sigmar gabriel

felix schwenzel, , in wirres.net    

spd im niemandsland

sigmar gabriel hat mich überrascht. als ich seine rede hörte dachte ich zwar zuerst, „was hat der denn für eine hohe stimme“ und „kann dem nichtmal jemand ein taschentuch geben“, erwischte mich aber auch gleichzeitig immer wieder beim zustimmenden (leichten) nicken.

gabriel hat es geschafft in seiner rede nicht nur nicht arrogant zu wirken, sondern sogar ein bisschen aufrichtig, offen und teilweise sogar witzig. ich weiss nicht wie er es gemacht hat, aber an irgendeiner stelle hat er mich so gepackt, dass ich ihm das was er sagte abnahm. kann natürlich sein, dass gabriel einfach einen besseren schauspiel- oder rhetorik-trainer als steinmeier hat, dem ich bei seiner rede auf dem letzten SPD-parteitag ungefähr gar nichts abnahm und hinter jedem bekenntnis, jedem satz und jeder geste kalkül witterte.

gabriel nahm ich es heute ab, dass er die SPD öffnen will, dass er, wie er sagt, wieder die „nervenenden“ (nicht die nervenden!) der gesellschaft in die SPD holen will, dass er mit mit den gesellschaftlichen gruppen die sich von der SPD abgewendet haben nicht nur reden will, sondern sie zu einem echten und kritischen dialog einladen will.

zum ersten mal seit langer zeit, hatte ich bei einem spitzenmann der SPD das gefühl, nicht die staatstragende haltung eines staatspartei-sprechers durchzuhören, sondern, wenn auch sehr zwischen den zeilen versteckt, aber durchaus reininterpretierbar, eine beinahe demütige haltung — oder zumindest eine neugierige zu erkennen. was gabriel in seiner rede „politik-werkstatt“ nannte, nannte björn böhning vorher „sowas wie polit-barcamps“. niemand sei zu unwichtig oder klein, als dass es sich nicht lohnen würde mit ihm zu reden. das hört sich schon ein bisschen anders an, als die alte wir-erklären-euch-das-jetzt-mal-haltung, besonders deutlich noch kürzlich beim dialog mit der „internet comunity“ von martin dörmann illustriert.

obwohl sigmar gabriel einen grossen teil seiner redezeit damit verbrachte für eine öffnung der SPD zu argumentieren, alle gesellschaftlichen gruppen und die eigene basis zum mitmachen anzuregen, forderte gabriel die SPD am ende seiner rede, wie jeder gute floskel-liebhaber, zur „geschlossenheit“ auf. offenheit predigen und geschlossenheit fordern? okok, ix bin da vielleicht etwas spitzfindig, aber wahrscheinlich fällt einem das als politiker gar nicht so schwer, sowohl geschlossen als auch offen zu sein.

gefühlte 150mal bezog sich gabriel auf willy brandt, 20 mal sagte er zwischen den zeilen „tschaka“, pisste allen ein bisschen ans bein, den journalisten, den „neunmalklugen BWL-juppies“, seinen vorgängern im amt des parteivorsitzenden, der manchmal unmotiviert und überaltert wirkenden basis, den polit-bloggern die angeblich hinter ihrer anonymität jeden „menschlichen anstand“ verlieren und schaffte es doch gleichzeitig selbstkritisch und motivierend zu wirken.

das ziemlich gute wahlergebnis von 94,2% hat sich gabriel mit seiner ewiglangen rotz und wasser rede zu recht verdient. als ich ihm gestern ein mieses wahlergebnis prophezeite, hab ich seine rhetorischen fähigkeiten, bzw. seinen redenschreiber schwer unterschätzt, aber immerhin meinen wetteinsatz, ein snickers, nicht verloren, weil keiner dagegen gehalten hat. die handvoll SPDler die ich vor der wahl fragte wie sie die lage einschätzten waren vorsichtigt und wollten sich nicht festlegen — und auch kein snickers von mir.

[nachtrag 16.11.2009]
die rede von gabriel kann man, wie viele andere reden vom parteitag, im SPD-youtube-kanal sehen.

spd im niemandsland