aluhüte und scheinriesen

felix schwenzel, , in wirres.net    

als ich eben diesen text in der taz las, in dem sebastian erb beschreibt wie die #StopWatchingUs-proteste von verschwörungstheoretikern und medienhassern mitgesurft wurden fiel mir sascha lobos tweet von mittwoch wieder ein:

Sascha Lobo
@saschalobo

"Google fotografiert bald Fassaden."
Volk: Apokalypse! Mindestens! –
"Ihr steht alle unter Totalüberwachung."
Volk: Oooh, ein Königsbaby.

ich glaube saschas tweet deutet genau auf das zentrale problem dass die netzgemeinde wir im internet haben (ich nenne „uns im internet“ im folgenden mal „wir“). und dieses problem ist nicht, dass die mehrheit der deutschen blöd ist, wie sascha oben andeutet, sondern dass die mehrheit der deutschen uns nicht versteht, uns die selbsternannten internet-versteher. abgesehen davon, dass ich das internet selbst schon länger nicht verstehe (mir wird das gerade alles zu kompliziert), fand ich das was mit grossen teilen von uns in den letzten wochen passiert ist bemerkenswert. ich habe an mir (und vielen anderen beobachtet), wie ich von einem verschwörungstheorien-skeptiker und jemandem der aluhüte paranoid und ansatzweise lächerlich fand, zu jemandem wurde der plötzlich sagt: huch, stimmt ja doch einiges von dem vor was die aluhüte jahrelang gewarnt haben.

das problem könnte aber sein, dass leute die ohne das technischen wissen, den erste-hand-erfahrungen mit blogs oder sozialen medien die wir jahrelang gesammelt haben, die snowden-enthüllungen im guardian, spiegel oder sonstwo ganz anders interpretieren — und eben nicht wie wir mit aluhutverständnis und -empathie reagieren, sondern uns jetzt als bekloppte verschwörungstheoretiker sehen — oder mindestens als aufbauscher und hysteriker.

wir sehen uns als rational, politisch, freiheitlich und liberal denkende warner in der wüste, schreiben uns die finger wund, reden mit unseren freunden, bekannten und verwandten oder laufen zu tausenden bei fast 40° durch die pralle sonne und wundern uns, warum alle vorbeilaufen oder mit den schultern zucken. so ging es den aluhüten jahrelang, jetzt geht es uns so.

* * *

ganz ehrlich, angesichts der monstrosität der vorwürfe die snowden und glenn greenwald vom guardian erhoben haben, aber vor allem angesichts der komplexität der materie, fällt es mir ungeheuer schwer das alles so zu verstehen, wie ich es gerne würde. anders gesagt, ich würde das gerne genauso skeptisch und rational betrachten wollen, wie ich alles andere in der welt skeptisch, mit distanz, ohne aktionismus oder hysterie betrachten und bewerten würde. dass das zur zeit nicht so ohne weiteres möglich ist, treibt mich beinahe zur verzweiflung.

ich habe immer gerne geglaubt, dass geheimdienste vor allem deshalb im geheimen werkeln, um ihre inkompetenz und unfähigkeit zu verbergen. das ist wie mit den scheinriesen. wenn sie weit weg sind (oder geheim) erscheinen sie monströs und furchtbar, je näher man ihnen kommt (oder je mehr man über sie erfährt), desto kleiner und normaler erscheinen sie einem. das was man in den letzten jahren über den deutschen verfassungsschutz der presse entnehmen durfte, scheint diese theorie zu untermauern.

geheimdienste sind vor allem deshalb effektiv, weil sie es — wie ihre gegenspieler — schaffen, angst und schrecken zu verbreiten. sie statuieren exempel um ihre macht zu demonstrieren und ihre bürokratische struktur, ihre strukturellen schwächen und ihre oftmals völlig inkompetenten führungssrukturen und arbeitsweisen zu verschleiern. das funktioniert bei der polizei, bzw. dem strassenverkehr übrigens nicht anders; es gibt autofahrer die fahren aus einsicht und vernunft mit der vorgeschrieben maximalgeschwindigkeit, es gibt autofahrer die sich an das tempolimit halten, weil sie angst haben erwischt zu werden und es gibt autofahrer die wissen, dass die überwachung lückenhaft und ineffektiv ist und das dann eben ausnutzen und durch die gegend rasen.

in wahrheit hinkt der vergleich natürlich, so wie alle vergleiche mit dem strassenverkehr hinken. trotzdem: wenn man überlegt, wie einfach heutzutage bereits eine zuverlässige, flächendeckende überwachung technisch umzusetzen wäre. wenn die strafverfolgungsbehörden beispielsweise auf die daten der mautbrücken auf den autobahnen zugreifen könnten, könnte man wahrscheinlich 90% aller geschwindgkeitsverstösse auf autobahnen ahnden. das will aber keiner, aus einem ganz einfachen grund:

in deutschland ist das auto eine heilige kuh, nicht das internet. autofahrer möchte kein politiker überwachen oder effektiv, zum beispiel mit einem allgemeinen tempolimit, am töten von mitmenschen hindern. solche vorhaben zur einschränkung der freiheit von autofahrern sind für deutsche politiker stets sehr schmerzhaft und werden von politikern gemieden wie weihwasser.

das es in deutschland andere heilige kühe als das internet gibt, ist übrigens auch die antwort auf sascha lobos verzweifelten tweet oben. niemand (ausser ein paar millionen freaks) liebt das internet, niemand versteht es und vor allem weiss niemand, dass er mittlerweile auch im internet ist, wenn er gar nicht im internet ist. das eigene auto, das eigene haus ist wo sich das leben des durchschnittsdeutschen gefühlt abspielt.

ich bin vom thema abgekommen. ich würde gerne weiterhin denken, dass die geheimdienste dieser welt insgesammt irre ineffektiv sind und nur deshalb angst und schrecken verbreiten, weil sie gelegentlich grossen schaden anrichten und exempel statuieren. ganz im sinne von josef joffe:

Versuche nie durch Konspiration zu erklären, was auf Chaos oder Inkompetenz zurückgeführt werden muss.

aber angesichts der technischen und rechtlichen möglichkeiten derer sich die geheimdienste offenbar in den letzten jahren bedienen konnten, fällt mir das in den letzten wochen zunehmend schwer.

vielleicht ist es keine schlechte idee, nochmal ganz grundsätztlich über überwachung nachzudenken. ohne die konzentration aufs internet. maniac hat das, finde ich, ziemlich gut gemacht:

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