Mutterland

[die­ser text von da­ni­el to­bi­as et­zel (blind­tex­ter) er­schien erst­mals in m pu­bli­ca­ti­on vo­lu­me 04 ger­ma­ny. ver­öf­fent­li­chung mit freund­li­cher ge­neh­mi­gung von m pu­bli­ca­ti­on und da­ni­el to­bi­as et­zel. da­ni­el to­bi­as et­zel (blind­tex­ter) schreibt und or­ga­ni­siert ho­tel poet­ry.]

LIE­BES MUT­TER­LAND,

Du hast mich oft ge­fragt, ob ich Dich wirk­lich lie­be. Manch­mal habe ich ge­schwie­gen. Manch­mal habe ich be­jaht. Wenn Du mich dann nach dem War­um frag­test, wuss­te ich nichts be­frie­di­gen­des zu äu­ßern, nu­schel­te et­was von bay­ri­schem Bier, schnel­len Au­tos, klas­si­scher Mu­sik und Wie­ner Schnit­zel. Dir war das im­mer zu we­nig. Wer rich­tig liebt, schaut ge­nau­er hin, sag­test Du. Wer rich­tig liebt, kennt je­des Mut­ter­mal. Erst jetzt weiß ich, dass Du recht hat­test. Habe Dich nicht wirk­lich ge­liebt, Dich bloß kon­su­miert. Dei­ne Stär­ken be­nutzt und über Dei­ne Schwä­chen ge­lacht. Dich be­tro­gen. Mit an­de­ren Län­dern rum­ge­hurt. Schlecht über Dich ge­re­det und da­bei nicht be­merkt, dass ich mich da­mit selbst ver­let­ze. Denn ich bin ein Teil von Dir. Du ge­hörst zu mir. Und ich? Zu Dir!

Du hat­test recht. Du bist viel mehr. Woll­te Dir aus die­sem Grund schon lan­ge ei­nen Brief schrei­ben. End­lich kom­me ich dazu. Auf ei­ner Zug­fahrt in Dei­ner hass­ge­lieb­ten Bahn. Schaue Dich an, wie Du da­liegst. Dei­ne Hü­gel im Mor­gen­ne­bel. Kann förm­lich alle Mu­sen mich um­ar­men füh­len, die einst un­se­re welt­be­kann­ten Dich­ter­he­ro­en küss­ten, wenn Sie auf Dir fla­nier­ten. Vom Zug aus bist Du am schöns­ten, wenn Du un­ter ei­ner Schnee­de­cke schläfst. Dazu ist es noch zu früh.

Du hasst es, wenn ich Dich süß nen­ne. Du willst nicht süß sein. Das wi­der­spricht Dei­nem An­spruch als eine der füh­ren­den In­dus­trie­na­tio­nen. Ja! Du willst im­mer ger­ne füh­ren und groß sein. Bist im­mer noch ge­blen­det, vom Wirt­schafts­wun­der, von Zei­ten, in de­nen Dein All­tag von Über­le­bens­drang und Auf­bau­wil­len ge­prägt war. Von star­ken Frau­en. Von kräf­ti­gen Hän­den aus frem­den Län­dern. Von Auf­schwung. Al­les ging so schnell. Erst hat­test Du al­les ver­lo­ren, dann al­les ge­won­nen. Paus­bä­ckig und selbst­zu­frie­den strahl­test Du vor Glück. Hast Dir den dicks­ten Kanz­ler ge­gönnt, den die Welt je ge­se­hen hat­te und die Frau­en zu­rück an den Herd ge­schickt. Gol­dig fin­de ich das.

Du hisst Dei­ne Fah­ne wie­der mit Pa­thos, aber Dir geht lang­sam die Luft aus. Zum vor Stolz schwel­len reicht es nicht mehr. Du lebst vom My­thos ei­ner Fleiß­na­ti­on. Al­les Ge­schich­te. Die Ge­gen­wart in­ter­es­siert Dich nicht. Lie­bes: wach auf! Du bist ein klei­nes Land. In Dei­ner Brust schla­gen jetzt vie­le Her­zen im un­glei­chen Takt. Ei­nes war lan­ge ein­ge­sperrt, hat­te sich in ar­bei­ter­ro­man­ti­schen Wohl­staats­ideo­lo­gien ver­fan­gen. Du hast es auf­ge­nom­men, mit of­fe­nen Ar­men und doch nicht ak­zep­tiert. Du hast so vie­le auf­ge­nom­men. Du willst im­mer viel. Nur nicht die Wirk­lich­keit.

Du hinkst an Dei­nen Träu­men, Süße. Mit ver­klär­tem Blick stehst Du am Meer, die Schu­he in der Hand, und schaust in die Fer­ne. In Ge­dan­ken an ver­gan­ge­ne Zei­ten. Wie eine ge­al­ter­te Diva. Den gro­ßen Auf­tritt hast Du nur noch vor dem An­klei­de­spie­gel hin­ter ver­schlos­se­ner Tür. Der Vor­hang ist schon lan­ge zu. Das Pu­bli­kum ist ge­gan­gen!

Erst jetzt, wo Du Dich von Dei­ner ver­letz­li­chen Sei­te zeigst, be­gin­ne ich ech­te Ge­füh­le für Dich zu ent­wi­ckeln, auch wenn ich Dein Kla­gen schon lan­ge nicht mehr hö­ren kann. Liebs­tes, schalt den Fern­se­her aus und er­fin­de Dich neu. Spür’ das Le­ben – aus al­len Ecken die­ser Welt. Nimm Dei­ne Na­tio­nen, Dei­ne Kul­tu­ren, Dei­ne Wäl­der, Dei­ne Ber­ge und Tä­ler, Dei­ne Nord- und Dei­ne Ost­see und Dei­nen Er­fin­der­geist. Mach was neu­es draus. Wenn Du dann in den Spie­gel schaust, wirst Du se­hen, dass die Fal­ten und der gla­si­ge Blick ver­schwin­den. Das die Kraft zu­rück­kehrt. Und wenn der Vor­hang sich lang­sam wie­der öff­net , wer­den alle voll­zäh­lig er­schie­nen sein.

Trau Dich!