de­mut

felix schwenzel

>

ich mag das wort de­mut. die bei­fah­re­rin hasst es. das kann na­tür­lich auch an un­ter­schied­li­chen in­ter­pre­ta­tio­nen der be­deu­tung lie­gen. für mich spielt der be­deu­tungs­aspekt der un­ter­wür­fig­keit we­ni­ger eine rol­le, als die be­schei­den­heit. und zwar nicht be­schei­den­heit im sin­ne von un­der­state­ment, son­dern im sin­ne ei­nes ein­ge­ständ­nis­ses der ei­ge­nen fehl­bar­keit. des­halb sehe ich de­mut nicht nur als hüb­sches wort, son­dern vor al­lem als eine hal­tung, die den aus­tausch und die kom­mu­ni­ka­ti­on mit an­de­ren men­schen er­leich­tert, aber auch den um­gang mit und das ver­ständ­nis der welt.

vor ei­ner wei­le schrieb ich mal:

wahr­heit ist im­mer ein kom­pro­miss.

das ist na­tür­lich ein po­ten­zi­ell sehr miss­ver­ständ­li­cher satz, zu­mal ich mein zi­tat völ­lig aus dem zu­sam­men­hang ge­ris­sen habe. auf face­book ver­such­te ich den satz auf nach­fra­ge von cars­ten her­ken­hoff et­was zu prä­zi­sie­ren und sag­te, dass es na­tür­lich wahr­heit gebe, sie uns men­schen aber nicht voll­um­fäng­lich zu­gäng­lich sei. cars­ten her­ken­hoff wies dar­auf hin, dass man wahr­heit na­tür­lich im­mer an der mensch­li­chen er­kennt­nis­fä­hig­keit aus­rich­tet und nicht an din­gen die sich der mensch­li­chen er­kennt­nis­fä­hig­keit ent­zie­hen. man kön­ne also durch­aus wahr­hei­ten fes­te­stel­len oder die rich­tig­keit von theo­rien prü­fen. cars­ten her­ken­hoff hat da si­cher­lich recht und die dis­kus­si­on um den be­griff der wahr­heit und zu­min­dest mein um­gang mit spra­che ist al­les an­de­re als prä­zi­se. aber in der sa­che ging es mir dar­um, so­ge­nann­ten wahr­hei­ten im­mer dif­fe­ren­ziert, skep­tisch und mit de­mut zu be­geg­nen. denn ich bin über­zeugt da­von, dass men­schen, die glau­ben im be­sitz der wahr­heit zu sein, die welt zur höl­le ma­chen.

je­den­falls dach­te ich an das, was ich im vor­he­ri­gen ab­satz schrob, als ich die­sen ar­ti­kel über de­mut von wolf­gang lü­nen­bür­ger-rei­den­bach heu­te früh las.

Manch­mal fra­ge ich mich dann […] wo­her sonst die Vor­stel­lung kom­men mag, das Le­ben, die Ge­sell­schaft, das Netz, die Po­li­tik oder was auch im­mer durch­pla­nen zu kön­nen. Ob es wirk­lich und ernst­haft Men­schen ge­ben kann die sich nicht nur ein­zu­re­den ver­su­chen […], sie könn­ten die Zu­kunft ver­trag­lich re­geln oder die Funk­ti­ons­wei­se von ir­gend­was mit Men­schen oder der Na­tur mit­hil­fe von Ge­setz­mä­ßig­kei­ten er­klä­ren und vor­her­sa­gen.

Wit­zi­ger­wei­se habe ich noch nie eine Na­tur­wis­sen­schaft­le­rin ge­trof­fen, die das Kon­zept "Na­tur­ge­setz" für ih­ren Ex­per­ti­se­be­reich für exis­tent ge­hal­ten hät­te. Son­dern al­len­falls für eine Nä­he­rung, die so lan­ge plau­si­bel ist, bis sie wi­der­legt wird.

mir ge­fällt die idee, de­mut als eine art ein­ge­ständ­nis zu se­hen, dass wir fehl­bar und gröss­ten­teils macht­los sind, ohne da­durch un­ter­wür­fig oder trüb­se­lig zu wer­den. im ge­gen­teil; das ein­ge­ständ­nis von fehl­bar­keit be­deu­tet kei­nes­falls, dass man nicht fel­sen­fest von et­was über­zeugt sein kann. so­lan­ge man die­se über­zeu­gung, wie ein gu­ter wis­sen­schaft­ler, als hy­po­the­se be­trach­tet, die durch neue fak­ten, an­de­re blick­win­kel oder per­spek­ti­ven neu eva­lu­iert oder for­mu­liert wer­den muss. spas­ses­hal­ber habe ich mei­ne aver­si­on ge­gen be­stimm­te men­schen im­mer als prak­ti­sche tem­po­rä­re vor­ur­tei­le an­ge­se­hen. ich bin der fes­ten über­zeu­gung, dass vie­le von den men­schen die ich als arsch­lö­cher wahr­neh­me auch wirk­lich arsch­lö­cher sind. aber ich bin je­der­zeit be­reit die per­spek­ti­ve zu wech­seln, oder neue er­kennt­nis­se in ein neu­es tem­po­rä­res vor­ur­teil ein­zu­ar­bei­ten. vie­le leu­te die ich frü­her mal als arsch­lö­cher be­zeich­net habe, sind jetzt bes­te freun­de.

ge­n­au­ge­se­hen sind alle un­se­re ur­tei­le vor­ur­tei­le. wir kön­nen ver­su­chen un­se­re ur­tei­le auf eine mög­lichst brei­te ba­sis zu stel­len, aber nie­mals aus­schlies­sen, dass wir et­was über­se­hen oder ver­ges­sen ha­ben. das ein­zu­ge­ste­hen sehe ich üb­ri­gens als ei­nen der we­ni­gen er­folg­rei­chen schrit­te, die ich in rich­tung er­wach­sen­wer­den un­ter­nom­men habe. die meis­ten kin­der sind un­er­träg­li­che klug­scheis­ser. zu­min­dest ich war das. al­les was ich von ei­ner per­son, der ich gröss­te au­to­ri­tät zu­ge­stand, auf­schnapp­te, war für mich die wahr­heit. eine wahr­heit die ve­he­ment ge­gen an­ders­lau­ten­de be­haup­tun­gen ver­tei­digt wer­den muss­te.

de­mut muss man ler­nen. sie ist ein er­kennt­nis­pro­zess und nichts schwer­mü­ti­ges oder trüb­sin­ni­ges. und: das ein­ge­stän­dis von fehl­bar­keit und macht­lo­sig­keit, kann ei­nem durch­aus si­cher­heit ge­ben.

was ich aber ei­gent­lich sa­gen woll­te: ich freue mich, dass ein theo­lo­ge und über­zeug­ter kirch­gän­ger wie wolf­gang lü­nen­bür­ger auf die glei­chen er­kennt­nis­se wie ein über­zeug­ter athe­ist kom­men kann und dass ich als athe­ist, die glei­chen sinn­sprü­che über­zeu­gend und be­deu­tend fin­den kann, wie ein theo­lo­ge. wolf­gang lü­nen­bür­ger zi­tiert am ende sei­nes ar­ti­kels den theo­lo­gen karl barth:

Die ein­zig mög­li­che Ant­wort auf die wirk­lich ge­won­ne­ne Ein­sicht in die Ver­geb­lich­keit al­les mensch­li­chen Wer­kes ist, sich frisch an die Ar­beit zu ma­chen.

wun­der­bar!

[bild: ent­wurf für das denk­mal für de­mut zur deut­schen ein­heit von ste­phan bal­ken­hol: „der knie­en­de“, © bun­des­amt für bau­we­sen und raum­ord­nung]