das internet als wille und vorstellung

felix schwenzel

  deutsch­land­funk.de: Das Di­gi­ta­le um­ar­men - Das In­ter­net als Wil­le und Vor­stel­lung   #

heu­te wur­de im deutsch­land­ra­dio, im rah­men der rei­he „Es­say und Dis­kurs“, mein es­say über das in­ter­net ge­sen­det. den text habe ich mit­te de­zem­ber ge­schrie­ben und im ja­nu­ar noch­mal ein biss­chen ge­kürzt. um den text vor­les­bar zu ma­chen (mp3-link), wur­de er von der re­dak­ti­on ein biss­chen re­di­giert und ge­kürzt, was ihm kei­nes­falls ge­scha­det hat, aus­ser das die links weg­ge­fal­len sind. (in der re­dak­tio­nell be­ar­bei­te­ten und vor­ge­le­se­nen ver­si­on hat sich ein kit­ze­klei­ner feh­ler ein­ge­schli­chen: an ei­ner stel­le heisst es „… hat uns nicht ge­stei­ger­ten Kom­fort und Ge­schwin­dig­keit [ge­bracht].“ wo es na­tür­lich „… hat uns nicht nur ge­stei­ger­ten Kom­fort …“ heis­sen müss­te.)

für mein ar­chiv ver­öf­fent­li­che ich den un­re­di­gier­ten text, so wie ich ihn ab­ge­ge­ben habe, hier noch­mal. hier kann, falls be­darf be­steht, na­tür­lich auch kom­men­tiert wer­den.


An­fang der neun­zi­ger Jah­re fuhr ich nach mei­ner Leh­re nach New York. Ich woll­te die Stadt ken­nen­ler­nen und Da­vid Let­ter­man se­hen. Die Show von Da­vid Let­ter­man wird im Ed Sul­li­van Thea­ter am Broad­way auf­ge­zeich­net. Für die Auf­zeich­nung war es eher schwer an Kar­ten zu kom­men, vor al­lem muss­te man früh auf­ste­hen und sehr lan­ge Schlan­ge ste­hen, was mich da­mals über­for­der­te. Die Sen­dung, die wo­chen­tags abends ge­gen halb zwölf auf CBS aus­ge­strahlt wird, konn­te ich mir da­mals auch nicht an­se­hen, weil mein Ho­tel­zim­mer kei­nen Fern­se­her hat­te. Um Da­vid Let­ter­man aber trotz­dem se­hen zu kön­nen, ging ich ins Mu­se­um for Te­le­vi­si­on and Ra­dio. Dort konn­te man sich Sen­dun­gen aus dem Ar­chiv an­se­hen, die man vor­her be­stel­len muss­te und dann an ei­nem ei­ge­nen Bild­schirm gu­cken konn­te. Für Nor­mal­sterb­li­che war das da­mals eine der we­ni­gen Mög­lich­kei­ten, aus­ge­wähl­te, ame­ri­ka­ni­sche Fern­seh­sen­dun­gen zeit­ver­setzt an­zu­schau­en.

Heu­te kann ich mir Sen­dungs­aus­schnit­te oder auch gan­ze Sen­dun­gen von Da­vid Let­ter­man an­se­hen, ohne Ber­lin oder gar mei­ne Woh­nung zu ver­las­sen. Dank des In­ter­nets kann ich mir ei­nen Gross­teil des ame­ri­ka­ni­schen Fern­se­hens mit ein paar Klicks nach Hau­se ho­len. Im Prin­zip ist das In­ter­net von heu­te eine mo­der­ne, für alle zu­gäng­li­che Ver­si­on des Mu­se­um for Te­le­vi­si­on and Ra­dio. 

Als ich kurz nach mei­ner New-York-Rei­se 1994 an­fing zu stu­die­ren, ahn­te ich noch nicht, dass ich mir 20 Jah­re spä­ter re­gel­mäs­sig über das In­ter­net ame­ri­ka­ni­sche Fern­seh­sen­dun­gen auf mei­nem Lap­top oder Fern­se­her an­se­hen wür­de. Wahr­schein­lich ahn­te das da­mals noch nie­mand, es galt 1994 be­reits als Sen­sa­ti­on, dass man mit den bei­den ge­ra­de ver­öf­fent­lich­ten Web­brow­sern NCSA-Mo­saic und Net­scape Na­vi­ga­tor erst­mals Bild und Text kom­for­ta­bel zu­sam­men über das In­ter­net über­tra­gen und an­zei­gen konn­te.

Ob­wohl ich ei­gent­lich an die Uni­ver­si­tät ge­kom­men war, um Ar­chi­tek­tur zu stu­die­ren, steck­te ich be­reits im ers­ten Se­mes­ter mei­ne gan­ze En­er­gie in den Ver­such, Zu­gang zum In­ter­net zu be­kom­men. An der Uni­ver­si­tät konn­te man an ein paar ver­netz­ten Rech­nern be­reits ins In­ter­net. Ich be­an­trag­te dort zu­erst ein E-Ma­li­kon­to auf dem ge­ra­de erst neu ein­ge­rich­te­ten E-Mail­ser­ver für Stu­den­ten und ei­nen Mo­dem­zu­gang für mei­nen Rech­ner zu­hau­se. Von zu­hau­se ins In­ter­net zu ge­lan­gen, war da­mals un­ge­heu­er kom­pli­ziert. Ne­ben ei­nem Com­pu­ter brauch­te man ei­nen Te­le­fon­an­schluss, ein Mo­dem, ei­nen TCP/IP-Stack, der dem Com­pu­ter die Spra­che des In­ter­nets bei­brach­te, und ein biss­chen Glück, um un­ter der Ein­wahl­num­mer im Re­chen­zen­trum An­schluss zu fin­den, weil nur eine be­grenz­te An­zahl an Ein­wahl­stel­len zur Ver­fü­gung stand. Be­kam man eine Ver­bin­dung zum Re­chen­zen­trum, fing das Mo­dem für ein paar Se­kun­den an zu sin­gen und wenn es ver­stumm­te und lei­se in die Te­le­fon­lei­tung sang, war man drin im In­ter­net. 

Mit der rich­ti­gen Soft­ware konn­te man sich dann im In­ter­net be­we­gen oder ent­lang han­geln oder eben „brow­sen“. Die­se Brow­ser wa­ren noch re­la­tiv neu, wäh­rend das In­ter­net schon 1994 al­les an­de­re als neu war. Un­ter der bun­ten WWW-Ober­flä­che, die der Brow­ser dar­stell­te, la­gen noch vie­le an­de­re, äl­te­re Schich­ten und Pro­to­kol­le. News­grup­pen, Chat­räu­me, Ser­ver die man per „Tel­net“ oder „SSH“ be­tre­ten konn­te und dort Da­tei­bäu­me er­kun­den, Da­tei­en le­sen oder schrei­ben oder Nach­rich­ten an an­de­re Be­nut­zer hin­ter­las­sen konn­te. Das al­les er­for­der­te ent­we­der Kennt­nis­se im Um­gang mit der so­ge­nann­ten Unix-Ko­man­do­zei­le oder Spe­zi­al­soft­ware. Als ich es ir­gend­wann ein­mal nach in­ten­si­vem Kom­man­do­zei­len­stu­di­um schaff­te, ei­nen die­ser Chat­räu­me im so­ge­nann­ten In­ter­net Re­lay Chat (IRC) zu be­tre­ten, hat­te ich mein ers­tes Aha-Er­leb­nis: ich tipp­te „hal­lo“ und als Ant­wort er­schie­nen auf mei­nem Bild­schirm die Wor­te „Hal­lo Fe­lix!“. Das war das ers­te Mal, dass aus mei­nem Com­pu­ter et­was an­de­res her­aus­kam, als ich vor­her ein­ge­ge­ben hat­te. Es war das ers­te mal, dass ich er­kann­te, dass man sich im In­ter­net nicht nur mit Com­pu­tern ver­bin­det, son­dern auch — und vor al­lem — mit an­de­ren Men­schen. Die­se Ver­bin­dung war ei­gen­tüm­lich di­rekt und kör­per­los — aber eben nicht vir­tu­ell, son­dern echt.

Mich fas­zi­nier­te die­se be­son­de­re Art der Kom­mu­ni­ka­ti­on mit an­de­ren, frem­den Men­schen, die auf das Mi­ni­mum, auf rei­ne Spra­che re­du­ziert war. Man hör­te kei­ne Stim­me, sah kei­ne Mi­mik oder Ges­tik, aus­ser den Buch­sta­ben auf dem Bild­schirm blieb der Rest der Phan­ta­sie über­las­sen, wie bei Bü­chern oder an­ony­men Brief­freund­schaf­ten, aber eben in­ter­ak­tiv und in Echt­zeit. Bis heu­te fas­zi­niert mich die Idee, dass ich ins In­ter­net schrei­ben kann und ich da­mit ech­te Men­schen er­rei­chen kann — ohne die­se vor­her auf­zu­su­chen oder an­zu­ru­fen. Auch die Not­wen­dig­keit mei­ne Wor­te aus­zu­dru­cken und von ei­nem Brief­trä­ger, Ver­le­ger oder an­de­ren Mit­tels­mann zum Emp­fän­ger oder Le­ser zu brin­gen fiel ein­fach weg. Da­mals wie heu­te, kommt mir der Blick ins In­ter­net vor wie ein Blick aufs Meer. So wie beim Blick aufs Meer spü­re ich beim Blick ins In­ter­net un­end­li­ches Po­ten­zi­al, fer­ne Län­der schei­nen plötz­lich er­reich­bar, Aben­teu­er, Neu­es und Un­ent­deck­tes greif­bar.

In den letz­ten 20 Jah­ren habe ich gros­se Tei­le mei­nes Le­bens im In­ter­net ver­bracht. Ich bin bei­na­he je­den Tag aufs Neue er­staunt über die wun­der­sa­men Din­ge und Men­schen, die man dort ent­deckt und ken­nen­lernt. Mein ana­lo­ges Le­ben ist dicht ver­wo­ben mit mei­ner di­gi­ta­len Exis­tenz und ich ken­ne nicht we­ni­ge Men­schen, die Freun­de und Le­bens­ge­fähr­ten im oder um das In­ter­net her­um ge­fun­den ha­ben. Das In­ter­net ist Teil mei­nes Le­bens, so wie New York City Teil mei­nes Le­bens wäre, wohn­te ich in New York.

Ich gebe zu, dass mei­ne Be­geis­te­rung für das In­ter­net zu gro­ßen Tei­len von Eu­pho­rie und (Tech­nik-) Op­ti­mis­mus ge­trie­ben ist.; eine Art Fern­weh nach dem Neu­en, dem Un­er­forsch­ten und Un­ent­deck­ten. In den letz­ten Jah­ren ha­ben aber vie­le der frü­hen Weg­be­rei­ter an­ge­fan­gen, das Netz grund­sätz­lich in Fra­ge zu stel­len. So schrieb Sa­scha Lobo An­fang 2014 in der FAZ, dass das In­ter­net „ka­putt“ sei. Er schob aber auch ein­schrän­kend hin­ter­her, dass „die Idee der di­gi­ta­len Ver­net­zung“ nach wie vor sehr le­ben­dig sei. An­fang Ja­nu­ar stellt der ehe­ma­li­ge In­ter­net­un­ter­neh­mer und Au­tor An­drew Keen sein neu­es Buch vor, das er­klä­ren will, war­um das In­ter­net „ge­schei­tert“ sei — und wie er meint, dass wir es „ret­ten“ könn­ten. 

Was ist in den letz­ten Jah­ren pas­siert, dass nach ein paar De­ka­den un­ge­heu­er dy­na­mi­scher Ent­wick­lung und un­zäh­li­gen Er­folgssto­ries, plötz­lich von In­ter­net­sym­pa­thi­san­ten grund­sätz­li­che Kon­struk­ti­ons­feh­ler des In­ter­nets ent­deckt wer­den?

Be­vor ich der Fra­ge nach­ge­he, was Lobo, Keen und vie­le an­de­re dazu be­wo­gen ha­ben könn­te das Netz als „de­fekt“ zu be­zeich­nen, möch­te ich den Blick noch­mal auf die Ent­wick­lung der letz­ten 20 Jah­re rich­ten. Auch wenn das In­ter­net sehr viel äl­ter als 20 Jah­re ist, hat es sich in den letz­ten Jah­ren vor al­lem durch die Er­fin­dung des World Wide Webs und des Brow­sers zu ei­nem Me­di­um ent­wi­ckelt, das so­gar „äl­te­re Da­men mit Hut nach zehn Mi­nu­ten be­die­nen konn­ten“ – wie Pe­ter Gla­ser es ein­mal aus­drück­te.

Das Netz ist in fast alle Le­bens­be­rei­che vor­ge­drun­gen, wir kön­nen im In­ter­net nicht nur Fern­seh­sen­dun­gen aus al­ler Welt se­hen, son­dern auch Wasch­ma­schi­nen und Ki­no­kar­ten be­stel­len, Brief­mar­ken aus­dru­cken, Bü­cher auf Le­se­ge­rä­te la­den oder Flug­ti­ckets be­stel­len — ohne das In­ter­net kann man an der Welt kaum noch teil­neh­men. Selbst wenn man ver­sucht, sich dem In­ter­net zu ver­wei­gern, ent­kommt man ihm nicht: Te­le­fo­na­te wer­den, ob man das will oder nicht, über In­ter­net­lei­tun­gen ge­rou­tet, kaum eine Bank nimmt noch Pa­pier­über­wei­sun­gen an (und wenn doch, dann mit saf­ti­gen Straf­ge­büh­ren). Mi­cha­el See­mann drückt das so aus:

Es gibt kein analoges Leben mehr im Digitalen. Wer Teil der Welt ist, wird Teil des Internets sein.

Ei­ner der Er­folgs­fak­to­ren beim Sie­ges­zug des In­ter­nets ist Kom­fort. Ob­wohl im­mer grö­ße­re Men­gen an Da­ten ge­sam­melt und ge­spei­chert wer­den, wird das Fin­den der pas­sen­den In­for­ma­ti­on im­mer leich­ter. Der Au­tor Da­vid Wein­ber­ger er­klärt ei­nes der Grund­prin­zi­pi­en der In­ter­net-Öko­no­mie wie folgt: um dem In­for­ma­ti­ons­o­ver­kill zu ent­ge­hen und die Da­ten­flu­ten zu ka­na­li­sie­ren, brau­chen wir noch mehr Da­ten. Auch wenn sich das auf den ers­ten Blick pa­ra­dox an­hört, aber durch klu­ge Ver­knüp­fung und aus­ge­feil­te Such­an­fra­gen kön­nen wir im­mer bes­ser Da­ten mit an­de­ren Da­ten ver­knüp­fen und ih­nen im­mer pass­ge­naue­re Ant­wor­ten und Fak­ten ent­lo­cken.

Dank die­ser gi­gan­ti­schen Da­ten­er­he­bung kön­nen Such­ma­schi­nen an­ti­zi­pie­ren was wir su­chen, fin­den wir in so­zia­len Netz­wer­ken un­se­re Freun­de und Be­kann­ten wie­der, se­hen pass­ge­naue, oft güns­ti­ge kom­mer­zi­el­le An­ge­bo­te oder fin­den un­se­ren Weg in frem­den Städ­ten. Als ich die­ses Jahr wie­der mal in New York war, stand mir zum ers­ten mal eine per­ma­nen­te In­ter­net­ver­bin­dung zur Ver­fü­gung. Bei mei­nen vor­he­ri­gen New-York-Be­su­chen bin ich fast nie Bus ge­fah­ren, weil ich ohne frem­de Hil­fe auf den Stadt- und Bus­fahr­plä­nen nicht aus­ma­chen konn­te, wie und wo die Bus­se ge­nau fah­ren. Mit ei­nem in­ter­net­fä­hi­gen Te­le­fon war das hin­ge­gen ganz ein­fach. Ich liess das In­ter­net, in die­sem Fall Goog­le-Maps, wis­sen wo ich hin­woll­te und das Te­le­fon schlug mir ver­schie­de­ne Wege mit ge­nau­en Um­stei­ge­an­wei­sun­gen und An­kunfts­zei­ten vor. Der Preis für die­sen Kom­fort wa­ren mei­ne Stand­ort- und Be­we­gungst­da­ten, die ich an Goog­le, den Te­le­fon­an­bie­ter AT&T und mög­li­cher­wei­se an die NSA wei­ter­gab. Ge­gen mei­ne Stand­ort­da­ten konn­te ich auch kos­ten­lo­se und maß­ge­schnei­der­te Re­stau­rant­emp­feh­lun­gen be­kom­men. Mit der Fours­qua­re-App konn­te ich mir je­der­zeit Re­stau­rants mit mo­de­ra­ten Prei­sen an­zei­gen las­sen, die von an­de­ren Fours­qua­re-Be­nut­zern emp­foh­len und ka­te­go­ri­siert wur­den. Die Qua­li­tät der Fours­qua­re-Emp­feh­lun­gen oder der Goog­le-Weg­be­schrei­bun­gen er­klärt sich zu ei­nem gros­sen Teil durch das Sam­meln gi­gan­ti­scher Da­ten­men­gen. Aus der Ag­gre­ga­ti­on von Be­we­gungs­da­ten tau­sen­der Goo­g­le­be­nut­zer, kann Goog­le Ver­kehrs­stö­run­gen er­ken­nen oder Emp­feh­lun­gen ab­lei­ten. Fours­qua­re, des­sen ge­sam­te Orts­da­ten­bank durch frei­wil­li­ge Nut­zer er­stellt und ge­pflegt wird, kann mir ge­zielt Emp­feh­lun­gen mei­ner Freun­de und Be­kann­ten ge­ben oder be­son­ders be­lieb­te Orte aus den Be­we­gungs­da­ten sei­ner Nut­zer ex­tra­hie­ren.

Na­tür­lich habe ich auch mei­ne Flü­ge und Ho­tels per In­ter­net ge­fun­den und ge­bucht, mei­ne Ver­ab­re­dun­gen mit Freun­den per E-Mail oder Face­book or­ga­ni­siert und die hal­be Rei­se in Echt­zeit für Freun­de, Be­kann­te und in­ter­es­sier­te Frem­de per In­sta­gram oder Face­book do­ku­men­tiert.

Ne­ben dem Kom­fort bei der Ori­en­tie­rung, dem Kon­sum oder der Kom­mu­ni­ka­ti­on, be­schleu­nigt das In­ter­net auch jede In­for­ma­ti­ons­be­schaf­fung. Bei frü­he­ren New-York-Be­su­chen muss­te ich mich noch mit meh­re­ren Kilo Pa­pier und aus­rei­chend Ge­duld aus­stat­ten, um Re­stau­rant­emp­feh­lun­gen, Ki­no­pro­gram­me oder Weg­be­schrei­bun­gen zu be­kom­men. Die­ses Jahr reich­te ein re­la­tiv güns­ti­ger Hoch­leis­tungs­com­pu­ter in Te­le­fon­form und ein paar Be­rüh­run­gen des Bild­schirms. Auch Ti­ckets für Da­vid Let­ter­mans Show kann man On­line be­stel­len.

Na­tür­lich weiss ich, dass die­ser Zu­wachs an Kom­fort und die Be­schleu­ni­gung und Ver­bes­se­rung der In­for­ma­ti­ons­be­schaf­fung mit ei­nem Preis ver­bun­den sind. Wenn ich ein Taxi mit der My­Ta­xi-App be­stel­le, hel­fe ich Ta­xi­zen­tra­len über­flüs­sig zu ma­chen, je­des eBook, das ich kau­fe, trägt dazu bei, das Ge­schäfts­mo­dell des Buch­han­dels in Fra­ge zu stel­len, je­der Zei­tungs- oder Blog-Ar­ti­kel, den ich am Bild­schirm lese, trägt zur Re­du­zie­rung von Print­an­zei­gen­bud­gets bei. Jede Such­an­fra­ge, je­der Klick, den ich tä­ti­ge, hin­ter­lässt Da­ten­spu­ren, die von Drit­ten kom­mer­zi­ell aus­ge­wer­tet wer­den oder von Ge­heim­diens­ten auf­ge­le­sen und ge­sam­melt wer­den kön­nen.

Sa­scha Lo­bos re­si­gnier­te Aus­sa­ge, dass das In­ter­net „ka­putt“ sei, hängt ge­nau hier­mit zu­sam­men. Er dach­te, das In­ter­net sei „das per­fek­te Me­di­um der De­mo­kra­tie und der Selbst­be­frei­ung“ und stell­te, an­ge­sichts der durch Ed­ward Snow­den be­kannt­ge­wor­de­nen To­tal­über­wa­chung des In­ter­nets, fest, das In­ter­net sei nicht das, wo­für er es ge­hal­ten habe. Da sei er wohl naiv ge­we­sen. Ich möch­te mir die­se Nai­vi­tät, die Sa­scha Lobo mit Ver­bit­te­rung ge­tauscht hat, ger­ne be­wah­ren. Auch ich war letz­tes Jahr, als das Aus­maß der Über­wa­chung des In­ter­nets, un­ter an­de­rem durch west­li­che Ge­heim­diens­te, nach und nach be­kannt wur­de, über­rascht vom Um­fang der Maß­nah­men. Und ob­wohl ich die schran­ken­lo­se Aus­spä­hung von Men­schen durch die Ge­heim­diens­te west­li­cher Staa­ten em­pö­rend und de­mo­kra­tie­feind­lich fin­de, ist sie auf den zwei­ten Blick fol­ge­rich­tig. Denn das In­ter­net hat uns nicht nur an vie­len Stel­len ge­stei­ger­ten Kom­fort und Ge­schwin­dig­keit bei der In­for­ma­ti­ons­be­schaf­fung und Kom­mu­ni­ka­ti­on ge­bracht, son­dern vor al­lem ei­nen ra­di­ka­len Kon­troll­ver­lust. 

Bis­her be­traf die­ser Kon­troll­ver­lust vor al­lem eta­blier­te In­sti­tu­tio­nen. We­der die Un­ter­hal­tungs­in­dus­trie, noch das Mi­li­tär oder die Ge­heim­diens­te ha­ben es im In­ter­net­zeit­al­ter ge­schafft, ihre Er­zeug­nis­se oder Da­ten un­ter Kon­trol­le zu be­hal­ten. Auch 15 Jah­re nach dem Auf­kom­men der ers­ten (il­le­ga­len) Mu­sik­tausch­bör­se Naps­ter, kämpft die Un­ter­hal­tungs­in­dus­trie er­folg­los ge­gen das un­er­wünsch­te und mas­sen­haf­te Ko­pie­ren ih­rer Er­zeug­nis­se im In­ter­net. We­der durch re­pres­si­ve, noch durch tech­ni­sche Mass­nah­men ist es der Un­ter­hal­tungs­in­dus­trie ge­lun­gen, die Kon­trol­le über ihre In­hal­te zu­rück­zu­er­lan­gen. Eben­so er­geht es staat­li­chen In­sti­tu­tio­nen und et­li­chen pri­va­ten Un­ter­neh­men, die im­mer wie­der un­dich­te Stel­len zu stop­fen ver­su­chen und trotz­dem im­mer wie­der die Kon­trol­le über ihre Ge­heim­nis­se ver­lie­ren. Es sind die glei­chen Me­cha­ni­ken, die dazu ge­führt ha­ben, dass die NSA gros­se Tei­le ih­rer ge­hei­men Da­ten ver­lo­ren hat, mit de­nen sich Ge­heim­diens­te im Di­gi­tal­zeit­al­ter un­se­rer Da­ten be­mäch­ti­gen: Ver­trau­ens­miss­brauch, Aus­nut­zung von tech­ni­schen Lü­cken, un­zu­rei­chen­de Si­cher­heits­mass­nah­men und die un­end­lich gros­se Ka­pa­zi­tät der Ko­pier­ma­schi­ne In­ter­net.

„Die po­si­ti­ven Ver­spre­chun­gen des In­ter­nets, De­mo­kra­ti­sie­rung, so­zia­le Ver­net­zung, ein di­gi­ta­ler Frei­gar­ten der Bil­dung und Kul­tur“ stellt Sa­scha Lobo frus­triert und wü­tend in der FAZ fest, wa­ren „oh­ne­hin im­mer nur Mög­lich­kei­ten.“ Ich glau­be die­se Ver­spre­chen sind nach wie vor Mög­lich­kei­ten. Mög­lich­kei­ten, für die wir kämp­fen kön­nen und müs­sen, auch un­ter wid­ri­gen Um­stän­den oder in ei­ner Welt in der die bö­sen Mäch­te die glei­chen, oder mäch­ti­ge­ren Werk­zeu­ge, als wir zur Ver­fü­gung ha­ben. Die­se ent­täusch­ten Hoff­nun­gen sind auch das The­ma von An­drew Keen, mei­nem Lieb­lings­in­ter­net­kri­ti­ker, der schnei­dend in­tel­li­gent ist und wie Sa­scha Lobo oder Ja­ron La­nier auch zu gros­sen Tei­len im In­ter­net so­zia­li­siert wur­de. Keen be­klagt nicht nur den gi­gan­ti­schen Über­wa­chungs­ap­pa­rat der das In­ter­net über­schat­tet, son­dern sieht das In­ter­net vor al­lem als ei­nen Tum­mel­platz von Idio­ten, die An­de­ren das Le­ben schwer ma­chen und eine At­mo­sphä­re von In­to­le­ranz und Ag­gres­si­vi­tät schaf­fen. Das In­ter­net zer­stö­re nicht nur un­se­re Frei­heit, son­dern auch un­se­re Kul­tur und Ar­beits­plät­ze. Rie­si­ge, mo­no­po­lis­ti­sche Kon­zer­ne zö­gen uns Da­ten, Zeit, Frei­heit und Geld aus den Ta­schen und mach­ten ei­ni­ge we­ni­ge „weis­se Män­ner“ un­fass­bar reich. 

Ich gehe da­von aus, dass Keens Ana­ly­se rich­tig ist, glau­be aber, dass er die fal­schen Schluss­fol­ge­run­gen dar­aus zieht. Wo­bei die fal­sches­te Schluss­fol­ge­rung auf dem Ti­tel sei­nes neu­en Buchs („Das di­gi­ta­le De­ba­kel: War­um das In­ter­net ge­schei­tert ist - und wie wir es ret­ten kön­nen“) steht: das In­ter­net ist nicht ge­schei­tert, wir ha­ben nur noch nicht die rich­ti­gen Stra­te­gien ent­wi­ckelt, da­mit um­zu­ge­hen.

So ist es zwar rich­tig, dass das In­ter­net die Schat­ten­sei­ten un­se­rer Ge­sell­schaft un­ge­fil­tert sicht­bar macht und bei­spiels­wei­se hass­erfüll­te Le­ser­brie­fe nun nicht mehr im Pa­pier­korb, son­dern in Kom­men­tar­spal­ten oder di­rekt auf Blogs, Twit­ter oder Face­book in al­ler Öf­fent­lich­keit lan­den. Aber nur weil eine neue Tech­no­lo­gie sicht­bar macht, wie viel Hass und In­to­le­ranz noch in un­se­rer Ge­sell­schaft ste­cken, ist die­se Tech­no­lo­gie noch lan­ge nicht „ge­schei­tert“, im Ge­gen­teil. Na­tür­lich wirkt das In­ter­net nicht nur wie ein gi­gan­ti­sches, al­les sicht­bar ma­chen­des Mi­kro­skop, es wirkt auch ver­stär­kend. Je mehr Idio­ten mer­ken, dass sie nicht die ein­zi­gen Idio­ten sind, des­to schlag­kräf­ti­ger und lau­ter wer­den sie. Nur ist Ac­tio auch im­mer noch Re­ac­tio, jede Ak­ti­on hat auch im­mer min­des­tens eine Re­ak­ti­on zur Fol­ge. Auch „die Gu­ten“, die Ver­nünf­ti­gen, Zi­vi­li­sier­ten kön­nen ver­netz­te Sys­te­me auf­schau­keln und Em­pö­rungs­stür­me und So­li­da­ri­täts­wel­len los­tre­ten. Oder an­ders ge­sagt, nicht nur den Idio­ten hat das In­ter­net eine Stim­me ge­ge­ben, auch Leid­tra­gen­de von Idio­tie kön­nen lau­ter und ef­fek­ti­ver denn je Miss­brauch, Be­läs­ti­gung und Dro­hun­gen öf­fent­lich ma­chen — und So­li­da­ri­tät mo­bi­li­sie­ren.

Die Pro­ble­me des In­ter­nets, die Keen ana­ly­siert hat, sind auch nicht in­ter­net-ex­klu­siv. Ich habe die­se Be­ob­ach­tung mal flap­sig mit dem Satz um­schrie­ben: das In­ter­net ist scheis­se, weil die Welt scheis­se ist. Die Schat­ten­sei­ten der Welt be­stehen meis­ten im glei­chen Aus­mass in der ana­lo­gen, wie in der di­gi­ta­len Welt — auch wenn sie, wie ge­sagt, di­gi­tal mit­un­ter deut­li­cher sicht­bar sind. In bei­den Wel­ten, die ei­gent­lich eine sind, müs­sen wir an ih­rer Lö­sung ar­bei­ten.

Die Ar­beit an die­sen Pro­ble­men und der Kampf um Frei­heit und Gleich­be­rech­ti­gung ist nicht leicht und wird in Zu­kunft wahr­schein­lich auch nicht leich­ter. Aber wann in der Welt­ge­schich­te war der Kampf um Frei­heit und Ge­rech­tig­keit je­mals leicht? Als die po­si­ti­ven Ver­spre­chun­gen des In­ter­nets erst­mals 1996 vom ame­ri­ka­ni­schen Mu­si­ker und Bür­ger­recht­ler John Per­ry Bar­low in ei­nem ex­trem pa­the­ti­schen Ma­ni­fest for­mu­liert wur­den, der „Un­ab­hän­gig­keits­er­klä­rung des Cy­ber­space“, er­weck­te er den Ein­druck, dass Un­ab­hän­gig­keit ein­fach er­klärt wer­den müs­se und Ge­rech­tig­keit, Frei­heit und Brü­der­lich­keit sich dann selbst or­ga­ni­sie­ren wür­den. Die­se Uto­pie des „Cy­ber­space“ kann man wohl ge­trost als ge­schei­tert be­trach­ten. Aber Ka­li­for­ni­en wur­de auch nicht als ge­schei­tert be­zeich­net, weil es sich nicht als das Land in dem Milch und Ho­nig flies­sen her­aus­stell­te, als die ers­ten Sied­ler sich dort nie­der­lies­sen. Die Nicht­er­fül­lung über­zo­ge­ner Er­war­tun­gen an ein Sys­tem, lässt nur ein­ge­schränkt Rück­schlüs­se auf den ei­gent­li­chen Zu­stand und die Ei­gen­schaf­ten des Sys­tems zu. Der Schluss­fol­ge­rung, dass man sich das Sys­tem, die Funk­ti­ons­wei­sen, Netz­werk­ef­fek­te und bis­he­ri­gen Ent­wick­lun­gen des In­ter­nets ge­nau an­se­hen, ver­ste­hen und ana­ly­sie­ren muss, um Lö­sun­gen und Stra­te­gien zu fin­den, wür­de wohl auch je­der „In­ter­net­kri­ti­ker“ zu­stim­men. Eben­so dürf­te mitt­ler­wei­le so­gar John Per­ry Bar­low klar sein, dass man auch im Cy­ber­space für Frei­heit und Ge­rech­tig­keit kämp­fen muss und sich Frei­heit und Ge­rech­tig­keit nicht selbst or­ga­ni­sie­ren und Tech­no­lo­gie kei­nes­falls ge­sell­schaft­li­che Struk­tu­ren po­si­tiv oder ne­ga­tiv de­ter­mi­niert. Auch im Cy­ber­space gilt das, was Mi­cha­el See­mann über Tech­no­lo­gie-De­ter­mi­nis­mus sagt:

Technologie determiniert weder die gesellschaftlichen Strukturen noch unser Handeln. Sie eröffnet einen Korridor der Handlungsspielräume, den es politisch auszugestalten gilt. Technologie macht bestimmte Strategien effektiver und verurteilt andere auf lange Sicht zum Scheitern.

Ich habe Mi­cha­el See­mann jetzt schon ein paar mal zi­tiert und möch­te, be­vor wei­te­re Zi­ta­te fol­gen, sein Buch „Das neue Spiel“ noch­mal ex­pli­zit er­wäh­nen. See­manns Ana­ly­se der Pro­ble­me, die uns als ver­net­ze Ge­sell­schaft be­geg­nen, ist na­he­zu de­ckungs­gleich mit der von Sa­scha Lobo oder An­drew Keen. Al­ler­dings sind sei­ne Schluss­fol­ge­run­gen sehr viel un­auf­ge­reg­ter und recht prag­ma­tisch. Das macht sein Buch zu ei­nem lehr­rei­chen Le­se­ver­gnü­gen. Der Ver­zicht auf Weh­lei­dig­keit (wie Gert Sco­bel in 3sat lob­te) und ei­nen über­geig­ten Buch­ti­tel, wird sich aber wohl auch in den Ver­kaufs­zah­len nie­der­schla­gen. Au­toren die eine grund­sätz­lich pes­si­mis­ti­sche Grund­hal­tung schon auf der Ti­tel­sei­te ih­rer Bü­cher an­kün­di­gen, dürf­ten hier bes­se­re Chan­cen auf Best­sel­ler oder den Frie­dens­preis des Buch­han­dels ha­ben.

Skep­sis ge­gen­über neu­en Tech­no­lo­gien ist den Deut­schen nicht fremd. Nicht nur die Ent­hül­lun­gen von Ed­ward Snow­den und die Er­kennt­nis das bei­na­he alle gros­sen In­ter­net-Kon­zer­ne frei­wil­lig oder un­frei­wil­lig Kun­den­da­ten an Ge­heim­diens­te ab­ge­ge­ben ha­ben oder nicht aus­rei­chend ge­si­chert ha­ben, setzt sich im kol­lek­ti­ven In­ter­net­skep­sis-Ge­däch­nis fest. Auch der Ha­cker­an­griff und der Dieb­stahl von un­zäh­li­gen pri­va­ten Fo­tos von Pro­mi­nen­ten im Som­mer des ver­gan­ge­nen Jah­res oder der der An­griff auf Sony Pic­tures im No­vem­ber, bei dem ter­ra­byte­wei­se Da­ten ent­wen­det und ver­öf­fent­licht wur­den (un­ter an­de­rem die Ver­si­che­rungs­num­mern und E-Mails ein­fa­cher An­ge­stell­ter) zei­gen, dass nicht nur In­sti­tu­tio­nen un­ter dem von Mi­cha­el See­mann pos­tu­lier­ten di­gi­ta­len Kon­troll­ver­lust lei­den. 

Un­ter dem Kon­troll­ver­lust lei­den wir alle, egal ob wir im In­ter­net spar­sam mit dem Wei­ter­ge­ben un­se­rer Da­ten sind oder nicht. Auch Men­schen die das In­ter­net gar nicht be­wusst nut­zen, kön­nen ohne wei­te­res die Kon­trol­le über ihre Da­ten ver­lie­ren, zum Bei­spiel wenn sie ein Kon­to bei ei­ner Bank ha­ben, Fo­tos mit ih­rem Smart­phone auf­neh­men oder zu­fäl­lig in ei­ner Fir­ma ar­bei­ten, die das An­griffs­ziel von ver­bre­che­ri­schen Ha­ckern oder Ge­heim­diens­ten wird.

Was soll man also tun, wenn klu­ge Men­schen fest­stel­len, dass das In­ter­net „ka­putt“ oder „ge­schei­tert“ sei, Ar­beits­plät­ze ver­nich­tet, die Kul­tur ge­fähr­det, we­ni­ge weis­se und rück­sichts­lo­se Un­ter­neh­mer un­fass­bar reich macht, die De­mo­kra­tie ge­fähr­det, an vie­len Stel­len ein ras­sis­ti­sches oder se­xis­ti­sches Kli­ma herrscht und auch noch dem Nar­ziss­mus und dem Ver­fall der Ju­gend Vor­schub leis­tet?

Erst­mal das Glei­che was man auch in der ana­lo­gen Welt je­dem Teil­neh­mer emp­feh­len wür­de: kei­ne Pa­nik. Und vor al­lem: kei­ne Pa­nik­ma­che. Der zwei­te Punkt ist sehr schwer durch­zu­hal­ten. Wir ken­nen das aus den Kri­sen der letz­ten Jahr­hun­der­te in der ana­lo­gen Welt: wer am Über­zeu­gensten die Ängs­te und Vor­ur­tei­le der Men­schen schü­ren kann, er­zielt die höchs­ten Po­pu­la­ri­täts­wer­te oder hohe Auf­la­gen. Der Haupt­ge­winn er­folg­rei­cher Pa­nik­ma­che ist oft ein Ein­zug ins Par­la­ment.

Was wir tat­säch­lich brau­chen sind star­ke In­ter­es­sen­ver­tre­tun­gen. Als die Pro­ble­me der In­dus­tria­li­sie­rung im 19. Jahr­hun­dert in der Ge­sell­schaft zu gä­ren be­gan­nen, nann­te die In­dus­trie an­ge­sichts von Aus­beu­tung, Um­welt­ver­schmut­zung und schrei­en­dem Un­recht nie­mand „ka­putt“ oder „ge­schei­tert“. Denn wie auch die gros­sen In­ter­net­kon­zer­ne er­freu­te sich die In­dus­trie des 19. und 20. Jahr­hun­derts bes­ter Ge­sund­heit und Markt­ka­pi­ta­li­sie­rung. Statt­des­sen bil­de­ten sich In­ter­es­sen­ver­tre­tun­gen, die zum Bei­spiel als Ge­werk­schaf­ten an der Ver­bes­se­rung der Ar­beits- und Le­bens­be­din­gun­gen ent­schei­dend mit­wirk­ten.

Um eine In­ter­es­sens­ver­tre­tung zu or­ga­ni­si­se­ren, be­nö­tigt man aber mög­lichst vie­le Men­schen, die In­ter­es­se an ei­ner Sa­che oder ei­nem Pro­blem ha­ben. Men­schen die In­ter­es­se dar­an ha­ben, die Welt, in der sie le­ben zu ver­bes­sern.
Ja, es gibt in der di­gi­ta­len Welt ne­ben Chan­cen und Po­ten­zia­len auch Ge­fah­ren, Un­be­kann­tes und Ab­scheu­li­ches. So wie es das in je­der ei­ni­ger­mas­sen at­trak­ti­ven Gross­stadt auch gibt. Dunk­le Ecken, Dro­gen, Ver­gnü­gungs­vier­tel, Tou­ris­ten, Po­li­zei­über­grif­fe, Ras­sis­mus, Se­xis­mus oder schlecht ge­laun­te Bus­fah­rer. Städ­te funk­tio­nie­ren aber trotz al­le­dem, weil sich aus­rei­chend vie­le Men­schen für ein Le­ben in der Stadt in­ter­es­sie­ren und die Le­bens­be­din­gun­gen dort mit­ge­stal­ten wol­len. 

Auch wenn Sa­scha Lobo ein­mal da­vor warn­te, dass Me­ta­phern, die das In­ter­net be­schrei­ben, stets wei­te Tei­le des In­ter­nets aus­blen­den, hier noch eine wei­te­re Me­ta­pher: Wäre das In­ter­net Ame­ri­ka, wür­den wir Ame­ri­ka wahr­schein­lich ge­ra­de mal bis zum Mis­sis­sip­pi be­sie­delt ha­ben und auch die Ge­bie­te bis zum Mis­sis­sip­pi nur lü­cken­haft kar­to­gra­phiert ha­ben. 

Was wir für die Be­sied­lung und Zi­vi­li­sie­rung der rie­si­gen Wei­ten des In­ter­nets brau­chen, sind nicht nur Skep­ti­ker und War­ner, nicht nur Glücks­rit­ter und Gold­su­cher, son­dern Ar­chi­tek­ten, Phi­lo­so­phen, Ju­ris­ten, Me­dia­to­ren, His­to­ri­ker, aber auch Idea­lis­ten und Op­ti­mis­ten, die In­ter­es­se an die­sem rie­si­gen, teil­wei­se noch un­zi­vi­li­sier­ten Land ha­ben.

Da sich mei­ner Mei­nung nach die di­gi­ta­le und ana­lo­ge Welt im­mer mehr ver­schrän­ken und im­mer we­ni­ger zu un­ter­schei­den sind, ist es ge­nau­so wich­tig für In­ter­es­se an der di­gi­ta­len Welt und ih­ren Chan­cen zu wer­ben, wie vor den Ge­fah­ren und Ri­si­ken zu war­nen. In­ter­net­op­ti­mis­mus muss nicht zwangs­läu­fig naiv sein. Er kann auch sehr rea­lis­tisch aus­ge­prägt sein. Noch­mal Mi­cha­el See­mann:

Die, die auf diese Weise leidenschaftslos auf die Disruption des Alten blicken, handeln sich schnell den Vorwurf ein, naive Internetutopisten zu sein, die nur das Gute im Neuen sehen wollen. Das stimmt nicht. Wenn wir sagen, dass wir das Neue als Neues anerkennen müssen, und aufhören, dem Alten hinterherzutrauern, tun wir das nicht aus Begeisterung für das Neue. Es geht uns nicht darum, das Neue kritiklos zu bejubeln – im Gegenteil. Es ist uns sogar besonders wichtig, die Gefahren, die das Neue Spiel mit sich bringt, herauszustellen. Die Warnung vor dem Untergang des Alten verstellt oft die Sicht auf die echten Herausforderungen. Für das Erkennen dieser neuen Gefahren brauchen wir eine ebenso ungetrübte Sicht wie für das der neuen Chancen […].

Das In­ter­net geht nicht mehr weg. Viel­mehr wird es wird sich im glo­ba­len Maß­tab in im­mer mehr bis­her rein ana­lo­ge Le­bens­be­rei­che aus­brei­ten. Na­tür­lich wird man sich auch dem In­ter­net fern­hal­ten kön­nen, so wie die Amish sich in den USA seit ein paar hun­dert Jah­ren von Tech­no­lo­gie und dem Rest der Zi­vi­li­sa­ti­on fern­hal­ten. Aber das In­ter­net zu er­kun­den, im In­ter­net für de­mo­kra­ti­sche, ge­rech­te und frei­heit­li­che Struk­tu­ren zu kämp­fen, Stra­te­gien ge­gen die un­be­streit­bar zahl­rei­chen Ge­fah­ren zu ent­wi­ckeln und sich da­für ein­zu­set­zen, hört sich mei­ner Mei­nung, nach ei­ner span­nen­de­ren Al­ter­na­ti­ve an.

Na­tür­lich wer­den wir zahl­rei­che wei­te­re Kri­sen und Ge­fähr­dun­gen von Recht und Frei­heit im In­ter­net er­le­ben, es wer­den hef­ti­ge Kämp­fe zwi­schen mäch­ti­gen und we­ni­ger mäch­ti­gen In­ter­es­sen­grup­pen um Ein­fluss und Deu­tungs­ho­heit zu be­ob­ach­ten sein — und viel­leicht wird der Kampf um Frei­heit und Ge­rech­tig­keit auch hin und wie­der schei­tern. Aber statt uns vom In­ter­net ab­zu­wen­den, weil In­ter­net­kri­ti­ker uns gräss­li­che Ge­schich­ten er­zäh­len, soll­ten wir und dem In­ter­net zu­wen­den und ver­su­chen es nach un­se­rem Wil­len und un­se­ren recht­staat­li­chen Vor­stel­lun­gen zu for­men.