mein vortrag auf der #rp17

felix schwenzel in artikel

wei­ter un­ten die schrift­fas­sung mei­nes #rp17 vor­trags, hier die vi­deo­fas­sung.

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was mich sehr freut ist das vie­le po­si­ti­ve feed­back. für chris­ti­an de vries war es ei­ner der bes­ten vor­trä­ge der re­pu­bli­ca und in ein paar top-lis­ten, tauch­te mein vor­trag auch auf (eins, zwei, drei, vier). anke trö­der hat’s ge­fal­len, auch wenn sie mir im­mer noch die häf­te mei­ner fo­li­en weg­neh­men möch­te. fre­de­rik fi­scher nann­te mei­nen vor­trag „ni­veau­vol­le Un­ter­hal­tung“, für jol­le lahr-ei­gen hab ich’s nach eli­sa­beth weh­ling auf ih­ren „per­sön­li­chen zwei­ten Rang“ ge­schafft, bei joel.lu habe ich et­was be­rührt.


update: die kunst des liebens

mir ist das al­les ein biss­chen pein­lich.

ich has­se pa­thos und ich has­se vor­trags­ti­tel, die kei­nen iro­ni­schen aus­weg an­bie­ten. die­ser vor­trags­ti­tel ist so pa­the­tisch, dass er bei­na­he platzt vor iro­ni­scher aus­weg­lo­sig­keit.

ka­tia, mei­ne frau, meint, ich müs­se mich vor­ab da­für ent­schul­di­gen, dass der vor­trag so pa­the­tisch und ernst sei.

der witz ist: das ist kein witz.

an­ge­fan­gen habe ich (2010) hier auf der re­pu­bli­ca mit mil­dem sar­kas­mus. ich habe mich — dop­pel­deu­tig na­tür­lich — ge­fragt, war­um das in­ter­net scheis­se ist. der vor­trag lässt sich sehr kurz zu­sam­men­fas­sen: weil die welt scheis­se ist.

dem ge­dan­ken bin ich dann 2013 wei­ter nach­ge­gan­gen, als ich mir „10 vor­schlä­ge um die welt zu ver­bes­sern“ aus der nase zog.

im prin­zip habe ich mir die­se fra­ge jetzt, vier jah­re spä­ter, er­neut ge­stellt. nur dass ich dies­mal in erich fromms bü­chern und nicht im in­ter­net nach ant­wor­ten und lö­sungs­an­sät­zen ge­sucht habe.

weil das mot­to der re­pu­bli­ca die­ses jahr nun mal lie­be ist, habe ich mich er­in­nert, dass ich als sech­zehn/sieb­zehn-jäh­ri­ger, erich fromms buch, die kunst des lie­bens, un­glaub­lich toll fand. und dass ich es doch ei­gent­lich noch­mal le­sen und hier da­von er­zäh­len könn­te.

das schlim­me und gleich­zei­tig gute ist: ich fand’s wie­der toll. toll, weil es wirk­lich ein gran­dio­ses buch ist und weil ich merk­te, wie sehr mich die frü­he lek­tü­re die­ses bu­ches ge­prägt hat. oder an­ders­rum, wie sehr die­ses buch beim wie­der­le­sen mei­ne vor­stel­lun­gen vom le­ben be­stä­tig­te.

ich kann hier nichts iro­nisch bre­chen, kei­nen sar­kas­mus aus­streu­en — son­dern nur auf­rich­tig schwär­men.

das ein­zi­ge was mir ein­fällt um ein­mal kurz aus der pa­thos- und ernst­haf­tig­keitfal­le her­aus­zu­kom­men, ist ein kat­zen­vi­deo zu zei­gen.

aber auch die­ses kat­zen­vi­deo än­dert nichts dar­an, dass ich hier ste­he und sa­gen muss: erich fromms bü­cher sind wun­der­bar und ob­wohl sie ziem­lich alt sind, sind sie zeit­los und auf den punkt. erich fromm ist mein held. und ich ste­he hier, um zu ver­su­chen euch an­zu­ste­cken.

ich habe nicht alle, aber vie­le von fromms bü­chern und auf­sät­zen ge­le­sen. ich glau­be, dass in fromms bü­chern vie­le an­sät­ze zum um­gang mit ge­sell­schafts­kri­sen oder welt­pro­ble­men ste­hen, also an­sät­ze die welt zu ver­bes­sern. weil fromm psy­cho­ana­ly­ti­ker war, fin­det man in sei­nen bü­chern — na­tür­lich — auch wege zu ei­nem glück­li­che­ren, er­füll­te­rem le­ben.

ich könn­te das was ich ge­le­sen habe jetzt hier zu­sam­men­fas­sen, also ein ver­kack­tes schul­re­fe­rat hal­ten, aber das brau­che ich nicht, das hat die wi­ki­pe­dia schon (ziem­lich gut) ge­macht.

ich ver­su­che das ganz an­ders zu ma­chen. statt wie­der­zu­ge­ben, was fromm ge­schrie­ben hat, gebe ich das wie­der, was ich (ver­meint­lich) ver­stan­den habe. ich gebe die ro­si­nen wie­der, die ich mir aus fromms werk her­aus­ge­pickt habe.

ich ma­che mir sein werk ein­fach zu ei­gen.

fromm selbst sagt üb­ri­gens, dass ideen erst dann eine Wir­kung auf den Men­schen aus­üben, wenn sie von dem, der sie lehrt, auch ge­lebt wer­den.

fromm hat das ge­tan, er war dem men­schen ex­trem zu­ge­wandt, en­ga­gier­te sich in der po­li­tik und der frie­dens­be­we­gung und leb­te das, was er schrieb und vor­trug, auch selbst.

ich wäre ger­ne hu­ma­nist. ob ich ei­ner bin oder zu wer­den ver­mag, kann ich nicht be­ur­tei­len. erst recht nicht, ob ich das was ich hier gleich er­zäh­le auch ver­kör­pe­re oder lebe. ich wür­de das ger­ne so se­hen, ich glau­be in der rück­schau, seit ich fromm zum ers­ten mal ge­le­sen habe, dass ich mir im­mer mühe ge­ge­ben habe freund­lich zu sein, an das gute im men­schen ge­glaubt zu ha­ben, nie­man­den in mei­nem um­feld un­ter­drückt oder an sei­nem in­ne­ren wachs­tum ge­hin­dert zu ha­ben.
lei­der weicht die selbst­wahr­neh­mung oft von der fremd­wahr­neh­mung ab.

aber die dis­kre­pan­zen zu fin­den, über­las­se ich ger­ne euch. wo­bei ich für sol­ches feed­back of­fen­bar gut funk­tio­nie­ren­de wahr­neh­mungs­fil­ter habe.
ich habe ge­schla­ge­ne 7 jah­ren ge­braucht, bis vor­letz­te wo­che, als ich nach bil­dern für die­sen vor­trag such­te, um end­lich zu er­fah­ren, dass an­dre­as schae­fer mich für den welt-gröss­ten schnor­rer hält.

glaub­wür­dig­keit bei­sei­te — ich fang jetzt mal an, bei adam und eva.

peter wenzel: adam und eva im irdischen paradies

die al­le­go­rie von der ver­trei­bung aus dem pa­ra­dies wur­de vor vie­len jah­ren von ei­nem un­be­kann­ten, aber ganz klu­gen au­toren­kol­lek­tiv ge­schrie­ben.
sie ist eine al­le­go­rie auf die ent­wick­lung der mensch­heit und des men­schen.

so wie die ent­wick­lung ei­nes em­bry­os un­se­re evo­lu­tio­nä­re ent­wick­lungs­ge­schich­te nach­er­zählt, zeigt uns die al­le­go­rie von der ver­trei­bung aus dem pa­ra­dies die psy­chi­sche ent­wick­lungs­ge­schich­te des men­schen auf. sie ver­sinn­bild­licht den kern und die exis­ten­zi­el­len pro­ble­me des men­schen. oder po­si­tiv aus­ge­drückt: die ge­schich­te be­schreibt die grund­be­din­gung der mensch­li­chen exis­tenz: ei­ner­seits ge­hö­ren wir (ein­deu­tig) zur na­tur, an­de­rer­seits sind wir, im ge­gen­teil zu vie­len tie­ren, mit ver­nunft und er­kennt­nis­fä­hig­keit aus­ge­stat­tet.

wir sind fä­hig die ab­sur­di­tät un­se­rer si­tua­ti­on zu er­ken­nen, ir­gend­wann, ir­gend­wo, an ei­nem zu­fäl­li­gen ort in die welt ge­wor­fen zu wer­den.

CC BY 3.0 Jcesare at English Wikipedia

die ge­schich­te zeigt den zen­tra­len wi­der­spruch der mensch­heit auf: wir er­ken­nen, dass wir der na­tur an­ge­hö­ren, ver­mö­gen die­se zu­ger­hö­rig­keit aber nicht mehr zu spü­ren, weil un­ser ver­stand, un­se­re er­kennt­nis­fä­hig­keit, un­ser be­wusst­sein uns aus dem pa­ra­dies aus­schlies­sen. nicht gott hat uns aus dem pa­ra­dies ge­wor­fen, un­ser ver­stand tut es.

das ist mein lieb­lings­satz aus dem erich-fromm-wi­ki­pe­dia-ar­ti­kel. ein satz, wie ein fran­zö­si­scher spiel­film:

Das größte Problem des Menschen ist seine reine Existenz.

auf psy­cho­lo­gi­scher ebe­ne pas­siert uns al­len ge­nau das, was adam und eva pas­siert ist: am an­fang sind wir eins mit al­lem, ge­nau­ge­nom­men, sind wir tat­säch­lich nur eins; ein ein­zeller.

wenn wir dann, viel zu früh, aus dem mut­ter­leib ge­drückt wer­den (hier ver­sinn­bild­licht von amy schu­mer), …




… viel frü­her als die meis­ten tier­ar­ten, die sich im mut­ter­leib viel wei­ter ent­wi­ckeln dür­fen, lie­gen wir völ­lig hilf­los und ab­hän­gig von der mut­ter, der fla­sche oder ei­ner sich küm­mern­den per­son in der welt.

aber wir sind, auch wenn es et­was käl­ter und tro­cke­ner ge­wor­den ist, im­mer noch im pa­ra­dies. wir er­ken­nen noch wo­chen­lang kei­nen un­ter­schied zwi­schen uns und der mut­ter, bzw. un­se­rer be­zugs­per­son. brust, fla­sche, dau­men, al­les eins, al­les ist ich, al­les meins.

aber ir­gend­wann mer­ken wir, dass wir gar nicht eins mit der mut­ter sind und wenn wir noch mehr vom er­kenn­nis­ap­fel­brei ge­ges­sen ha­ben, mer­ken wir, dass wir uns ir­gend­wie tren­nen müs­sen von der mut­ter, dem va­ter oder den be­zugs­per­so­nen — und selbst je­mand wer­den müs­sen.

und das ist, wo die gan­zen pro­ble­me an­fan­gen. bei uns al­len. nicht nur bei woo­dy al­len.

da kann man sich drü­ber lus­tig ma­chen, wie woo­dy al­len, meist in ge­wis­sem mas­se selbst­kri­tisch oder wie ge­ne­ra­tio­nen von ka­ri­ka­tu­ris­ten.

aber der kern all un­se­rer pro­ble­me, lässt sich mit die­ser ei­nen al­le­go­rie um­schrei­ben, da­mit, dass wir nach we­gen zu­rück ins pa­ra­dies, nach we­gen zum glück, zur ein­heit mit mut­ter und va­ter oder an­de­ren men­schen su­chen.

fromm geht noch wei­ter, er sagt, dass die­ses be­dürf­nis zu ein­heit der trieb ist, der uns im in­ne­ren an­treibt. freud, sagt fromm, dach­te die­ser dri­ve sei der se­xu­al­trieb. fromm meint, das sei ein freud­scher feh­ler.

die bi­bel um­schreibt die­sen an­trieb mit der ver­trei­bung aus dem pa­ra­dies und der hoff­nung da ir­gend­wann wie­der rein­ge­las­sen zu wer­den. mär­chen er­zäh­len die hoff­nung auf er­lö­sung als su­che nach dem glück und hol­ly­wood hat auch gros­sen ge­fal­len an er­lö­sungs­ge­schich­ten, meist er­zählt als die su­che und die ge­ne­se des ei­nen, des aus­er­wähl­ten, der wie­der al­les in har­mo­nie zu brin­gen ver­mag.

das be­dürf­nis zu ein­heit zu fin­den, die ab­sur­di­tät un­se­rer exis­tenz ir­gend­wie auf­zu­lö­sen, ist auch die grund­la­ge des hu­ma­nis­mus. der hu­ma­nis­mus geht da­von aus, dass die men­schen eine ein­heit sind, weil die grund­be­din­gung, das grund­pro­blem für alle gleich ist.

dar­aus lei­tet sich dann auch der ab­satz eins ab oder der zwei­te satz der ame­ri­ka­ni­schen un­ab­hän­gig­keits­er­klä­rung.

wie die un­ab­hän­gig­keits­er­klä­rung, be­tont der hu­ma­nis­mus, dass der mensch nicht nur das recht hat, son­dern fä­hig ist sich wei­ter zu ent­wi­ckeln und zu ver­voll­komm­nen, sein glück zu fin­den und ver­nünf­tig und fried­lich zu han­deln.

hört sich ein biss­chen wie ein glau­bens­be­kennt­nis an — und ist es wohl auch.

die­se idee vom hu­ma­nis­mus, von der ge­mein­sa­men wur­zel und dem al­len men­schen ge­mein­sa­men be­dürf­nis nach (wie­der) ver­ei­ni­gung oder ein­heit, durch­zieht alle bü­cher von erich fromm.

soll­te mich je­mand fra­gen, wie ich in ei­nem satz fromms bü­cher und auf­sät­ze zu­sam­men­fas­sen wür­de, der satz lau­te­te:

um zu glück­li­che­ren, zu­frie­de­ne­ren men­schen zu wer­den, müs­sen wir an un­se­ren fä­hig­kei­ten zu lie­be, so­li­da­ri­tät, ver­nunft, mut und glau­ben (zum bei­spiel an das gute im men­schen oder den nächs­ten) ar­bei­ten, mit be­to­nung auf ar­beit.

denn ob­wohl die­se fä­hig­kei­ten in uns al­len an­ge­legt sind, sind sie zum teil ver­schüt­tet und wach­sen nicht un­be­dingt von al­lei­ne.

fromm drückt das so aus: der mensch brau­che sein le­ben lang um sich selbst zur ge­burt zu brin­gen, das füh­re zu „wohl-sein“ (well-be­ing) und habe die freu­de am le­ben als be­glei­ter.

zi­tat fromm:

Nur in dem Maße, in dem der Mensch seinen Hass, seine Unwissenheit, seine Gier und seine Selbstsucht überwindet und er in seiner Fähigkeit zu Liebe, Solidarität, Vernunft und Mut wächst, kann er dieses Ziel erreichen.

als ich am mon­tag hier ca­ro­lin emke sah, sprach sie sehr ein­drück­lich von so­li­da­ri­tät — und was das prak­tisch be­deu­tet:

wer gedemütigt und verletzt wird, wer verachtet und angegriffen wird, soll sich nicht selbst wehren müssen müssen. es braucht andere, die einstehen für die würde jeder einzelnen person. es braucht andere die widersprechen, die die nicht gemeint sind, die sich aber gemeint fühlen.

eine gesellschaft in der alle nur sich selbst retten und schützen wollen ist keine. das ist neoliberalistisches spektakel.

das hät­te auch ein zi­tat aus ei­nem von erich fromms bü­chern sein kön­nen.

an­ders als fromm, möch­te emke die­se so­li­da­ri­tät, oder den re­spekt für an­ders le­ben­de men­schen aber nicht zur lie­be zäh­len, sie sag­te:

wir brauchen keine liebe, uns reicht schon respekt

da­mit hat sie na­tür­lich recht, aber fromm auch, für den so­li­da­ri­tät, re­spekt, mut, ver­nunft teil von lie­be sind.

das kon­zept der lie­be nach fromm ist nichts was ei­nem pas­siert, oder ein­fach nur er­wi­dert wird oder sich auf part­ner­schaf­ten be­schränkt, es ist viel mehr eine auf­fas­sung vom le­ben, eine ak­ti­vi­tät:

Liebe ist eine ständige Herausforderung, sie ist kein Ruheplatz, sondern bedeutet, sich zu bewegen, zu wachsen, zusammenzuarbeiten.

fromm dif­fe­ren­ziert die un­ter­schied­li­chen aus­prä­gun­gen der lie­be in sei­nen bü­chern su­per sorg­fäl­tig, zwi­schen ero­ti­scher, müt­ter­li­cher, vä­ter­li­cher, brü­der­li­cher oder selbst­lie­be.

der lie­be zu gott wid­met er das längs­te ka­pi­tel, stutzt sie aber eher auf to­le­ranz und ei­nen glau­ben an das gute im men­schen und der welt zu­sam­men.

all die­se for­men der lie­be be­din­gen ein­an­der und ha­ben so aus­dif­fe­ren­ziert kaum noch et­was mit dem be­griff der lie­be zu tun, den wir im all­tag be­nut­zen.

hmm. das ist jetzt doch ein biss­chen ein schul­re­fe­rat ge­wor­den.


zur auf­lo­cke­rung — aber auch für frie­de­mann ka­rig — baue ich jetzt ein f-wort ein.

lie­be ist — nach fromm — sehr viel mehr, sehr viel weit­rei­chen­der, als nur ero­ti­sche lie­be.

vor zwei wo­chen habe ich im spie­gel (wie ca­ro­lin emke) ein in­ter­view mit der li­te­ra­tur-no­bel­preis­trä­ge­rin toni mor­ri­son ge­le­sen. eine der fra­gen an mor­ri­son be­zog sich auf die do­ku­men­ta­ti­on „i am not your ne­gro“ über den schrift­stel­ler ja­mes bald­win. dar­in habe bald­win ge­sagt, dass die ame­ri­ka­ner gern dumm­heit und un­rei­fe mit auf­rich­tig­keit ver­wech­sel­ten — der spie­gel frag­te mor­ri­son, ob trump ein tref­fen­des bei­spiel „für die­se fast 40 jah­re alte ana­ly­se“ sei.

ab­ge­se­hen da­von, dass ich glau­be, dass rei­fe oder mensch­lich­keit kei­nes­wegs ei­nen ho­hen in­tel­li­genz­quo­ti­en­ten vor­aus­setz­ten, und ich heu­te gar nicht über den nar­zis­ten trump re­den will, blieb ich am be­griff der rei­fe hän­gen, von dem fromm eben­falls in al­len mög­li­chen schat­tie­run­gen spricht.

ich ver­such­te eine quel­le für das zi­tat von bald­win zu fin­den — und fand, statt ei­nes zi­tats, vor­trags­gold. sei­ten­wei­se zi­ta­te, die ich eine stun­de lang vor­le­sen könn­te.

ich woll­te aber zu­erst auf die­ses zi­tat hin­wei­sen.

The place in which I'll fit will not exist until I make it.

bald­win sagt, dass es den ort, an den man passt, erst dann gibt, wenn man ihn sich selbst macht. da­mit sagt er ei­gent­lich das glei­che wie fromm, wenn er da­von re­det, dass wir uns das le­ben lang zur ge­burt brin­gen müss­ten; glück und zu­frie­den­heit, die über­win­dung von angst und trau­rig­keit wach­sen aus uns selbst — wenn wir dran ar­bei­ten.

You write in order to change the world ... if you alter, even by a millimeter, the way people look at reality, then you can change it.

hier sagt bald­win, dass wir schrei­ben um die welt zu ver­än­dern und wenn wir es schaf­fen, die art, wie die leu­te die rea­li­tät wahr­neh­men, auch nur ei­nen mil­li­me­ter zu ver­schie­ben, dass wir sie dann auch än­dern kön­nen.

die­ses zi­tat ge­fällt mir ei­ner­seits, weil es eine su­per über­lei­tung zu mei­nem nächs­ten the­men­block ist, aber auch, weil es das wie­der­gibt, wor­über vie­le an­de­re (und ich) in den letz­ten jah­ren auf der re­pu­bli­ca ge­re­det ha­ben:

wenn wir die wahr­neh­mung der welt durch ge­schich­ten, nar­ra­ti­ve oder das was wir tun auch nur ei­nen mil­li­me­ter be­we­gen kön­nen, dann kön­nen wir auch die welt ver­än­dern.

der ent­schei­den­de punkt ist — mei­ner mei­nung nach: die welt ver­än­dert sich seit jahr­hun­der­ten, im gros­sen und gan­zen, mil­li­me­ter­wei­se, zum gu­ten. wir se­hen das al­ler­dings nicht im­mer ganz klar, weil die be­we­gung zum gu­ten, zum bes­se­ren, über­deckt wird von schwin­gun­gen.

das sind die schwin­gun­gen der son­ne am ers­ten und zwei­ten märz. (na­tür­lich schwingt die son­ne nicht — es ist nur un­se­re wahr­neh­mung vom son­nen­win­kel)

an­fang märz sind die näch­te län­ger als die tage. viel mehr sieht man nicht.

das ist die ers­te märz-wo­che. wenn man ge­nau hin­sieht, sieht man be­reits eine ten­denz, aber noch sehr un­deut­lich.

wenn man die zeit vom ers­ten zum 15. märz an­sieht, ist die ten­denz zu län­ge­ren ta­gen deut­lich sicht­bar.

und erst recht, wenn man den gan­zen mo­nat be­trach­tet. dann sieht man deut­lich die ten­denz zu län­ge­ren ta­gen.

po­li­tisch ist das ganz ähn­lich. da geht es auf und ab, zwi­schen den po­len.

mal sind pro­gres­si­ve­re kräf­te am he­bel, mal sind es kon­ser­vie­ren­de, eher rück­wärts­ge­wand­te, gest­ri­ge kräf­te.

aber, zu­min­det in de­mo­kra­ti­schen ge­sell­schaf­ten, sind die auf-und-ab-be­we­gun­gen ge­dämpft, durch in­sti­tu­tio­nel­le oder ge­sell­schaft­li­che wi­der­stän­de.

und wenn man die au­gen zu­kneift (oder mei­nen selbst­ge­mal­ten gra­phen glau­ben schen­ken will) kann man auch hier eine ten­denz be­ob­ach­ten. ge­sell­schaft­lich be­we­gen wir uns nach vor­ne, in rich­tung von fort­schritt­li­chen ideen von ge­rech­tig­keit, gleich­be­rech­ti­gung und to­le­ranz.

50er-jah­re-wit­ze oder -wer­bung funk­tio­niert heu­te nicht mehr, egal ob der gag bra­chi­al oder sub­til ist.

es gibt zwar im­mer noch vie­le men­schen, die sich eine zeit zu­rück­wün­schen, in der sol­che an­zei­gen nor­mal wa­ren. aber ge­sell­schaft­lich, ins­ge­samt, ha­ben wir uns in den letz­ten 60, 70 jah­ren weit weg von sol­chen wit­zen be­wegt.

im fern­se­hen se­hen wir statt­de­sen trans-men­schen in haupt­rol­len, in ne­ben­rol­len, por­trai­tiert als ganz nor­ma­le men­schen — nicht als freaks.

min­des­tens ein schwu­les päär­chen ist seit acht jah­ren in der sehr er­folg­rei­chen fa­mi­li­en co­me­dy-se­rie mo­dern fa­mi­ly zu se­hen, die auf dem zum dis­ney-kon­zern ge­hö­ren­den US-sen­der ABC läuft.

noch vor 20 jah­ren, er­zürn­te das co­ming out von el­len de ge­ne­res in ih­rer da­ma­li­gen, sehr er­folg­rei­chen ABC sit­com el­len, so vie­le zu­schau­er, dass die se­rie we­gen ein­bre­chen­der zu­schau­er­zah­len schliess­lich ein­ge­stellt wur­de.

na­tür­lich gibt es nach wie vor teils er­bit­ter­ten wi­der­stand und par­zi­el­le ra­di­ka­li­sie­run­gen ge­gen sol­chen ge­sell­schaft­li­chen wan­del, aber ich glau­be die rich­tung stimmt, auch wenn auf fort­schrit­te im­mer wie­der eine re­gres­si­on folgt, oder wir manch­mal den­ken, schon wei­ter ge­we­sen zu sein.

fromm fand das üb­ri­gens auch, in den sieb­zi­ger jah­ren hat er in ha­ben oder sein ge­schrie­ben, dass es sich beim „Zu­sam­men­bruch der pa­tri­ar­cha­li­schen Herr­schaft über die Frau­en und der Herr­schaft der El­tern über die Kin­der […] um his­to­ri­sche Ver­än­de­run­gen han­delt, die kaum re­ver­si­bel er­schei­nen“.

er nann­te die re­vo­lu­ti­on „der Frau­en und der Kin­der so­wie die se­xu­el­le Re­vo­lu­ti­on“ sieg­reich, auch wenn sie sich noch im an­fangs­sta­di­um be­fän­den, denn:

Ihre Forderungen wurden bereits vom Bewusstsein der Mehrheit akzeptiert, und die alten Ideologien werden mit jedem Tag lächerlicher.

ich schlies­se aus dem was fromm sagt und was ich be­ob­ach­te: ideen, ge­sell­schafts­nor­men von min­der­hei­ten kön­nen sich in der brei­te der ge­sell­schaft durch­set­zen — wenn sie hu­ma­nis­tisch ge­prägt sind.

was wir zur zeit, qua­si live, be­ob­ach­ten kön­nen sind wei­te­re ge­sell­schafts­trans­for­ma­tio­nen, vor al­lem be­mü­hun­gen um eine trans­for­ma­ti­on der spra­che zu mehr acht­sam­keit. zum bei­spiel acht­sam­keit dar­auf, an­de­re men­schen nicht zu ver­let­zen oder sie auch sprach­lich an­stän­dig zu be­han­deln.

auch hier gibt es er­bit­ter­ten wi­der­stand, den wir täg­lich bis hin­ein in un­se­re fil­ter­bla­sen be­ob­ach­ten kön­nen. wo­bei wi­der­stand ge­gen sprach­ver­än­de­rung — egal ob nach rechts oder links — der bei wei­ten un­in­tel­li­gen­tes­te vor­stell­ba­re wi­der­stand ist. spra­che ver­än­dert sich ein­fach, un­auf­halt­sam — weil sie lebt.

aber sie lebt na­tür­lich nur, weil wir — wir alle — sie stän­dig mit le­ben füt­tern und sie be­nut­zen.

und weil wir und im­mer neue ge­ne­ra­tio­nen, le­ben, uns wei­te­ren­wi­ckeln, wach­sen, uns ver­än­dern — und spre­chen — kön­nen wir die spra­che mit le­ben fül­len.

wi­der­stand ver­än­dert spra­che nicht. spra­che ver­än­dert sich, wenn sie mit le­ben ge­füllt wird. wir müs­sen aber dar­auf ach­ten, dass sie nicht mit ne­ga­tiv, de­struk­tiv, un­mensch­lich ge­präg­tem hal­tun­gen ge­füllt wird. und das kön­nen wir, in­dem wir po­si­tiv ge­gen­steu­ern. mit ei­ner ein­fa­chen, men­schen­freund­li­chen spra­che, die wir ein­fach im­mer be­nut­zen — und auf sie ach­ten.

im zu­sam­men­hang mit spra­che wur­de auf die­ser re­pu­bli­ca auch viel über hass ge­re­det. für den psy­cho­lo­gen fromm ist hass ein sym­ptom.

hass, sagt fromm, sei auf ei­nen man­gel an selbst­lie­be zu­rück­zu­füh­ren.

ich fin­de es leuch­tet ein und ich hät­te ger­ne ein pumuckl-zi­tat ge­zeigt, das be­weist, dass fromm hier recht hat. ich habe aber keins ge­fun­den und muss (wie­der) ja­mes bald­win zi­tie­ren, der hat das näm­lich ge­nau so ge­sagt, also muss es stim­men:

Hatred is always self hatred, and there is something suicidal about it.
— james baldwin

fromm weist dar­auf hin, dass selbst­sucht und selbst­lie­be nicht das glei­che sei­en:

Der Selbstsüchtige liebt sich selbst nicht zu sehr, sondern zu wenig: tatsächlich hasst er sich.

Dieser Mangel an Freude über sich selbst und an liebevollem Interesse an der eigenen Person […], gibt ihm ein Gefühl der Leere und Enttäuschung. Er kann deshalb nur unglücklich und eifrig darauf bedacht sein, dem Leben die Befriedigung gewaltsam zu entreissen, die er sich selbst verbaut hat.

fromms ant­wort auf die fra­ge, wo­her der hass kommt, näm­lich durch man­gel an selbst­lie­be, ist ähn­lich un­be­frie­di­gend und un­prak­tisch wie die ant­wort auf „die Fra­ge nach dem Le­ben, dem Uni­ver­sum und dem gan­zen Rest“ von dou­glas adams.

viel­leicht stel­len wir die fra­gen nach den grün­den der pro­ble­me der welt nicht dif­fe­ren­ziert ge­nug?
oder viel­leicht su­chen wir die ant­wor­ten an der fal­schen stel­len?

mei­ne schluss­fol­ge­rung aus dem was fromm schreibt und sagt ist je­den­falls, dass wir bei der lö­sung der pro­ble­me der welt nicht aus­schliess­lich bei „den an­de­ren“ an­fan­gen soll­ten — und kön­nen — son­dern bei uns selbst. bei un­se­rer ei­ge­nen fä­hig­keit zu lie­ben, das le­ben zu lie­ben, uns selbst zu lie­ben, an­de­re zu lie­ben.

oder we­ni­ger pa­the­tisch aus­ge­drückt, wir soll­ten uns, un­ser le­ben, un­se­re hal­tung zur welt dar­auf prü­fen, ob da nicht auch sehr viel von dem was wir in der welt ver­ab­scheu­en, das wo­ge­gen wir kämp­fen oder kämp­fen wol­len, ob da­von nicht auch ganz viel in uns selbst steckt.

fromm for­mu­liert in ha­ben oder sein eine re­la­tiv ra­di­ka­le ge­sell­schafts­kri­tik, die ich nicht ganz so su­per fin­de und die sich, ganz grob so zu­sam­men­fas­sen lässt:

un­se­re heu­ti­ge kon­sum­ge­sell­schaft be­tont das ha­ben mehr als das sein. fromm sagt, die schwä­che un­se­rer ge­sell­schaft sei, dass sie kei­ne idea­le mehr bie­te, kei­ne vi­si­on mehr kennt — aus­ser der des mehr-ha­ben-wol­lens. wir le­ben laut fromm in ei­nem ge­sell­schaft­li­chen ex­pe­ri­ment zur be­ant­wor­tung der fra­ge, ob ver­gnü­gen und kon­sum eine be­frie­di­gen­de lö­sung des mensch­li­chen exis­tenz­pro­blems sein könn­te.

er meint, die­ses ex­pe­ri­ment sei be­reits ge­schei­tert.

un­ser wirt­schaft­sys­tem wer­de nicht mehr durch die fra­ge be­stimmt „Was ist gut für den Men­schen“, son­dern durch die fra­ge „Was ist gut für das Wachs­tum des Sys­tems?“

und die­se hal­tun­gen des ge­sell­schaft­sys­tems wir­ken (na­tür­lich) auf uns (alle) ein, auf un­se­re ei­ge­ne hal­tung, auf un­ser den­ken. wir spie­len mit und ver­drän­gen die ei­gent­li­che fra­ge: was ist gut für uns?

vor al­lem aber stel­len wir un­ser wachs­tum ein, un­se­re rei­fungs­pro­zes­se.

die­se kri­tik ist nicht neu, neil post­man hat un­se­rer kon­sum­ori­en­tier­ten me­di­en­ge­sell­schaft kind­li­che re­gres­si­on, ein ste­cken­blei­ben im in­fan­ti­len at­tes­tiert. ich bin ei­gent­lich kein gros­ser freund der post­man’schen me­di­en­ge­sell­schafts­kri­tik, auch wenn da was dran ist.

ich möch­te es eher um­ge­kehrt be­trach­ten, op­ti­mis­tisch, kon­struk­tiv: wenn wir es schaf­fen uns von ge­sell­schaft­li­chen zwän­gen zu be­frei­en, angst­freie per­sön­lich­kei­ten zu wer­den, die nicht nur der her­de fol­gen, son­dern selbst, au­to­nom den­ken, sich von zwän­gen und ängs­ten be­frei­en, dann kön­nen wir auf die ge­sell­schaft zu­rück­wir­ken, dank der mo­der­nen mas­sen­me­di­en so­gar ef­fek­ti­ver als je zu­vor.

wenn wir mut fas­sen, schaf­fen wir es, nicht nur zei­chen zu set­zen und sei­fen­bla­sen zu bla­sen, son­dern auch star­ke, be­ein­dru­cken­de bil­der zu schaf­fen.

ich habe es oben ge­sagt, ge­sell­schaft­li­cher wan­del wird oft von min­der­hei­ten ein­ge­lei­tet und im­mer dann mit be­son­ders gros­ser, an­hal­ten­der wir­kung, wenn der an­ge­stos­se­ne wan­del eben nicht de­struk­tiv, son­dern hu­man, mensch­lich, fried­lich — eben hu­ma­nis­tisch — ist.

das kon­zept ist na­tür­lich nicht neu und vie­le hu­ma­nis­ti­sche pro­jek­te die sich lie­be oder brü­der­lich­keit auf die fah­nen schrie­ben, sind in grau­sa­me, men­schen­feind­li­che ideo­lo­gien ge­mün­det.

ich glau­be (trotz­dem) wir kön­nen welt­pro­ble­me durch hal­tung ver­schie­ben.


vor­le­ben ist ef­fek­ti­ver als pre­di­gen.

vor­bil­der funk­tio­nie­ren her­vor­ra­gend um die kon­sum­ge­sell­schaft auf um­dre­hun­gen zu hal­ten. pro­mi­nen­te, in­fluen­cer, vor­bil­der ha­ben sich als so wirk­sam er­wie­sen, dass die kon­sum­in­dus­trie ih­nen das geld wahl­los in den arsch bläst.

dass min­der­hei­ten — oder ein­zel­ne — oder pro­mi­nen­te — gan­ze ge­sell­schafts­schich­ten be­rüh­ren kön­nen ist aber kein rei­nes phä­no­men der mo­der­nen ko­s­um­ge­sell­schaft. das gab es zum bei­spiel im be­reich der mode schon seit hun­der­ten — tau­sen­den jah­ren.

ir­gend­wann muss ir­gend­wer an­ge­fan­gen habe sich weis­se pe­rü­cken oder gi­gan­ti­sche hüte auf­zu­set­zen, ei­ner oder eine, die den mut hat­te, aus der grup­pe aus­zu­sche­ren.

ir­gend­wer, oder ir­gend­ei­ne grup­pe, muss in den acht­zi­gern da­mit an­ge­fan­gen ha­ben, sich schul­ter­pols­ter un­ter die kla­mot­ten zu ste­cken.
und plötz­lich hat sich nicht nur ei­ner lä­cher­lich ge­macht, son­dern so gut wie alle.

ich wie­der­ho­le mich: ich glau­be die ge­sell­schaft lässt sich viel bes­ser durch vor­bild­li­ches ver­hal­ten be­ein­flus­sen, zum gu­ten (und schlech­ten) ver­schie­ben, als durch das pre­di­gen. die­ses prin­zip kennt je­der der schon­mal mit kin­dern zu tun ge­habt hat: kin­der ma­chen nie das was man ih­nen sagt, son­dern das was sie wol­len und sie ah­men das nach, was man ih­nen vor­lebt.

Children have never been very good at listening to their elders, but they have never failed to imitate them.
- james baldwin

wir kön­nen ver­än­de­rung nicht ver­ord­nen, ver­än­de­rung muss wach­sen, am bes­ten aus sich sel­ber her­aus, ohne zwang und nicht aus ge­hor­sam. das funk­tio­niert durch vor­bil­der und ein­sicht.

I can't believe what you say, because I see what you do.
- james baldwin

ich glau­be, wenn wir, wir alle, dar­an ar­bei­ten uns zu ver­bes­sern, zu uns fin­den, selbst­stän­di­ger den­ken, uns ent-täu­schen, von il­lu­sio­nen oder ra­tio­na­li­sie­run­gen frei ma­chen, des­to wirk­sa­me­re vor­bil­der kön­nen wir wer­den.

selbst­op­ti­mie­rung ist mo­men­tan ja durch­aus im trend, wir zäh­len ka­lo­rien, schrit­te, trep­pen­stu­fen, trai­nings­ein­hei­ten, tau­schen schmink­tipps, nicht im­mer, aber meis­tens um an­de­ren zu ge­fal­len.

das kann auch dar­an lie­gen, dass wir noch kei­ne wege ge­fun­den ha­ben, die rich­ti­gen me­tri­ken zu er­fas­sen.

wie misst man eine wach­sen­de per­sön­lich­keit, wert­schät­zung, mensch­lich­keit, hilfs­be­reit­schaft, freund­lich­keit, de­mut, selbst­lo­sig­keit, wohl­tä­tig­keit, hu­ma­ni­tät? wo sind die apps für so­was?

oder an­ders­rum ge­fragt. war­um wirkt es auf uns im­mer noch la­tent schwäch­lich, kränk­lich oder ir­ri­tie­rend, wenn men­schen kom­pe­ten­te hil­fe in an­spruch neh­men, um tief­sit­zen­de, ver­schüt­te­te pro­ble­me an­zu­ge­hen und an ih­rer fä­hig­keit ar­bei­ten, sich selbst und an­de­re bes­ser zu lie­ben?

un­se­re hel­den und stars sind die, die an ih­rem äus­se­ren ar­bei­ten, nicht die, die an ih­rer be­zie­hungs­fä­hi­ge­keit und mensch­lich­keit ar­bei­ten.

an sei­nen mensch­li­chen qua­li­tä­ten zu ar­bei­ten, ist nichts an­de­res als — mei­net­we­gen — ski­fah­ren zu ler­nen. so wie ski­fah­ren, ist die stän­di­ge ar­beit an sich selbst an­stren­gend, aber bei­des führt zu bes­se­rer le­bens­qua­li­tät.


ich möch­te noch ei­nen satz von ca­ro­lin emke in mei­nem sin­ne zu­recht­bie­gen. sie hat am mon­tag dar­über ge­spro­chen, dass man sich ge­sell­schaft­li­che mehr­hei­ten er­ar­bei­ten kön­ne. sie sag­te:

das geht nicht schnell. das ist mühsam. das verlangt womöglich auch, immer wieder, selbstkritik und das überarbeiten der eigenen konzepte und ideen. aber ganau darin besteht politisches handeln.

in mei­nen wor­ten wür­de ich das so sa­gen: die rei­se nach in­nen, im sin­ne fromms, ist auch po­li­tisch. sie ist viel­leicht auch eine der vorraus­set­zun­gen für po­li­ti­sches han­deln.

der deut­sche lao-tse, meis­ter eck­hart, sagt:

Die Menschen sollen nicht so viel nachdenken, was sie tun sollen; sie sollen vielmehr bedenken, was sie sind.

wir soll­ten ein­fach mehr nach­den­ken. nicht dass wir nicht den­ken wür­den, aber wir den­ken even­tu­ell zu oft ein­fach nur mit, als selbst, ei­gen, ak­tiv zu den­ken.

un­se­re frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten sind oft pas­siv ge­prägt: wir las­sen so­zia­le me­di­en oder fern­seh­se­ri­en an uns vor­bei­strö­men, re­agie­ren und li­ken. als fort­ge­schrit­ten gilt schon wer ins thea­ter geht und dort ak­kus­tisch, mit den hän­den lik­ed — oder im le­der­ses­sel ein buch liest oder sich se­hens­wür­dig­kei­ten auf rei­sen an­sieht. aber ei­gent­lich sind die­se frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten vor al­lem frei­zeit-pas­si­vi­tä­ten. wir kon­su­mie­ren vor al­lem.

erich fromm, der jude war, sich aber vom glau­ben lös­te, sang in ha­ben oder sein ein lob­lied auf den sab­bat. wie der christ­li­che sonn­tag, sei der sab­bat ein tag der ruhe, aber „im Sin­ne der Wie­der­her­stel­lung voll­stän­di­ger Har­mo­nie zwi­schen den Men­schen und zwi­schen Mensch und Na­tur.“

am sab­bat dür­fe nichts zer­stört und nichts auf­ge­baut wer­den; der Sab­bat sei „ein Tag des Waf­fen­still­stan­des im Kampf des Men­schen mit der Na­tur“.

„Der mo­der­ne Sonn­tag“, sagt fromm, sei da­ge­gen „ein Tag des Ver­gnü­gens, des Kon­sums und des Weg­lau­fens von sich selbst.“

viel­leicht soll­ten wir pro­bie­ren, ei­nen tag in der wo­che zu uns selbst zu kom­men. ei­nen tag pro wo­che lang nicht ver­su­chen, vor uns selbst weg­zu­lau­fen oder uns ab­zu­len­ken, son­dern nach­zu­den­ken oder an uns zu ar­bei­ten, an un­se­ren fä­hig­kei­ten, an un­se­ren ängs­ten.

ich bin ein gros­ser fan von fern­seh­se­ri­en. ich zäh­le die fern­seh­se­ri­en­fol­gen die ich gu­cke mit die­sem klei­nen tool und sehe dar­an, dass ich vor al­lem zu viel fern­se­he (im schnitt 37 fern­seh­se­ri­en­fol­gen pro mo­nat).

an­fang letz­ten jah­res habe ich das da­mit ra­tio­na­li­siert, dass ich so viel gu­cke um viel im blog re­zen­sie­ren zu kön­nen. ab dem som­mer war mir das dann aber egal, und ich habe ein­fach so wei­ter­ge­guckt.

als ich kürz­lich mit mei­ner schwes­ter und ih­ren kin­dern bei mei­nen el­tern war, er­kann­te ich eine par­al­le­le; ich stell­te mal wie­der fest, dass fern­se­hen, ne­ben schnul­lern, auf hand­ge­rä­ten strö­men­des ganz be­son­ders, wirk­lich das bes­te mit­tel zum ab­stel­len von kin­der­lärm ist.

im ame­ri­ka­ni­schen heis­sen schnul­ler üb­ri­gens dop­pel­deu­tig pa­ci­fier. frie­dens­stif­ter.

pacifier — der Friedensstifter | die Friedensstifterin Pl.: die Friedensstifter, die Friedensstifterinnen
pacifier (Amer.) — der Schnuller  Pl.: die Schnuller
pacifier — Mittel zur Beruhigung

mir fiel auf: das gilt für er­wach­se­ne ge­nau­so! wir be­ru­hi­gen uns mit dem fern­se­hen. es ist das bes­te mit­tel vor uns selbst (und an­de­ren) weg­zu­lau­fen.

um zu zei­gen, was ich mei­ne, lässt sich die­ses zi­tat von ja­mes bald­win wun­der­bar pro­fa­ni­sie­ren:

People can cry much easier than they can change.
— james baldwin

wir wei­nen lie­ber in­spi­riert durch gut ge­mach­te er­zäh­lun­gen, statt (schmerz­haft) an un­se­rer ei­ge­nen er­zäh­lung zu ar­bei­ten.

un­ser mot­to scheint zu sein: lie­ber fern­se­hen, als in­tro­spek­tie­ren.

al­ler­dings: ich mag es nicht, wenn mir an­de­re sa­gen, dass ich me­di­en falsch oder zu hoch­do­siert oder in­ef­fi­zi­ent oder gar krank­haft kon­su­mie­re. des­halb: igno­riert was ich ge­ra­de ge­sagt habe, das soll kei­ne kri­tik an eu­rem so­cial- oder strea­ming-me­di­en-ver­hal­ten sein. macht was ihr wollt.

aber mir fällt auf: wenn man ei­nen schritt zu­rück­tritt und sich selbst be­ob­ach­tet, dass ei­nem dann durch­aus sa­chen auf­fal­len, die man än­dern könn­te. oder müss­te.

ganz all­ge­mein: ich will nicht sa­gen dass wir et­was falsch ma­chen, zu viel dies, zu we­nig das — zu­min­dest nicht pau­schal.

ich will nicht sa­gen ak­tio­nis­mus, po­li­ti­sches en­ga­ge­ment sei­en falsch.

was ich be­to­nen will ist, dass wir ver­su­chen soll­ten zu wach­sen, uns bes­ser ken­nen­zu­ler­nen, uns zu ent-täu­schen, von ge­sell­schaft­lich an­er­kann­ten denk­sche­ma­ta frei zu ma­chen und selbst­stän­di­ger zu den­ken. wir soll­ten ver­su­chen uns von un­se­ren ra­tio­na­li­sie­run­gen und ängs­ten frei­er zu ma­chen, ver­dräng­tes auf­ar­bei­ten und gan­ze­re men­schen zu wer­den.

wir sind schon OK, da glau­be ich fest dran, mit aus­schlä­gen nach oben und un­ten, rechts und links, aber wir ha­ben po­ten­zi­al, sehr viel po­ten­zi­al, in uns selbst. und wenn wir das he­ben kön­nen, kön­nen wir auch bes­ser an­de­ren hel­fen ihre po­ten­zia­le zu er­ken­nen und zum ein­satz zu brin­gen .

ich fin­de po­ten­zi­al zu ha­ben, zu ent­de­cken oder gar zu he­ben, ist das tolls­te auf der welt. aber da­für müs­sen wir nicht nur ant­wor­ten su­chen, son­dern vor al­lem — fra­gen.

ein letz­tes mal möch­te ich ein zi­tat von ja­mes bald­win für mei­ne zwe­cke mis­brau­chen.
wir soll­ten ver­su­chen fra­gen frei zu le­gen, die von den ant­wor­ten ver­deckt wer­den.