ich soll­te mehr trin­ken

felix schwenzel

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es gibt so klei­ne er­in­ne­run­gen, bil­der die man mit sich her­um­schleppt, bil­der von er­eig­nis­sen, von si­tua­tio­nen die klein und un­be­deu­tend er­schei­nen, sich aber ganz tief ins ge­däch­nis ein­gra­ben. am in­ten­sivs­ten ha­ben sich bei mir bil­der ein­ge­brannt die in ei­ner emo­tio­na­len si­tua­ti­on ent­stan­den, aber oft nur bruch­tei­le ei­ner se­kun­de dau­ern. ein blick, eine sub­ti­le ges­te, ein au­gen­blick im wahrs­ten sin­ne des wor­tes, näm­lich der blick in die au­gen ei­nes an­de­ren. oder der win­zi­ge au­gen­blick vor ei­nem un­fall. oder der kur­ze au­gen­blick vor dem auf­prall.

ein sehr in­ten­si­ves bild, dass im­mer wie­der aus mei­nem un­ter­be­wuss­ten ins be­wusst­sein schwappt hat sei­nen ur­sprung in ei­nem klei­nen, un­schein­ba­ren er­eig­niss das aus­ser mir wahr­schein­lich kei­ner wahr­ge­nom­men hat als ich als ra­senä­her ar­bei­te­te. ge­nau­er, ich zog da­mals, an­fang der neun­zi­ger jah­re mit ei­ner grup­pe schwer­ver­mit­tel­ba­rer ar­beits­lo­ser ju­genli­cher durch ful­da und mäh­te dort ra­sen, schnittt he­cken, jä­te­te un­kraut, grub gär­ten um und schich­te­te tro­cken­mau­ern auf. das ar­beits­amt ful­da war der mei­nung, dass man die­se ju­gend­li­chen wie­der ins ar­beits­le­ben in­te­grie­ren kön­ne, wenn man sie an re­gel­mäs­si­ge, sinn­vol­le ar­beit ge­wöh­nen wür­de. ich war in un­se­rer klei­nen grup­pe der ein­zi­ge der ei­nen füh­rer­schein hat­te, die an­de­ren hat­ten ih­ren ver­sof­fen oder gar nicht erst ge­macht. aus­ser­dem war ich dazu aus­er­ko­ren, da­für zu sor­gen, dass die jungs nicht all­zu­vie­le pau­sen mach­ten und die zu­ge­wie­se­ne ar­beit er­le­digt wur­de, ich war eine art mo­ti­va­ti­ons­trai­ner für leu­te die ei­gent­lich lie­ber am ki­osk ge­stan­den hät­ten um dort do­sen­bier zu trin­ken, die fi­cken­de, selbst­tä­to­wier­te ot­ti­fan­ten auf den un­ter­ar­men tru­gen oder auch schon mal da­bei er­wischt wur­den, wie sie rent­nern plas­tik­tü­ten oder brat­hän­chen aus der hand ris­sen und auf ra­sen­mä­hen, schip­pen, schlep­pen und schnip­peln wirk­lich kei­ne lust hat­ten. aus­ser­dem muss­te ich im­mer al­les was nicht mehr funk­tio­nier­te re­pa­rie­ren (ein mo­tiv, dass sich durch mein gan­zes le­ben, bis heu­te zieht), so auch ein­mal ei­nen gros­sen ra­sen­mä­her, ir­gend­ein keil­rie­men war ab­ge­sprun­gen. ich ver­such­te das scheiss­ding ir­gend­wie wie­der auf das an­triebs­rad zu fri­ckeln, zu­letzt nahm ich ei­nen schrau­ben­zie­her zur hil­fe. kurz be­vor ich den rie­men tat­säch­lich wie­der auf das an­triebs­rad be­kom­men hat­te, rutsch­te ich mit dem schrau­ben­zie­her ab und da ich hef­tig an ihm zog, be­weg­te sich die spit­ze ziem­lich schnell in die rich­tung mei­nes rech­ten au­ges. kurz vor mei­nem auge konn­te ich mei­ne hand mit­samt dem schrau­ben­zie­her stop­pen. aus­ser dass ich lei­se „scheis­se“ sag­te, be­merk­te nie­mand ir­gend­et­was. trotz­dem ploppt mir seit­dem die­ser au­gen­blick, das bild wie ich bei­na­he ein au­gen­licht ver­lor, stän­dig wie­der vor mein in­ne­res auge, so in­ten­siv, so selbst­vor­wurfs­voll und -mit­lei­dig, so schmerz­voll, als hät­te ich mir tat­säch­lich das auge aus­ge­sto­chen.

eben­so in­ten­siv, ob­wohl es ei­gent­lich gar nichts mit mir zu tun hat, ver­folgt mich das bild des au­ges das in loi­us bo­ñuels film „der an­da­lu­si­sche hund“ mit ei­ner ra­sier­klin­ge auf­ge­schnit­ten wird. der film, den ich ir­gend­wann mal als 12jäh­ri­ger in ir­gend­ei­nem mu­se­um sah, er­weckt den ein­druck, es sei das auge ei­nes le­ben­den men­schen und auch wenn ich jetzt weiss, dass es ein schnitt-trick war und das auge das ei­nes hun­des war, ich wer­de die in­ten­si­tät die­ses bil­des nicht mehr los. viel­leicht bin ich mit au­gen auch be­son­ders emp­find­lich. wenn je­mand an­ders im sel­ben raum wie ich ein ge­rö­te­tes auge hat oder über au­gen­ju­cken klagt oder ei­nen fremd­kör­per im auge hat, fängt mein auge au­gen­blick­lich auch zu ju­cken oder zu trä­nen oder zu rei­zen an.

manch­mal wa­che ich von der vor­stell­lung auf, dass ich mit den fin­ger­nä­geln über nicht mehr ganz glän­zen­den au­to­lack krat­ze. die vor­stel­lung al­lein sorgt bei mir für eine gän­se­haut, ko­mi­scher­wei­se ist der au­to­lack meist gift­grün. das bild schleicht sich manch­mal un­ver­mit­telt von hin­ten an und bleibt manch­mal stun­den­lang vor mei­nem auge ste­hen.

be­son­ders gut kann sich der mensch of­fen­bar an ge­sichts­aus­drü­cke der ver­wun­de­rung oder über­ra­schung er­in­nern. man kann es leicht aus­pro­bie­ren: ein­fach an ei­ner viel­be­fah­re­nen stras­se ge­gen den ver­kehr ent­lang­ge­hen und die ent­ge­gen­kom­men­den fah­rer mit hoch­ge­ris­se­nem arm grüs­sen. auch wenn die au­tos mit 60 oder 80 ki­lo­me­tern pro stun­de an ei­nem vor­bei­ra­sen, man er­in­nert sich im­mer an den ge­sichts­aus­druck des fah­rers, so als hät­te man ihn für 30 se­kun­den stu­diert oder als hät­te man ein pho­to­gra­phi­sches ge­däch­nis. ganz ab­ge­se­hen da­von, dass alle fah­rer zu­rück­grüs­sen.

die­ses phä­no­me­ne­na­le mensch­li­che ge­sichts­aus­drucks­ge­däch­nis muss auch der grund sein, war­um ich mir, ins­be­son­de­re in emo­tio­nal auf­ge­la­de­nen si­tua­tio­nen, ge­sichts­aus­drü­cke so gut mer­ken kann. ein ge­sichts­aus­druck den ich seit wo­chen nicht los wer­de ist eine mi­schung aus über­ra­schung, ge­ra­de ver­flo­ge­ner gu­ter lau­ne, ver­letzt­heit und ver­wir­rung. mich schmerzt die­ses bild, es be­rei­tet mir ein un­glaub­lich schlech­tes ge­wis­sen, ob­wohl ich weiss, dass die eig­ne­rin des ge­sichts schon lan­ge gras über den au­gen­blick hat wach­sen las­sen. aber ich war der aus­lö­ser, mit ei­ner un­be­dach­ten, über­re­agier­ten äus­se­rung, ei­nem satz, habe ich den ver­stör­ten au­gen­blick aus­ge­löst und den vor­he­ri­gen, fröh­li­chen zer­stört. wie zur stra­fe, wie zur mah­nung hängt mir dann das bild jetzt wo­chen­lang hin­ter­her, viel­leicht ver­lässt es mich nie wie­der.

und viel­leicht ist das auch gut so, wahr­schein­lich sind die­se bil­der, die­se ge­fro­re­nen au­gen­bli­cke ein­fach war­nun­gen, mah­nun­gen vor­sich­tig zu sein, rück­sicht zu neh­men, sich stets zu mer­ken, dass der mensch­li­che kör­per und die see­le fra­gil und sterb­lich sind und dass die lie­be zwar ein üp­pi­ges ge­wächs sein mag, aber eben auch ein ganz zar­tes pflänz­chen ist.