Die Ge­hirn-Al­che­mis­ten (t3n 46)

felix schwenzel in artikel

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Künst­li­che In­tel­li­genz ist dem Flug­ha­fen Ber­lin Bran­den­burg (BER) ziem­lich ähn­lich. Der be­vor­ste­hen­de Durch­bruch wird im­mer wie­der laut­stark und über­op­ti­mis­tisch an­ge­kün­digt — und dann doch wie­der ein paar Jah­re nach hin­ten ver­scho­ben. Seit über fünf­zig Jah­ren kommt die KI-For­schung nicht rich­tig aus dem Quark. Schon vor vie­len Jahr­zehn­ten pro­gnos­ti­zier­ten op­ti­mis­ti­sche KI-for­scher die bal­di­ge Fer­tig­stel­lung ler­nen­der Ma­schi­nen, die dem mensch­li­chen Geist weit über­le­gen sein wür­den. Die spek­ta­ku­lärs­ten Er­geb­nis­se jahr­zehn­te­lan­ger For­schung hal­ten vie­le von uns jetzt in den Han­dy-Hän­den: per­sön­li­che As­sis­ten­ten, die da­ten­hung­rig sind, ein­fa­che Auf­ga­ben er­fül­len kön­nen und uns manch­mal so­gar ver­ste­hen.

Im Um­feld der For­schung zur künst­li­chen In­tel­li­genz sind bril­lan­te Men­schen tä­tig, und die KI-For­schung und ihre An­wen­dung hat be­ein­dru­cken­de Fort­schrit­te ge­macht. Aber ich bin den An­kün­di­gun­gen ei­nes bal­di­gen Durch­bruchs bei der künst­li­chen In­tel­li­genz ge­gen­über sehr skep­tisch — nicht nur we­gen Siri.

Ich glau­be, dass wir bei al­lem Grö­ßen­wahn, der uns Men­schen prägt, bei der Be­ur­tei­lung un­se­rer ko­gni­ti­ven Fä­hig­kei­ten und bei der Er­klä­rung un­se­rer Ge­hirn­funk­tio­nen die Kom­ple­xi­tät des Geis­tes re­gel­mä­ßig sträf­lich un­ter­schät­zen. Un­ser Mo­dell der Ge­hirn­funk­ti­on ist meist ge­prägt vom ak­tu­el­len Stand der Tech­no­lo­gie. Als die auf­kom­men­de Was­ser­wirt­schaft vor 2000 Jah­ren die Land­wirt­schaft re­vo­lu­tio­nier­te, glaub­ten vie­le Ge­lehr­te, un­ser Ge­hirn sei ein kom­ple­xes Sys­tem aus Strö­men von Säf­ten, die es für Ge­sund­heit und Wohl­be­fin­den ins Gleich­ge­wicht zu brin­gen gel­te. Im 16. Jahr­hun­dert, als es Men­schen im­mer bes­ser ge­lang, kom­ple­xe Au­to­ma­ten und Ma­schi­nen zu bau­en, wirk­te es lo­gisch, den Men­schen als kom­ple­xe Ma­schi­ne zu be­trach­ten. Als Che­mie und Elek­tri­zi­tät im 18. Jahr­hun­dert die Welt ver­än­der­ten, er­schien es fol­ge­rich­tig, das Le­ben und die Funk­ti­on des Men­schen mit che­mi­schen und elek­tri­schen Vor­gän­gen zu er­klä­ren. Als Mit­te des 19. Jahr­hun­derts die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gie ra­san­te Fort­schrit­te mach­te, ver­glich der Phy­sio­lo­ge Her­mann von Helm­holtz das Ge­hirn mit ei­nem Te­le­gra­fen. Heu­te ist al­les Soft­ware und Kom­mu­ni­ka­ti­on. Also, klar, muss auch das Ge­hirn wie eine hoch­kom­ple­xe, ver­netz­te Soft­ware funk­tio­nie­ren.

Un­se­re Ver­su­che, das Ge­hirn zu ver­ste­hen, sind ganz of­fen­bar größ­ten­teils me­ta­pho­risch und von ge­ra­de ak­tu­el­len tech­no­lo­gi­schen Trends ge­prägt. Oder an­ders ge­sagt: wer ei­nen Ham­mer hält, sieht über­all und in al­lem Nä­gel. Im Mo­ment be­schäf­ti­gen sich die gro­ßen Geis­ter ger­ne mit Soft­ware — und je­der, der sich die letz­ten 20 Jah­re nicht un­ter ei­nem Stein ver­steckt ge­hal­ten hat, weiß, wie kom­plex und welt­ver­än­dernd Soft­ware, ins­be­son­de­re in ei­ner ver­netz­ten Welt, mitt­ler­wei­le wirkt.

Und trotz­dem wis­sen wir im­mer noch nicht, wie das Ge­hirn funk­tio­niert. Das Ge­hirn, den Men­schen an sich, als kom­ple­xe Soft­ware zu be­trach­ten, ist nach An­sicht des Neu­ro­phy­sio­lo­gen Ro­bert Epstein eine ge­nau­so pri­mi­ti­ve und kurz­sich­ti­ge me­ta­pho­ri­sche Her­an­ge­hens­wei­se wie die Ge­hirn­funk­ti­ons­er­klä­rungs­me­ta­phern der letz­ten Jahr­hun­der­te. Er sagt klipp und klar: das Ge­hirn ver­ar­bei­tet kei­ne In­for­ma­tio­nen, spei­chert kei­ne Er­in­ne­run­gen — un­ser Ge­hirn ist kein Com­pu­ter. Epsteins Ar­gu­men­ta­ti­on er­scheint mir schlüs­sig, aber auch, wenn man sei­nen Aus­füh­run­gen nicht fol­gen mag, soll­te min­des­tens die­ser eine Ge­dan­ke hän­gen­blei­ben: un­ser Ge­hirn al­lein mit kom­ple­xen che­mi­schen, elek­tri­schen oder in­for­ma­ti­ons­ver­ar­bei­ten­den Vor­gän­gen zu er­klä­ren ist naiv und wird der Wirk­lich­keit nicht ge­recht.

Mein Ge­fühl sagt mir vor al­lem, dass wir nicht nur die Kom­ple­xi­tät un­se­rer ei­ge­nen ko­gni­ti­ven Fä­hig­kei­ten un­ter­schät­zen, son­dern auch den Rest un­se­rer Kör­per­funk­tio­nen. So fort­ge­schrit­ten die me­di­zi­ni­sche For­schung uns heu­te auch er­schei­nen mag, wir soll­ten uns da­vor hü­ten, zu glau­ben, dass wir al­lein des­halb bes­se­re Au­tos bau­en kön­nen, weil wir ein paar mal den Mo­tor mit ei­nem ge­ziel­ten Ham­mer­schlag auf den An­las­ser wie­der zum Lau­fen ge­bracht ha­ben.
Fort­schrit­te in der me­di­zi­ni­schen For­schung zei­gen im­mer wie­der, wie we­nig wir ei­gent­lich über den mensch­li­chen Kör­per und die Ver­schrän­kung von Kör­per und Geist wis­sen. Am spek­ta­ku­lärs­ten er­schei­nen mir die Er­kennt­nis­se aus der For­schung zu den so­ge­nann­ten Mi­kro­bio­men in un­se­rem Kör­per. Nicht nur das Ver­dau­ungs­sys­tem be­her­bergt ein kom­ple­xes, fast kom­plett un­er­forsch­tes Sys­tem aus hun­der­ten Bil­lio­nen Mi­kro­or­ga­nis­men, das so­wohl un­se­re Phy­sio­gno­mie ent­schei­dend zu prä­gen scheint, als auch un­se­re Stim­mun­gen und Lau­nen be­ein­flusst — und wohl auch mit der Ent­ste­hung von Krebs in Zu­sam­men­hang steht.

Wir soll­ten uns nicht blen­den las­sen von un­se­rem heu­ti­gen Wis­sens­stand. Auch wenn wir vie­le Vor­gän­ge in der Welt mitt­ler­wei­le in An­sät­zen ver­ste­hen und er­klä­ren kön­nen, gibt es noch sehr viel zu ent­de­cken. Wir sind in­so­fern alle ein biss­chen Jon Snow und wis­sen so gut wie gar nichts über die Welt.

Mir er­schei­nen die Trans­hu­ma­nis­ten ein we­nig wie die Al­che­mis­ten der letz­ten Jahr­tau­sen­de. Sie su­chen, wie vie­le Al­che­mis­ten es ta­ten, nach dem ewi­gen Le­ben und dem Stein des Wei­sen. Der Glau­be, den Men­schen nicht nur in Soft­ware ab­bil­den, son­dern auch gleich ver­bes­sern zu kön­nen, er­scheint mir ähn­lich am­bi­tio­niert wie die Idee, Gold syn­the­ti­sie­ren zu wol­len.

Aber auch wenn die Al­che­mis­ten größ­ten­teils im Dun­keln sto­cher­ten, leg­ten sie mit ih­rer For­schung eine Ba­sis, auf der wei­ter ge­forscht wer­den konn­te. Auch wenn die Trans­hu­ma­nis­ten, wie ich glau­be, auf dem Holz­weg sind, der Wis­sen­schaft und dem Er­kennt­nis­zu­ge­winn wird’s nicht scha­den. Denn der Wis­sen­schaft hel­fen auch gut aus­ge­leuch­te­te und er­forsch­te Holz­we­ge. Die Er­kennt­nis­se und das ab­seh­ba­re Wi­der­le­gen von fal­schen oder ver­ein­fa­chen­den Hy­po­the­sen kann und wird die Grund­la­ge für wei­te­re For­scher­ge­ne­ra­tio­nen sein. Von da­her kann ich den Trans­hu­ma­nis­ten auf ih­rem Weg zur Un­sterb­lich­keit und di­gi­ta­len Ewig­keit nur zu­ru­fen: Nur zu, im­mer vor­an; euer Schei­tern wird uns alle klü­ger ma­chen.

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