kein dra­ma

felix schwenzel

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ges­tern ha­ben wir beim es­sen in der fir­ma über po­li­tik ge­re­det. die aus­gangs­fra­ge die über dem es­sen schweb­te war: wer sind ei­gent­li­che die­se CDU-wäh­ler? die meis­ten die am tisch sas­sen ken­nen kei­ne. ich ken­ne eine CDU-wäh­le­rin aus der neun­ten und zehn­ten klas­se. ich glau­be sie ist so­gar CDU-mit­glied. mög­li­cher­wei­se wählt mein va­ter die CDU. sonst fällt mir auch kei­ner ein. aber aus­ser­halb un­se­rer so­zia­len- und fil­ter­bla­sen muss es sehr vie­le ge­ben. wenn es nach dem zweit­stim­men­er­geb­nis geht, le­ben wir in ei­ner schwar­zen re­pu­blik:

don dah­l­mann weist eben­falls dar­auf hin, dass das er­geb­nis der uni­on kei­nes­falls his­to­risch sei, es sei der nor­mal­fall in deutsch­land:

Der SPD ist es nur 1972 (Wil­ly Brandt) und 1998 (Schrö­der) ge­lun­gen, mehr Stim­men als die CDU zu ho­len. Wir le­ben in ei­nem Land, in dem die kon­ser­va­ti­ve CDU den brei­tes­ten Kon­sens ab­bil­det. Und das schon im­mer.

das wahl­er­ge­bis zeigt, dass die deut­schen mehr­heit­lich zu­frie­den mit der re­gie­rungs­po­li­tik sind und kein all­zu gros­ses be­dürf­nis nach ver­än­de­rung ver­spü­ren. beim mit­tag­essen ka­men wir dann auf die fra­ge, war­um das so sei und ob man die men­schen nicht bes­ser auf­klä­ren müss­te über die miss­stän­de in der re­pu­blik.

ich ver­mu­te man kann das am bes­ten mit ei­nem bild il­lus­trie­ren. ich fin­de es zum bei­spiel sehr an­ge­nehm in ei­ner stadt zu woh­nen, in der eine un­ge­heu­re viel­falt herrscht, in der tür­ken, po­len, rus­sen, spa­ni­er oder ame­ri­ka­ner dicht ge­drängt zu­sam­men­woh­nen, in der man aufs auto ver­zich­ten und wenn man glück hat eine güns­ti­ge alt­bau­woh­nung be­kom­men kann. eine stadt in der man nachts bis in die pup­pen aus­ge­hen und ein­kau­fen kann und in der die nach­barn nichts über mei­ne ver­gan­gen­heit oder mei­nen be­ruf oder mei­ne freun­de wis­sen. ich lebe hier in die­ser stadt mit vie­len men­schen zu­sam­men die die­se frei­hei­ten schät­zen und den preis da­für (hoche dich­te, lärm, durch­ein­an­der, stän­di­ge ver­än­de­rung) sehr ger­ne zah­len.

ich kann mir al­ler­dings schwer vor­stel­len ei­nen bau­ern, der zu­frie­den mit sei­ner fa­mi­lie in der röhn auf sei­nem ei­ge­nen hof lebt, mer­ce­des fährt und sei­ne kin­der in gers­feld auf die schu­le schickt, über die vor­zü­ge mei­nes le­bens­stil „auf­zu­klä­ren“. noch schwe­rer wür­de es wohl, wenn ich ihm klar­zu­ma­chen ver­such­te, war­um die netz­neu­tra­li­tät wich­tig sei. ich kann mir durch­aus vor­stel­len die­se the­men ver­ständ­lich und über­zeu­gend auf­zu­ar­bei­ten und bei­spiels­wei­se mit power­point oder key­note un­ter­halt­sam zu prä­sen­tie­ren, aber die hoff­nung ihn „auf­zu­klä­ren“ oder ihn da­von zu über­zeu­gen, auch mei­nen le­bens­stil in er­wä­gung zu zie­hen wer­de ich mir wohl ab­schmin­ken müs­sen. auch von der dring­lich­keit bür­ger- oder grund­rech­te in der stoff­li­chen welt und dem in­ter­net zu er­hal­ten und zu stär­ken, wer­de ich je­man­den der nachts noch nicht­ein­mal die haus­tü­re ab­schliesst, wirk­lich schwer über­zeu­gen kön­nen.

[nach­trag 28.09.2013: was im vor­he­ri­gen ab­satz steht soll nicht be­deu­ten, dass ich glau­be ein rhön-bau­er ver­ste­he be­stimm­te po­li­ti­sche the­men nicht, was ich vor al­lem sa­gen will: vie­le the­men die ich wich­tig fin­de in­ter­es­sie­ren ei­nen rhön­bau­ern nicht, vor al­lem auch, weil sie sei­ne le­bens­wirk­lich­keit nicht be­rüh­ren. und: ich hal­te die hoff­nung leu­te mit an­de­ren po­li­ti­schen an­sich­ten auf­klä­ren zu kön­nen für ziem­lich be­scheu­ert und ar­ro­gant. des­halb steht das wort fast durch­gän­gig in an­füh­rungs­zei­chen.]

ich habe dann beim es­sen ge­fragt, was denn die wirk­lich drän­gen­den the­men sind, din­ge die die men­schen emo­tio­nal auf­wüh­len. beim um­welt­schutz fiel nie­man­den et­was ein, was sich die mer­kel-re­gie­rung nicht schon in gross­buch­sta­ben auf die fah­nen ge­schrie­ben hät­te. be­wah­rung der schöp­fung, en­er­gie­wen­de, kli­ma­wan­del steht gleich­be­rech­tigt auf schwar­zen, ro­ten und grü­nen fah­nen. den grü­nen fah­nen­trä­gern fällt es sicht­lich schwer sich the­ma­tisch ge­gen die schwar­zen ab­zu­set­zen. auf den schwar­zen fah­nen ste­hen mitt­ler­wei­le so­gar die wor­te min­dest­lohn und steu­er­erhö­hun­gen. es gibt kaum ein the­ma das die mer­kel-re­gie­rung nicht schon um­armt und in wat­te ge­packt hat und mit dem man noch mehr­hei­ten mo­bi­li­sie­ren oder po­la­ri­sie­ren könn­te. aus­nah­me sind na­tür­lich auf­ge­klär­te fil­ter­bla­sen-be­woh­ner (wie du und ich), die da­für sor­gen dass die schwar­ze kar­te oben ein paar bun­te ein­spreng­sel in den tra­di­tio­nel­len fil­ter­bla­sen-bal­lungs­räu­men be­kommt.

das er­geb­nis der bun­des­tags­wahl hat auch nichts mit dem ver­sa­gen des jour­na­lis­mus oder der „netz­ge­mein­de“ zu tun. es da­mit zu tun, dass kei­nes der the­men das jour­na­lis­ten oder netz­be­woh­ner für drän­gend hal­ten, ir­gend­wen aus­ser­halb von ber­lin, di­ver­sen fil­ter­bla­sen und bal­lungs­räu­men emo­tio­nal be­rührt. die the­men die wir netz­be­woh­ner, jour­na­lis­ten oder städ­ter für drän­gend hal­ten (mei­ner mei­nung durch­aus zu recht), sind dem otto-nor­mal-bür­ger nach wie vor zu abs­trakt oder zu weit ent­fernt, um da­von emo­tio­nal be­rührt zu wer­den.

oder an­ders ge­sagt: was in­ter­es­siert den bau­ern in der rhön das schick­sal von ed­ward snow­den oder das von un­zäh­li­gen dun­kel­häu­ti­gen men­schen die op­fer von ra­cial pro­fil­ing oder frem­den­feind­li­chen über­grif­fen wer­den oder die men­schen oder jour­na­lis­ten de­ren lap­tops an den gren­zen ge­filzt oder be­schlag­nahmt wer­den?

so trau­rig das klingt, aber mehr­heit­lich las­sen sich vie­le men­schen wohl eher von ei­ner PKW-maut für aus­län­der (sprich ös­te­rei­cher und schwei­zer) be­rüh­ren oder sich von uni­ons-spin­dok­to­ren ein­re­den, dass die grü­nen für spies­si­ge be­vor­mun­dung stün­den. dass die CSU-re­gie­rung in bay­ern gleich­zei­tig für eins der strengs­ten nicht­rau­cher­ge­set­ze im lan­de ver­ant­wort­lich ist, stört die auf­re­gung dann kaum. ab­ge­se­hen da­von, dass sich kaum ein uni­ons­po­li­ti­ker vor­stel­len kann, wie eine po­li­tik aus­se­hen könn­te, in der men­schen mit ab­wei­chen­der se­xua­li­tät oder rausch­be­dürf­nis­sen nicht spies­sig und ewig­gest­rig be­vor­mun­det wer­den, steht das C in der CDU/CSU ja be­reits seit vie­len hun­dert jah­ren für den fleisch­lo­sen frei­tag, an den sich vie­le kan­ti­nen be­reits seit de­ka­den hal­ten. tat­sa­che ist aber: die uni­on hat stän­dig the­men im kö­cher mit de­nen sie die ge­fühlskla­via­tur von sehr viel mehr wäh­lern ma­ni­pu­lie­ren be­spie­len kann als ihre geg­ner.


ich habe kürz­lich ge­lernt, dass wir von grund­rech­ten spre­chen soll­ten und nicht von bür­ger­rech­ten. ich fra­ge mich al­ler­dings noch ob ich jetzt auch das wort „bür­ger­recht­ler“ aus mei­nem vo­ka­bu­lar strei­chen soll und von „grund­recht­lern“ re­den soll? ich habe auch ge­lernt, dass in­tel­lek­tu­el­les haa­re­spal­ten und durch­ana­ly­sie­ren zwar gros­sen spass macht und sti­mu­liert, aber nie­man­den aus­ser ein paar blog­gern, jour­na­lis­ten und stadt­be­woh­ner in­ter­es­siert.

was fehlt, um die the­men der netz­po­li­tik, der frei­heit und der grund­rech­te nach vor­ne zu brin­gen oder zu ei­nem wahl­ent­schei­den­den the­ma zu ma­chen, so wie vor 20 oder 30 jah­ren die um­welt­po­li­tik, ist nicht auf­klä­rung oder bes­se­re ver­mitt­lung, son­dern emo­tio­na­le auf­la­dung. was bei der um­welt­po­li­tik in den letz­ten 40 jah­ren auch zu star­ken über­dra­ma­ti­sie­run­gen ge­führt hat, an de­nen wir bis heu­te zu knab­bern ha­ben (bei­spiels­wei­se die was­ser­wer­ke).

die­se dra­ma­ti­sie­rung kann nicht syn­the­tisch er­zeugt wer­den, son­dern nur durch — das hört sich jetzt leicht dra­ma­tisch an — kon­kre­te op­fer, im sin­ne von mensch­li­chen schick­sa­len und iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gu­ren. ed­ward snow­den ist ein an­fang, aber lei­der ein sehr schwer ver­mit­tel­ba­rer — zu­min­dest in deutsch­land. ähn­lich üb­ri­gens wie mu­rat kur­naz oder gustl mollath. kei­nes die­ser schick­sa­le hat die mehr­heit der wäh­ler so weit be­rührt, dass sie dar­aus kon­se­quen­zen an der wahl­ur­ne ge­zo­gen hät­ten — im ge­gen­teil. aber trotz­dem glau­be ich fest dar­an (und ich irre ger­ne und oft), dass es schick­sa­le von men­schen sein wer­den, die the­men wie netz­po­li­tik und grund­rech­te so­weit dra­ma­ti­sie­ren kön­nen, dass sie ir­gend­wann doch bei der mehr­heit der be­völ­ke­rung an­kom­men. bei der um­welt­po­li­tik hat es üb­ri­gens mal ge­reicht um die 3 mil­lio­nen men­schen zu be­rüh­ren um ei­nen wech­sel her­bei zu füh­ren.

was ich ei­gent­lich sa­gen will: ne­ben den wahr­neh­mungs­stö­run­gen der bal­lungs­raum- und ber­lin-fil­ter­bla­sen ist das haupt­pro­blem das ei­nem po­li­tik­wech­sel ent­ge­gen­steht mal in ei­nem völ­lig an­de­ren zu­sam­men­hang von bill clin­ton aus­ge­spro­chen wor­den: „it’s the eco­no­my, stu­pid!


  • ri­chard gut­jahr meint, es sei­en „nicht The­men, Par­tei­pro­gram­me oder Po­si­tio­nen, son­dern die Per­so­nen“ die die wahl ent­schei­den. nur müs­sen die per­so­nen na­tür­lich schon für the­men oder po­si­tio­nen ste­hen, sage ich.
  • das nuf er­gänzt mei­ne un­fer­ti­gen ge­dan­ken um ein paar wei­te­re ge­dan­ken.

in­ter­es­san­te re­ak­tio­nen hier in den kom­men­ta­ren, auf twit­ter und face­book; ich fin­de ja, dass ich auf we­sent­li­che re­du­ziert, un­ge­fähr fol­gen­des ge­schrie­ben habe: in un­se­rer ur­ba­nen bal­lungs­raum-fil­ter­bla­se er­ken­nen wir nicht, dass sich kaum je­mand für die von uns hoch­prio­ri­sier­ten the­men in­ter­es­siert und erst recht nicht von uns be­leh­ren („auf­ge­klä­ren“) las­sen will. dar­auf als re­ak­ti­on zu schrei­ben: „merkt ihr ei­gent­lich nicht, dass euch in eu­rer fil­ter­bla­se nie­mand zu­hört?“ oder mich als ar­ro­gan­ten, bes­ser­wis­se­ri­schen oder bla­sier­ten schnö­sel dar­zu­stel­len, er­staunt mich dann doch er­heb­lich. aber weil ich mich viel­leicht in der tat für erst- oder ober­fläch­lich-le­ser miss­ver­ständ­lich aus­ge­drückt habe, habe ich oben ei­nen nach­trag in ecki­gen klam­mern nach­ge­tra­gen.