­ger­rech­te im in­ter­net mitt­ler­wei­le nicht mehr als un­wich­ti­ges ge­döns an, aber mir fällt es wirk­lich schwer leu­te zu wäh­len, de­nen of­fen­sicht­lich die fä­hig­keit fehlt, den ab­bau von bür­ger­rech­ten als ab­bau von bür­ger­rech­ten zu er­ken­nen. bei den grü­nen ist wie bei der SPD, bei­de ha­ben mei­ne eins­ti­ge zu­nei­gung wie­der­holt sehr ent­täuscht. des­halb wird es ih­nen sehr schwer fal­len die­ses ver­lo­re­ne ver­trau­en zu­rück­zu­ge­win­nen. die pi­ra­ten fin­de ich mitt­ler­wei­le so be­scheu­ert, dass ich hier kei­ne gros­sen ent­täu­schun­gen er­war­te. un­se­re be­zie­hung kann ei­gent­lich nur noch bes­ser wer­den.