professionelle wahrnehmungsverschiebung

felix schwenzel

spi­ros81 hat mir auf form­spring fol­gen­de fra­ge ge­stellt:

Wird einem im Architekturstudium beigebracht, wie man ein hässliches Gebäude schöninterpretiert? Jedes noch so hässliche Gebäude (siehe neue Stuttgarter Bibliothek) wird mit einer Bedeutung aufgeladen, dass man sich wundert.

mei­ne ant­wort fiel et­was län­ger aus:

im ar­chi­tek­tur­stu­di­um lernt man — wie ver­mut­lich in je­dem an­de­ren stu­di­um — zu dif­fe­ren­zie­ren und ge­nau hin­zu­se­hen. oder an­ders ge­sagt, egal was man stu­diert, man schult sei­nen blick für de­tails. der li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler liest dann in ei­nem buch ganz an­de­re din­ge her­aus, als ein laie. der be­griff der schön­heit, wird um tech­ni­sche und kon­zep­tio­nel­le aspek­te er­gänzt, bzw. man er­kennt die hand­werk­li­chen tricks und lö­sun­gen, die der au­tor, der ar­chi­tekt, der schrei­ner be­nutz­te und lernt sie, im bes­ten fal­le, zu schät­zen.

die schwal­ben­schwanz-eck­ver­bin­dung bei schub­la­den ist so ein bei­spiel für die ver­schie­bung von wahr­neh­mungs­mus­tern. schön fan­den schrei­ner schwal­ben­schwanz-eck­ver­bin­dun­gen frü­her nicht, da die ver­bin­dung aber zweck­mäs­sig und irre sta­bil ist — und vor al­lem die ein­zig ver­nünf­ti­ge art mas­siv­holz-bret­ter über eck dau­er­haft zu ver­bin­den — wur­de sie sehr ger­ne be­nutzt, aber eben auch fast im­mer mit sicht­blen­den ver­se­hen. sicht­blen­den des­halb, weil sich lai­en nicht für die ver­bin­dungs­tech­nik be­geis­tern kön­nen, bzw. konn­ten und lie­ber schö­ne, or­na­men­tier­te fron­ten se­hen woll­ten. das hat sich in zei­ten von ikea und span­plat­ten­schub­la­den ge­än­dert: schwal­ben­schwanz-ver­bin­dun­gen gel­ten jetzt als ein zei­chen für qua­li­tät, für sau­be­res hand­werk. da hat sich qua­si ein ex­per­ten­kri­te­ri­um in ein mas­sen­kri­te­ri­um ver­wan­delt und da­mit gleich­zei­tig auch die wahr­neh­mung. plötz­lich wer­den die schwal­ben­schwanz­ver­bin­dun­gen stolz vor­ge­zeigt, statt ver­blen­det.

bes­tes zei­chen für die­se wahr­neh­mungs­ver­schie­bung: ikea ver­kauft mas­siv­holz­mö­bel, die schwal­ben­schwanz­ver­bin­dun­gen nach­ah­men. ikea sägt tat­säch­lich stück­chen aus der front­blen­de aus, setzt klei­ne holz­blö­cke dar­ein, so dass es nach hand­werk aus­sieht.

was ich ei­gent­lich sa­gen will: die wahr­neh­mung von schön­heit än­dert sich stän­dig, vor al­lem aber un­ter­schei­det sie sich oft mas­siv bei ex­per­ten und lai­en, weil bei­de (oft, nicht im­mer) auf ver­schie­de­ne din­ge ach­ten.

ich kann mir zum bei­spiel vor­stel­len, dass ich die neue bi­blio­thek in stutt­gart to­tal su­per fin­de. die vi­sua­li­sie­run­gen se­hen sie erst­mal sehr mi­ni­ma­lis­tisch und wohl­pro­por­tier­niert (qua­dra­te!) aus. ich mag din­ge, de­ren kom­ple­xi­tät man nicht auf den ers­ten blick er­kennt, oder all­ge­mei­ner, din­ge die ein­fa­che be­nut­zer­ober­flä­chen an­bie­ten. wenn die kon­struk­ti­on dann auch noch hand­werk­lich ein­wand­frei, zweck­mäs­sig oder kon­zep­tio­nell gross­ar­tig ist, kann ich oft auch zweck­mäs­sig­keit zu schön­heit um­de­fi­nie­ren. und mei­ne the­se wäre, das eben die­se fä­hig­keit zweck­mäs­sig­keit in schön­heit um­zu­deu­ten, das (oder zu­min­dest ein) er­geb­nis ei­nes stu­di­ums ist.


[nach­trag 23.07.2011, 8:57h]
se­bas­ti­an sach­se (spi­ros81) hat über „Bi­blio­the­ken und Ar­chi­tek­tur“ ge­schrie­ben. aus­ser­dem habe ich ein „s“ ge­stri­chen (dan­ke jo­vels­te­fan).