panik­herz

felix schwenzel in gelesen

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fried­rich küp­pers­busch meint in sei­ner re­zen­si­on auf spie­gel.de, das neue buch von ben­ja­min stuck­rad-bar­re sei „geil“. ich fin­de das wort geil eher un­geil und fand das buch ein­fach ziem­lich gut.

tat­säch­lich habe ich mir das buch, wie ein sehr gute fern­seh­se­rie, in an­der­t­alb bin­ge-sit­zun­gen, übers letz­te wo­chen­en­de, am stück rein­ge­zo­gen. eine staf­fel fern­seh­se­rie dau­ert so in etwa 8 bis 14 stun­den, je nach­dem wie vie­le fol­gen sie hat, das panik­herz zu le­sen, dau­ert, laut kind­le-app, ca. 14 stun­den. dass ich nun aus­ge­rech­net ben­ja­min stuck­rad-bar­re bin­ge-ge­le­sen habe und die an­de­ren, ganz si­cher sehr tol­len bü­cher auf mei­nem bü­cher­sta­pel, ne­ben dem bett, wei­ter un­ge­le­se­nes pa­pier sein las­se (so­gar bov’s un­zwei­fel­haft gran­dio­ses au­er­haus) hat­te zwei grün­de. ich hat­te ge­ra­de ein biss­chen die nase voll vom fern­seh­se­ri­en gu­cken und ich hat­te so eine ah­nung.

nach­dem ich die re­zen­si­on von küp­pers­busch und eine von he­le­ne he­ge­mann ge­le­sen hat­te, war ich si­cher, dass mir das buch sehr ge­fal­len wür­de. in bei­den re­zen­sio­nen wur­de klar, dass sich stuck­rad-bar­re in panik­herz, un­ter an­de­rem, mit pro­mi­nen­ten trifft und dar­über schreibt. das roch sehr an­ge­nehm nach deut­sches thea­ter, mei­nem lieb­lings­buch von stuck­rad-bar­re, in dem er iro­nisch di­stan­ziert, aber teil­wei­se mit viel herz und zu­nei­gung, über pro­mi­nen­te schreibt, die er be­sucht. 2010 gab’s dazu eine fort­set­zung, so steht’s zu­min­dest im klap­pen­text von auch deut­sche un­ter den op­fern. nur: auch deut­sche un­ter den op­fern hat­te mir da­mals (bis heu­te) nie­mand emp­foh­len.

nicht dass ich auf das ur­teil oder emp­feh­lun­gen von he­le­ne he­ge­mann be­son­ders viel ge­ben wür­de, aber ich muss nach­träg­lich sa­gen, sie hat in ih­rer re­zen­si­on den geist des bu­ches ziem­lich gut auf den punkt ge­bracht:

Wo nor­ma­ler­wei­se ef­fekt­ha­sche­ri­sche Aus­füh­run­gen dar­über er­fol­gen, wie schlimm al­les ist und wie ernst man sich trotz­dem nimmt, wird hier al­les, was so schlimm ist, mit ei­ner selbst­iro­ni­schen, to­tal kla­ren und un­zy­ni­schen Trau­rig­keit ab­ge­ar­bei­tet, die rüh­rend und ab­schre­ckend und er­hel­lend und in ih­rer, ja, Lie­bens­wür­dig­keit wirk­lich, wirk­lich wich­tig ist.

be­vor ich panik­herz ge­le­sen hat­te, hielt ich die auf­ge­regt­heit ih­rer re­zen­si­on um den „Teu­fels­kreis von De­pres­si­on und Selbst­me­di­ka­men­ti­on“, das „ganz un­ten an­kom­men“ und die to­des­nä­he von ben­ja­min stuck­rad-bar­re für über­trie­ben und er­war­te­te im buch, ne­ben den be­geg­nun­gen mit pro­mi­nen­ten, eher eine öde, mor­gen­ma­ga­zi­ni­ge dro­gen­beich­te: „och ja, hab halt n biss­chen viel ge­kokst, hab mir ein­mal bei­na­he auf die maß­schu­he ge­kotzt und am ende muss­te ich dann die vil­la im tes­sin ver­klop­pen.“

na­tür­lich hat­te he­ge­mann recht (sie hat­te das buch ja auch schon ge­le­sen) und ich nicht, mit mei­nen be­scheu­er­ten vor­ur­tei­len. die „selbst­iro­ni­sche, to­tal kla­re und un­zy­ni­sche“ art, mit der ben­ja­min stuck­rad-bar­re die jah­re sei­ner ma­ni­schen sucht er­zählt, ging mir wirk­lich nah. ob­wohl sich stuck­rad-bar­re je­den pa­thos in sei­ner er­zäh­lung ver­kneift, aus­ser bei sei­nem hem­mungs­lo­sen en­thu­si­as­mus und fan­tum, vor al­lem ge­gen­über udo lin­den­berg, ha­ben mich man­che tei­le der er­zäh­lung tief be­rührt und ge­rührt.

für mich am er­staun­lichs­ten war, wie nach­voll­zieh­bar das al­les er­zählt ist, auch wenn mir der le­bens­til von ben­ja­min stuck­rad-bar­re frem­der nicht sein könn­te. die cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten, die er am hel­den sei­ner au­to­bio­gra­phie her­aus­ar­bei­tet, die irre ei­tel­keit, das be­ses­se­ne ach­ten auf äus­ser­lich­kei­ten und kla­mot­ten, sei­ne tie­fe lie­be zur mu­sik, sei­ne (wahr­schein­lich gut ent­lohn­te) zu­nei­gung zum ver­kack­ten sprin­ger-ver­lag und sei­ne über­bor­den­den emo­tio­nen und ek­sta­tik — da­mit kann ich in mei­nem le­ben we­nig an­fan­gen. mei­ne se­ro­to­nin-pro­duk­ti­on reicht of­fen­bar aus, um mich in ei­nen dau­er­zu­stand brä­si­ger selbst­zu­frie­den­heit zu ver­set­zen.

aber ich er­kann­te auch ge­mein­sam­kei­ten. udo lin­den­berg fand ich im­mer ganz lus­tig, über den song­text von re­na­te von stich konn­te ich mich da­mals ka­putt­la­chen, stark wie zwei hab ich mir mehr oder we­ni­ger am er­schei­nungs­tag ge­holt und cel­lo kann ich stun­den­lang in dau­er­schlei­fe hö­ren. und, jetzt kommts raus, ich will so schrei­ben kön­nen wie ben­ja­min stuck­rad-bar­re. ich war nie ein aus­ge­spro­che­ner fan von ben­ja­min stuck­rad-bar­re, ich hab we­nig bü­cher von ihm ge­le­sen und noch we­ni­ger gut ge­fun­den, ich fand all die fern­seh­auf­trit­te, die ich von ihm sah, doof, aber das was er in deut­sches thea­ter und jetzt in panik­herz ver­an­stal­tet hat, das nö­tigt mir ei­fer­sucht und be­wun­de­rung ab. ben­ja­min stuck­rad-bar­re be­schreibt die­ses ge­fühl in panik­herz auf den punkt ge­nau:

Und dann kün­dig­te [Ha­rald Schmidt] den Gast Adam Green an, des­sen ödes Song­wri­terschluf­fi­tum ge­ra­de der hei­ße Scheiß war, oben­drein hat­te er ein Ge­dicht­bänd­lein bei SUHR­KAMP ver­öf­fent­licht und war also der Hips­ter der Sai­son, ekel­haft — be­zie­hungs­wei­se scha­de, dass ich selbst das nicht war.

ich be­wun­de­re auf­rich­tig die fä­hig­keit von ben­ja­min stuck­rad-bar­re, si­tua­tio­nen und men­schen gleich­zei­tig glas­klar und am­bi­va­lent zu be­schrei­ben, iro­ni­sche di­stanz mit auf­rich­ti­ger be­wun­de­rung zu kom­bi­nie­ren. er schafft es, as­so­zia­ti­ons­ket­ten und me­ta­ebe­nen in luf­ti­ge hö­hen zu schrau­ben und doch im­mer wie­der hei­le un­ten an­zu­kom­men.

ei­ner­seits weil die kind­le-app, mit der ich das buch vor al­lem auf mei­nem lap­top ge­le­sen habe, kein copy und pas­te er­laubt und an­de­rer­seits weil mir vie­le pas­sa­gen im buch so irre gut ge­fie­len, habe ich wäh­rend des le­sens, das hal­be buch un­ge­fähr zwan­zig­tau­send zei­chen ab­ge­tippt. ich bil­de mir ein, dass ich so dem text ein biss­chen nä­her ge­kom­men bin, ein biss­chen so, wie ich im­mer die quell­tex­te von web­sei­ten oder an­wen­dun­gen lese, um zu ver­ste­hen wie man sol­che sa­chen baut.

na­tür­lich ist das eine völ­lig ab­sur­de hoff­nung durchs le­sen oder ab­schrei­ben oder in­ten­si­ves stu­di­um ei­nes frem­den schreib­stils, selbst bes­ser schrei­ben zu ler­nen, aber dass wir alle auf den schul­tern von (grös­se­ren oder klei­ne­ren) gi­gan­ten ste­hen hat ben­ja­min stuck­rad-bar­re selbst wun­der­bar be­schrie­ben:

So wie ich di­rekt nach dem Ab­itur zur Mu­sik­mes­se »Pop­komm« nach Köln ge­fah­ren war mit hoch­stap­le­ri­schen Vi­si­ten­kar­ten, die ich bei Kar­stadt in ei­nem Au­to­ma­ten an­ge­fer­tigt hat­te […], und durch Nach­ah­mung vor­ge­fun­de­ner Sprech- und Ver­hal­tens­wei­sen und Ak­zen­tu­ie­rung vor­han­de­ner PER­SÖN­LICH­KEITS­MERK­MA­LE dann ein­fach Mu­sik­jour­na­list wur­de; durch Hö­ren sehr al­ter Plat­ten und Bier­trin­ken: Rol­ling-Stone-Re­dak­teur; durch eng sit­zen­de Po­ly­es­terober­tei­le und gute Lau­ne: Plat­ten­fir­men­mit­ar­bei­ter; durch Ka­putt­heits­mit­tei­lungs­drang und Welt­erschöp­fung: Buch­au­tor; durch Zu­kurz­ge­kom­me­nen-Sar­kas­mus: Schmidt-Wit­ze­schrei­ber; durch Licht­sucht: Fern­seh­depp — und, mög­li­cher­wei­se, durch all das zu­sam­men schließ­lich: Ess­ge­stör­ter.

ich be­wun­de­re die stän­dig auf­flam­men­de scharf­sin­nig­keit von ben­ja­min stuck­rad-bar­re, beim be­schrei­ben von all­tags­si­tua­tio­nen, ich be­ob­ach­te­te mich beim le­sen öf­ter beim in­ner­li­chen ni­cken und zu­stim­men, als beim kopf­schüt­teln und „du ober­fläch­li­cher depp“-den­ken. auch wenn ben­ja­min stuck­rad-bar­re zum ende des bu­ches et­was ins schwa­dro­nie­ren ge­rät und stel­len­wei­se et­was arg viel über mu­sik tönt, das buch ist so voll­ge­stopft mit klu­gen all­tags­be­ob­ach­tun­gen, lie­be­vol­len par­odien und welt­deu­tun­gen, dass es mir mög­li­cher­wei­se noch jah­re­lang als zi­tat­schatz­kam­mer die­nen wird.

Wenn uns Men­schen ir­gend­wer oder ir­gend­was — sei es JE­NES HÖ­HE­RE WE­SEN oder auch nur ein Sa­tel­lit — zu­schaut hier un­ten, muss doch den­ken, wir spin­nen. Manch­mal schaue ich mir Amei­sen an, wie die da auf ei­nem hal­ben Qua­drat­me­ter stun­den­lang vor sich hin schuf­ten, ex­trem di­zi­spli­niert und of­fen­kun­dig von kei­nem Zwei­fel an­ge­krankt, die­ses Sand­korn, das muss jetzt aber so was von drin­gend nach da drü­ben trans­por­tiert wer­den und im­mer so wei­ter — und dann den­ke ich, das ist doch voll­kom­men irre, wozu denn die Hek­tik, war­um so be­flis­sen, was sind denn das für Prio­ri­tä­ten? We­nigs­tens nicht ganz so be­ei­len müss­tet ihr euch! Das mit dem Sand­korn — hat das nicht, auf den Wel­ten­lauf um­ge­rech­net, even­tu­ell auch Zeit bis mor­gen, über­mor­gen?

ne­ben dem schreib­stil- und zi­ta­te-berg­bau dien­te mir das buch aber auch als ver­tie­fung von ah­nun­gen und längst vor­han­de­nen über­zeu­gun­gen. es zeigt, vor al­lem im ers­ten teil des bu­ches, wie wich­tig, und wie schwer es ist, lei­den­schaf­ten zu ent­wi­ckeln. wir brau­chen da­für men­to­ren, leh­rer, freun­de, zu­fäl­le und mit­un­ter zeit. es ist für alle be­tei­lig­ten nicht im­mer ganz leicht die qua­li­tä­ten oder den nut­zen der lei­den­schaf­ten zu er­ken­nen, oder sie mit den er­war­tun­gen ans le­ben über­ein­zu­brin­gen. das buch zeigt aber auch, wie wich­tig es ist, dass es leu­te gibt die sich an den rand be­we­gen, die die li­ni­en über­schrei­ten, die die meis­ten nicht über­schrei­ten wol­len oder kön­nen und von dort be­rich­ten. wenn die, die die­se gren­zen über­schrei­ten, auch noch an­stän­dig schrei­ben, be­rich­ten oder mu­si­zie­ren kön­nen und uns von ih­ren er­fah­run­gen so be­rich­ten kön­nen, dass wir auf ir­gend­ei­ner ebe­ne et­was da­von re­zi­pie­ren kön­nen, ha­ben sie ei­nen teil der mis­si­on er­füllt. der an­de­re teil der mis­si­on ist na­tür­lich, sich selbst wie­der zu fan­gen, zu ih­ren ur­sprün­gen zu­rück­zu­keh­ren, oder wie ben­ja­min stuck­rad-bar­re das in ei­nem an­ge­neh­men an­flug von pa­thos ganz ein­fach sagt: „nach hau­se kom­men“. ich fin­de, bei­des ist ben­ja­min stuck­rad-bar­re ziem­lich gut ge­lun­gen.


zwei le­se­pro­ben bei sprin­ger:

re­zen­sio­nen:

(4/5)