Spie­len ler­nen von Chi­na (t3n 48)

felix schwenzel in artikel

Wenn ich die Viel­falt, Krea­ti­vi­tät und enor­me Pro­duk­ti­vi­tät sehe, die von Chi­na aus den Welt­markt seit Jahr­zehn­ten über­schwemmt, fra­ge ich mich, was wir, die uns ja im­mer noch als Ex­port­welt­meis­ter se­hen, von Chi­na ler­nen kön­nen.

Der wirt­schaft­li­che Er­folg Chi­nas ist, trotz vie­ler in­nen­po­li­ti­schen Pro­ble­me, un­be­strit­ten. Vor al­lem pro­du­ziert Chi­na nicht mehr nur bil­li­gen Tand, Plas­tik­spiel­zeug oder mit­tel­gut ge­mach­te Ko­pien west­li­cher Pro­duk­te, son­dern Chi­na hat sich auch zu ei­nem der wich­tigs­ten Pro­du­zen­ten von hoch­wer­ti­gen elek­tro­ni­schen Ge­rä­ten ge­mau­sert. Auf ei­nem die­ser Pro­duk­te tip­pe ich die­se Ko­lum­ne, wäh­rend mir eine Ikea-Lam­pe Made in Chi­na ge­dimm­tes Licht spen­det. Vie­le west­li­che Her­stel­ler las­sen ihre Ge­rä­te nicht mehr nur we­gen der nied­ri­gen Lohn­kos­ten in Chi­na fer­ti­gen, son­dern in zu­neh­men­den Maße auch, weil chi­ne­si­sche Her­stel­ler mitt­ler­wei­le fast die Ein­zi­gen sind, die ent­spre­chen­de Men­gen in der ge­for­der­ten Qua­li­tät lie­fern kön­nen. Auch in Sa­chen Ori­gi­na­li­tät und In­no­va­ti­on kann Chi­na mit­hal­ten. So sind zum Bei­spiel die E-Zi­ga­ret­ten, aus de­nen im­mer mehr Men­schen mit Ni­ko­tin ver­setz­ten Dis­kon­ebel in­ha­lie­ren, eine chi­ne­si­sche Er­fin­dung.

Wenn ich hin­ge­gen Nach­rich­ten lese, fra­ge ich mich, was wir al­les lie­ber nicht von Chi­na ler­nen soll­ten. Chi­na ist eben nicht nur wirt­schaft­lich er­folg­reich, son­dern nach An­sicht vie­ler eine au­to­ri­tä­re Dik­ta­tur. Der Gross­teil der Be­völ­ke­rung lebt nach wie vor in bit­te­rer Ar­mut, Kor­rup­ti­on ist all­täg­lich, po­li­ti­sche Dis­si­den­ten wer­den ver­folgt, das In­ter­net zen­siert. Es gibt vie­le Din­ge, die Chi­na rich­tig macht, aber eben auch vie­le, die west­li­chen und de­mo­kra­ti­schen Wer­ten zu­wi­der lau­fen und die wir kei­nes­falls op­fern soll­ten, um dem wirt­schaft­li­chen Er­folg Chi­nas nach­zu­ei­fern.

Wenn es aber tat­säch­lich et­was gäbe, was wir von Chi­na ler­nen kön­nen, dann wäre es ne­ben ei­ner hem­mungs­lo­sen Ko­pi­er- und Ex­pe­ri­men­tier­freu­de, die Lie­be zum nutz­lo­sen Tand. Der hei­li­ge Ernst, der vie­le un­se­rer Pro­jek­te be­stimmt, wür­de durch eine eher spie­le­ri­sche, kin­disch-neu­gie­ri­ge Her­an­ge­hens­wei­se ei­ni­ges an neu­en, krea­ti­ven und pro­duk­ti­ven En­er­gien frei­set­zen.

Die Lie­be der Chi­ne­sen zum nutz­lo­sen Tand ist vor al­lem auf On­line­märk­ten wie ali­baba.com und in den Märk­ten in Hua­qiang­bei (in der Nähe von Hong­kong) zu be­stau­nen. Die Märk­te er­stre­cken sich über vie­le Stadt­vier­tel und sind zum bers­ten ge­füllt mit elek­tro­ni­scher Mar­ken­wa­re, Fäl­schun­gen und eben mehr oder we­ni­ger ori­gi­nel­len Va­ria­tio­nen von nütz­li­chem und un­nüt­zen Zeug.

Kaia Dek­ker hat kürz­lich dar­über ge­schrie­ben, was man in den Märk­ten von Hua­qiang­bei al­les be­kommt. Ihr Mann Jes­se Vin­cent hat­te die Idee ein paar Kun­den an­zu­bie­ten, ih­nen für 50 Dol­lar eine Kis­te mit „nutz­lo­sem, er­staun­li­chem Mist“ zu schi­cken, den er in den Märk­ten von Hua­qiang­bei kau­fen wür­de. Für je­weils 30 Dol­lar woll­te er Gad­gets für 25 Kis­ten kau­fen, den Rest kal­ku­lier­te er für den Ver­sand und ei­nen mög­li­chen, klei­nen Pro­fit.

Ob­wohl die Händ­ler in den Märk­ten na­tür­lich am ehes­ten auf Käu­fer von gros­sen Stück­zah­len aus sind, wa­ren die Prei­se die Jes­se Vin­cent an­ge­bo­ten be­kam frap­pie­rend. Die völ­lig be­klopp­ten, Si­li­kon-be­schich­te­ten USB-Lämp­chen, die ich für fünf Euro auch schon in deut­schen Elek­tronik­märk­ten ge­se­hen habe und die der­zeit bei Ama­zon für um die drei Euro an­ge­bo­ten wer­den, kauf­te er für elf US Cent pro Stück. Klei­ne USB-Ven­ti­la­to­ren, die man für fluf­fi­ge­re Sel­fies ans Han­dy ste­cken kann, kauf­te er für 45 US Cent. Der Preis bei Ama­zon für ähn­li­che Ven­ti­la­to­ren liegt um die fünf Euro.

Ich mag die­ses un­nüt­ze Zeug wahr­schein­lich aus dem glei­chen Grund, war­um ich (im­mer noch) Über­ra­schungs­ei­er mag: Ei­ner­seits be­wun­de­re ich den Ge­stal­tungs­wil­len und die In­ge­ni­o­si­tät der Kon­struk­teu­re und an­de­rer­seits in­spi­riert mich nutz­lo­ses Zeug, doch noch ei­nen Nut­zen oder eine Ver­wen­dung da­für zu fin­den.

Am meis­ten mag ich an die­sem nutz­lo­sen Zeug aber die Tat­sa­che, dass es das über­haupt gibt, dass es Men­schen gibt, die es wa­gen nutz­lo­se Sa­chen in rie­si­gen Stück­zah­len zu pro­du­zie­ren. Aus die­ser Hal­tung spricht die Zu­ver­sicht, dass es vie­le an­de­re Men­schen gibt, die ihr kind­li­ches Ge­müt be­hal­ten ha­ben, aber vor al­lem die Zu­ver­sicht, dass sich aus nutz­lo­ser Spie­le­rei, aus dem Ex­pe­ri­men­tie­ren, dem Ko­pie­ren, doch ir­gend­wann Chan­cen er­ge­ben et­was Wert­vol­les, Nütz­li­ches, Neu­es zu schaf­fen — oder zu­min­dest Pro­fit und ei­nen Hau­fen neu­es Wis­sen an­ge­sam­melt zu ha­ben.

In­no­va­ti­on ist eine di­rek­te Fol­ge von schein­bar nutz­lo­ser Spie­le­rei. Dar­an soll­te uns Chi­na je­den Tag er­in­nern.

(auf t3n.de le­sen)