das leben in der blase

felix schwenzel, , in wirres.net    

SPD-parteitag

wozu dient so ein „ausserordentlicher“ parteitag eigentlich? viele, vorwiegend sehr alte menschen treffen sich hier, setzen sich in einen grossen kreis und lassen ihren kanzlerkandidaten eine rede halten, die man anschliessend verteilt und interessierten zum runterladen anbietet. danach wird das „regierungsprogramm“ diskutiert, die änderungsanträge werden abgeschmettert und danach wirds beschlossen oder schöner: „verabschiedet“. danach gehen alle wieder nachhause. wozu? ich glaube so ein parteitag dient ausschliesslich der selbstvergewisserung und selbstbestätigung, der „mobilisierung“ der alten und müden partei-mitglieder.

mir kam zum beispiel die angeblich mit spannung erwartete rede frank-walter steinmeiers vor wie ein zu lang und pathetisch geratener blogartikel, voller unbewiesener behauptungen und wildem rumgemeine. die rede sollte ja zeigen, dass steinmeier und die SPD „es“ wissen wollen. die parallele zur „blogoshäre“ ist frappierend. blogger, wenn sie unter sich sind, werden nicht müde, sich zu versichern, dass sie cooler, schneller, transparenter, besser als journalisten sind, dass twitter das nächste grosse ding sein wird, dass dieses web2.0 die welt revolutionieren wird und dass die piratenpartei demnächst erdrutschsiege einfahren wird. in der eigenen blase hagelt es dann bestätigenden applaus (links, rivva-erwähnungen, retweets), ausserhalb der blase reichts dann gerade mal für 1,3 prozent. bei der SPD euphorisiert man sich mit gelaber über soziale gerechtigkeit, bildung als menschenrecht und arbeit für alle, klascht sich die hände wund und am ende, am wahltag, reichts dann gerade mal für 18 prozent. oder so.

das leben in der blase, wunschdenken bis zum abwinken, sich selbst, seinen überzeugungen und gleichdenkenden zu applaudieren, ist ja auch an sich völlig ok. um sich eine meinung oder überzeugung zu bilden muss man die welt ein bisschen ausblenden. wer nach allen seiten offen ist, kann nicht ganz dicht sein hat mal einer meiner lehrer gesagt. man muss sich abgrenzen. das problem ist nur, wenn man sich zu sehr abgrenzt, zu sehr einigelt, wenden sich die leute ausserhalb der eigenen blase von einem ab.

ich kann gar nicht zählen wie oft ich mir von freunden und bekannten anhören musste, dass sie wirres.net nicht mehr lesen, weil sie diese blogdings-diskussionen und themen, diese lächerlichen kleinkriege und abgrenzungsversuche zu anderen bloggern oder journalisten nerven.

sich vergewissern, dass das was man tut, wie man es tut, richtig ist, sich bestätigen zu lassen dass man nicht alleine so denkt, ähnliche meinungen, lebens und schreibweisen beklatschen, andere abwatschen ist wichtig und identitätsstiftend. man darf es nur nicht übertreiben und beim sich gegenseitig auf die schulter klopfen die anderen vergessen.

ich bin ja durchaus das, was parteistrategen als SPD-nah bezeichnen würden. ich habe in meinem leben mindestens so oft SPD wie die grünen gewählt, wenn nicht sogar ein bisschen öfter. wenn ich aber die rede von steinmeier als meilenweit vorbei an allem was mir politisch wichtig ist empfinde, wenn alle themen die mir politisch auf der seele brennen ignoriert werden und ich mich nicht mal ansatzweise vom SPD-kanzlerkandidaten angesprochen fühle, im gegenteil, wie will die SPD da menschen die weder ein SPD-parteibuch haben, noch stammwähler sind, zu sich hinüberziehen? wie will die SPD die SPD-nahe und -ferne „neue mitte“ (auf die bezog sich steinmeier ausdrücklich) anziehen?

steinmeier hat viel über soziale gerechtigkeit und arbeit geredet und ein bisschen über den umweltschutz, bildung und bildungschancen. diese punkte bezeichnete steinmeier als „richtungsfragen“. das problem bei diesen angeblichen „richtungsfragen“ ist, dass sowohl die CDU, die linke, die grünen und ein bisschen sogar die FDP behaupten dazu gute antworten zu haben. niemand wählt die SPD (oder steinmeier), weil sie ein bisschen bessere oder ein bisschen andere antworten zu diesen fragen hat. im kern unterscheiden sich die antworten der SPD nicht von denen der linken, den grünen oder der CDU. niemand glaubt steinmeier, allein für die angebliche rettung von opel verantwortlich zu sein. niemand nimmt steinmeier ab, dass die insolvenz von arcandor allein der CDU zuzuschreiben ist und zu grösseren sozialen verwerfungen oder schlimmer massenarbeitslosigkeit führen wird.

steinmeier wirkt wie ein mitläufer der laut schreit, wenn ich allein laufe, wird alles besser. steinmeier sitzt im schlamm festgefahren, mit der karte auf dem schoss auf dem beifahrersitz und schreit: „wenn ich am steuer wäre, ich würde die karre wieder aus dem schlamm fahren“. steinmeier ist 4 jahre lang mit angela merkel händchenhaltend im wald herumgeirrt und meint irgendwer würde ihm glauben, wenn er plötzlich behauptet: „jetzt weiss ich wo es langgeht.“ das schlimmste ist, steinmeier glaubt er könne orientierungslos wie alle anderen im wald stehend den wahlkampf auf die frage zuspitzen in welche richtung man von nun an marschiere.

einen satz in steinmeiers rede fand ich entlarvend. er sagte:

Ich sage niemandem in Not: »Du bist nicht systemrelevant.« Keiner von uns würde das tun. Das ist der Unterschied zur Union!

das sagt jemand, der sich 2002 mutmasslich dafür einsetzte murat kurnazs freilassung aus guantanamo zu verhindern und ihn dort weitere vier jahre schmoren zu lassen. die süddeutsche schrieb 2007:

Die Bundesregierung war schon 2002 darüber informiert, dass Kurnaz in Guantanamo physisch und psychisch misshandelt wurde. Beamte des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes, die Kurnaz im September 2002 auf Kuba verhörten, fanden keine Belege für terroristische Aktivitäten von Kurnaz. Dennoch hat die rot-grüne Regierung noch nach der Bundestagswahl 2005 versucht, eine Rückkehr von Kurnaz nach Deutschland zu verhindern.

steinmeier, bzw. die bundesregierung sollen nach berichten der süddeutschen „auch noch 2005 versucht [haben], einen neuen Terrorverdacht gegen den in Bremen geborenen Türken zu konstruieren“. ich persönlich nehme steinmeier seine menschenliebe, seine retter-haltung nicht ab. steinmeier ist über 10 jahre in der regierung und will uns weismachen plötzlich nicht mehr sachzwängen und dienstanweisungen zu gehorchen, sondern menschlich und empörungs-getrieben zu handeln? steinmeier sagte an anderer Stelle: „Das ist der Unterschied zwischen mir und diesen Leuten: dass ich mich noch empöre! Mir macht das was aus! Ich nehme die Sorgen der Menschen ernst.“ dass er die empörung nicht auf deutsche die in todesangst leben, sondern auf deutsche die angst um ihren arbeitsplatz haben beschränken möchte, vergass er zu erwähnen.

steinmeier behauptet er wolle alles besser machen als er es bisher gemacht hat. er behauptet die SPD könne mit ihrem neuen programm, mit ihrer willenserklärung neue arbeitsplätze schaffen, soziale gerechtigkeit schaffen und nebenbei das klima retten. wie? mit mindestlohn, einem button am revers auf dem steht „ich bin gerecht“ und indem man nicht die steuern senkt, sondern in ein paar euro mehr in bildung investiert?

abgesehen davon, dass mehr arbeit, soziale gerechtigkeit, umweltschutz und bessere bildungschancen wichtig und richtig sind, konnte er mich nicht überzeugen, dass er es besser als die derzeitige oder vorherige regierung, denen er seit vielen, vielen jahren angehörte, machen kann. er konnte mir nicht überzeigend erklären wie er und die SPD ihre ziele zu erreichen gedenken, er konnte mich noch nichteinmal davon überzeugen, dass er für die umsetzung seines vorhabens gute und kompetente leute auftreiben kann. und jemand der nichts zu den herausforderungen und vielen offenen fragen und gesellschaftlichen umwälzungen sagt, vor denen wir durch das internet stehen, jemand der nichts zum datenschutz, zu bürgerrechten, zur ausufernden bürokratie und zum zunehmend paranoid und autoritär agierenden staat sagt, jemand der nichts zum ausufernden staatsdefizit, maroden gesundheits- und rentensystem sagt und konkrete vorschläge macht, sondern sich nur hinstellt und sagt „wir können es besser“, so jemanden oder seine partei die das gut findet, möchte ich nicht wählen.

i am not convinced!

[etwas allgemeiner, frédéric valin über den untergang der SPD als „volkspartei“]

[nachtrag 21:53h]
der SPD-politiker urich kelber meint ich irre, wenn ich sage, alle änderungsanträge am regierungsprogramm seien abgeleht worden. er hat sicher recht. vielleicht irre ich auch hier, aber ich hatte den eindruck, dass alle änderungsanträge die während des parteitages vorgetragen wurden, abgeleht wurden. ich weiss von mindestens einem antrag, der vorher eingereicht wurde und ebenso abgelehnt wurde, bzw. gar nicht zur abstimmung kam. gut möglich, dass auch noch während des parteitages am regierungsprogramm was geändert wurde. als zuschauer hatte ich jedoch einen anderen eindruck und genau das wollte ich zum ausdruck bringen.

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