dOCUMENTA (13), tag 2

felix schwenzel, , in wirres.net    

zwei tage regen waren angesagt, aber am ersten tag regnete es überhaupt nicht und am zweiten nur gegen 16 oder 17 uhr mal kurz. um das fridericianum herum türmten sich zwar die wolken auf, aber passiert ist das bis auf zwei kleine schauer nix.

bild von um 14:30 uhr
bild von um 14:30 uhr

ich fuhr mit mit festen willen nach kassel, die diesjährige documenta doof zu finden. nach dem was ich vom balkenhol-theater mitbekommen hatte, erwartete ich einiges an langweiligem „theoretische Treiben“ (niklas maak), eine ähnlich verkopfte documenta wie unter catherine david. meine vorstellung von einer optimalen documenta war immer noch geprägt von der bunten wusel-documenta IX von jan hout. die hatte damals kunst so präsentiert wie ich es am liebsten habe, lebendig, mit einer schamlosen portion kommerz, überbordend und unprätentiös bis zum anschlag.

aber diese documenta hat mich dann doch positiv überrascht. aus zwei gründen: wegen der karlsaue und wie die ausstellung wild in der stadt wucherte. bisher haben zwar alle documentas die ich mir ansah etwas in der karlsaue veranstaltet, meistens aber indem dort grössere temporäre und zentrale ausstellungsstrukturen aufgebaut wurden. dieses jahr wurden in der gesamten karlsaue 50 oder 60 künstler verteilt. manche künstler brachten ihre arbeiten in grossen, manche in kleinen holzhütten unter, manche arbeiten waren unter freiem himmel, manche begnügten sich mit dem pflanzen eines apfelbaumes.

korbiniansapfelbaum
korbiniansapfelbaum

die hauptveranstaltungsorte wie das fridericianum oder die neue galerie waren für meinen geschmack zu überlaufen oder zu kleinteilig, zu eng aufgebaut. in manchen räume gab es einlassbeschränkungen indem man zur gleichen zeit nur eine bestimmte anzahl besucher hereinliess. das ist gut für die kunstrezeption, aber ätzend wenn man ständig in fluren oder treppenhäusern warten muss. wenn man mal an den orten in der karlsaue warten musste, fand ich das viel weniger schlimm; man wartete draussen an der frischen luft und die schlangen waren meist überschaubar.

ganz grandios fand ich viele der in der stadt verteilten orte. ganz grossartig, das kaskade-kino in dem am freitag filme mit tanzenden menschen mit down-syndrom gezeigt wurden. oder die halle an der unteren karlsstrasse, die walid raad mit grossartigen arbeiten bespielte.

walid raad
walid raad

oder die unauffälligen interventionen von renata lucas, die im fridericianum auf dem weg zum klo gut sichtbar versteckt waren und im untergeschoss des kaufhof auch irgendwie nicht auffielen.

renata lucas
renata lucas
renata lucas
renata lucas
renata lucas
renata lucas

von der arbeit her weniger beeindruckend, aber räumlich und (quasi) auch städtebaulich verblüffend, war der leerstehende trakt im C&A-gebäude, der von cevdet erek als raum der rhythmen gestaltet wurde. der ganze nackte beton-trakt wummerte und tschirrpte und bumste mit bässen und echos und anderen unangenehmen geräuschen. zwischendrinn ein paar mini-installationen mit gefunden objekten, linealen und schallschutzwänden — aber auch vier geöffneten türen zu zwei balkonen, die den blick freigaben auf kasseler hinterhöfe.

cevdet erek, raum der rhythmen
cevdet erek, raum der rhythmen
cevdet erek
cevdet erek

meines wissen völlig neu für die documenta war die nutzung es nordflügels des hauptbahnhofs. allein die räume des nordflügels fand ich bereits euphorisier- und inspirierend.

tor, unbekannter vandale
tor, unbekannter vandale

nachdem ich am zweiten tag documenta darauf konditioniert war beim betreten von verdunkelten räumen mit irgendwelchen videoinstallationen oder filmen konfrontiert zu werden, war das betreten des völlig verdunkelten nordflügels am hauptbahnhof umso beeindruckender. als sich meine augen an die dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich in einiger entfernung einen schumrig beleuchteten, riesigen erdhügel von michael portnoy. flickr-benutzer zweiengelundeinbachmann hat das ding ganz schön fotografiert. auch ganz wunderbar in die räume integriert fand ich die kiefernhölzige schneiderei von istván csákány und die beweglichen jalousien von haegue yang.

istván csákány
istván csákány
haegue yang
haegue yang

ich kann mich nur an wenige arbeiten in den eigentlichen ausstellungsgebäuden wie dem fridericianum oder der documenta-halle erinnern, die mich nachhaltig beeindruckt haben. an white-cube-ausstellungsäumen gefällt mir meisten das white-cube-konzept selbst am besten, nicht die kunst dadrin:

documenta halle
documenta halle

das konzept des im park, wald oder der stadt herumirrens und über kunst zu stolpern gefällt mir um ein vielfaches besser. zumal damit auch ein witziges wechselspiel mit den besuchern einhergeht: „ist das jetzt kunst, oder nicht?“

Bitte um mithilfe !!!
Bitte um mithilfe !!!
mini
mini
herz
herz
kein documenta kunstwerk
kein documenta kunstwerk

es gab durchaus auch beeindruckende inszenierungen in geschlossenen räumen. die arbeit von jeanno gaussi, die mit den arbeiten einiger afghanischer künstler im ehemailigen elisabeth krankenhaus untergebracht war, zeigte dass ich wahrscheinlich eher auf black-cube, als white-cube räume stehe. jeanno gaussi zeigte bilder von einem kabuler maler von schildern und werbetafeln, dem sie die dreissig familien-bilder gab die ihr blieben, nachdem sie afghanistan verliess. der auftragsmaler erzählt in videos was er aus den bildern herauslas. ich fand die bilder, die erzählungen, videos und messingtafeln unter den bildern sehr eindrucksvoll und auch ein bisschen verstörend inszeniert.

jeanno gaussi
jeanno gaussi

mich erinnert das documenta-konzept in der karlsaue auch an meine ersten positiven erfahrungen mit kunst überhaupt. in aachen hatten meine eltern bekannte die für die ludwig-schokoladen-fabrik arbeiteten und ein wohnhaus direkt am privatpark von peter und irene ludwig hatten. als kinder spielten wir in diesem riesigen park, in dem gelegentlich stahl oder fiberglas-plastiken rumstanden auf denen wir rumkletterten oder tobten. kunst oder künstlerische interventionen über die man im alltag stolpert finde ich um ein vielfaches spannender als kunst in überfüllten räumen. und das hat die documenta in diesem jahr meisterlich hinbekommen.

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am südflügel des kasseler hauptbahnhofs, wahrscheinlich bei der einzig wirklich beeindruckenden video-installation der documenta von bani abidi, verlor die beifahrerin ihre zwei-tages-eintrittskarte. an der nachrichtenmeisterei bemerkte sie ihr maleur und nachdem wir alle ihre taschen zwei bis dreimal durchsucht hatten, folgten wir dem tipp der aufsicht beim eingang des südflügels zu fragen, ob jemand die karte gefunden hätte. tatsächlich hatte jemand die karte gefunden. als wir zurück bei der nachrichtenmeisterei waren, erzählte uns der aufseher dort, dass das päärchen, das die karte der beifahrerin gefunden hatte, nun seinerseits seine karten verloren hatte. auf dem rückweg zum südflügel fanden wir dann die karten der beiden und gaben sie bei der freudestrahlenden aufsicht am südflügel ab. ob das alles eine inszenierung oder ein zufall war, möchte ich nicht beurteilen.

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sehr prominent auf dem friedrichsplatz hatte sich das occupy-camp eingenistet. auch hier wusste man nicht, ob das zeltlager nun kunst sei oder reiner protest. die übergänge waren fliessend, was mir ausserordentlich gefiel.

occupy
occupy

occupied wurde auch eine arbeit von pedro reyes. seine arbeit war ein konzeptionell etwas überfrachtetes „sanatorium“, eine „utopische »provisorische Klinik«, die typische Krankheiten von Städtern wie Stress, Einsamkeit oder Angstgefühle behandeln soll. Um das Projekt […] zu erleben, muss man sich als Patienten einweisen lassen.“ nach einem kurzen gespräch mit einem „therapeuten“ erhielte man eine diagnose und bekäme drei von sechzehn möglichen „Therapien“ verschrieben. die „Therapeuten“, offenbar schlecht oder gar nicht bezahlte studenten, hatten nach der abreise des künstlers aber wohl keine lust mehr auf die therapie und streikten kurzerhand. sie beklebten die hütte mit protestplakaten und fingen statt um 10 zu therapieren, um 12 an zu streiken indem sie reyes arbeit besetzten.

expen$iv $hit
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karte von zwei tagen documenta
karte von zwei tagen documenta

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