mischwald

felix schwenzel in notiert

eben beim durchböättern meiner eigenen ergüsse auf diese alte t3n-kolumne von mir gestossen. und was macht man, wenn man nach zwei wochen arbeit ein archiv von > 10.000 artikeln ex- und importiert hat. wie bekloppt auf dieses archiv hinweisen.

aber weil die kolumne (vom mai 2019) auch noch ganz gut in die heutige politische weltlage passt, poste ich sie hier nochmal im (unredigierten) volltext. (klick)


Auch unter Präsident Donald Trump lautet das offizielle Staatsmotto der USA: „aus den Vielen das Eine“. So steht es seit 1776 (auf Latein) im Staatswappen der USA: „E pluribus unum“. Aus den folgenden knapp 250 Jahren amerikanischer Geschichte kann man ablesen, dass sich dieses Motto als eine Art Zauberformel für wirtschaftlichen und politischen Erfolg bewiesen hat.

Diese Zauberformel, Stärke durch Einheit und Vielfalt, ist ein universelles Prinzip. Komplexe, diverse Ökosysteme funktionieren stabiler als Monokulturen, Staatsgebilde, die offen, pluralistisch und integrativ organisiert sind, die das Gemeinsame, statt Unterschiede betonen, sind stärker — und innovativer — als solche die Vielfalt zu ersticken versuchen.

Nationalisten, Protektionisten und Spalter haben nie verstanden wie Stärke (und Innovation) entsteht: sie entsteht nicht durch Gleichschaltung, Ordnung, Trennung, Reinheit oder Entschlossenheit, sondern, im Gegenteil, durch Vielschichtigkeit, kontrolliertes, kreatives Chaos und das richtige Mass an Unordnung und Freiheit.

Eine der Stärken der Vereinigten Staaten von Amerika war und ist ihre Fähigkeit zur Integration. Nur zur Erinnerung, Elon Musk wurde in Südafrika geboren, Nikola Tesla war Österreicher, Steve Jobs war der Sohn eines syrischen Politikstudenten, Sergey Brin wurde in Moskau geboren und einer der erfolgreichsten Investoren der Digitalökonomie, Peter Thiel, wurde in Frankfurt am Main geboren. Auf einer anderen Ebene hat auch China diese Fähigkeit zur Integration: in China hat man es geschafft ausländische Technik und Technologie so gut zu integrieren, dass China zu einem unverzichtbaren Teil industrieller und digitaler Lieferketten geworden ist. In China adaptiert man Technologie und Technik schneller, als ein deutscher Minister das Wort Strukturwandel auch nur aussprechen kann.

Die Integration von Fremden und Fremdem, gepaart mit einer ausgeprägten Willkommenskultur, die Fähigkeit aus Vielem Eines zu machen — ohne die Vielfalt zu zerstören — dürfte eine der wichtigsten Antworten auf die Frage sein, wie Europa im weltweiten Wettbewerb mit den grossen Blöcken USA, China und Russland bestehen kann.

Das grösste Hindernis auf dem Weg zu so etwas wie den Vereinigten Staaten von Europa ist allerdings die Überwindung einer Art Denkblockade: der Glaube dass wir verlieren (Identität, Sicherheit), wenn wir uns Fremdes und Veränderungen zu eigen machen und integrieren. Aber das Gegenteil ist der Fall, was bereits die jüngere Geschichte der bisher eher zaghaft verlaufenden europäischen Einigung zeigt. Wissenschaftliche Erfolge wie die European Space Agency oder das CERN, wirtschaftliche Erfolge wie Airbus oder politische Erfolge wie innereuropäische Grenzöffnungen und langanhaltender Frieden, werden all zu schnell als Selbstverständlichkeiten gesehen.

Die Skepsis gegenüber grundlegenden Veränderungen sitzt tief in uns allen, weshalb immer wieder nach neuen, besseren, mitreissenderen Visionen für Europa und die europäische Einigung gerufen wird. Aber vielleicht reicht ja schon ein bildlicher Vergleich, zum Beispiel Europa als Mischwald. Ein gesunder Mischwald ist nicht besonders übersichtlich, bietet aber auch zarten Pflanzen Nischen, genauso wie grossen Bäumen. Und auch umgefallene Bäume sind keine Katastrophe, sondern bilden weitere Nischen, in denen Neues und Frisches entstehen kann. Auch ein Mischwald muss gehegt und vor allzu invasiven Arten geschützt, also reguliert werden. Aber anders als ein reiner Fichtenforst, ist ein Mischwald viel robuster und kann auch mal ein paar Jahre lang sich selbst überlassen werden.

Erstaunlicherweise ist die Förderung von Mischwäldern inzwischen sogar ein politisches Ziel im multikulturell eher skeptischen Bayern. Wenn man sich vorstellen kann, dass eine Eiche auch in einem Mischwald keinesfalls ihre Eichen-Identität verliert, sondern im Gegenteil, viel bessere Lebensbedingungen in der Vielfalt eines Mischwaldes vorfindet, müsste man sich doch eigentlich auch mit der Idee eines vereinten Europas anfreunden können, ein Europa, das aus Vielen Eines schafft und die Vielfalt als Wert an sich schätzt und schützt.

Wenn wir wirtschaftlich, digital, sozial und weltpolitisch erfolgreich sein wollen, müssen wir uns, um es mit Konrad Adenauer zu sagen, aus der Enge und Kleinheit Europas „herausdenken“.

So wie ein Wald mehr ist als die Summe der Bäume, ist auch Europa mehr als die Summe der europäischen Staaten und Regionen — und funktioniert doch dann am besten wenn es genau Eins ist.