mein vor­trag auf der #rp18

felix schwenzel in notiert

… ist bis­her nur in der live-strream-auf­zeich­nung auf you­tube zu se­hen, ab un­ge­fähr se­kun­de 27268 und hier als ein­zel­film. dan­ke gre­gor fi­scher/re:pu­bli­ca für die­ses (CC BY-SA 2.0) sehr vor­teil­haf­te bild.

auch wenn kat­rin pas­sig mei­ne prä­sen­ta­ti­on (glau­be ich) ganz gut fand, hat sie die auf­zeich­nungs-re­gie ein biss­chen über­for­dert. ein paar mei­ner ein­ge­bau­ten wort-bild-dis­so­nanz-ef­fek­te sind des­halb in der auf­zeich­nung ver­lo­ren ge­gan­gen, aber das sind sie wohl auch zum teil im saal, wohl auch, weil sie teil­wei­se et­was zu dick auf­ge­tra­gen wa­ren oder ein­fach nicht so su­per wa­ren.

die ab­schrift folgt wei­ter un­ten, hier, ein­ge­bet­tet, die 30-mi­nu­ten ver­si­on.


in mei­nem be­schrei­bungs­text für die­sen vor­trag habe ich be­haup­tet, dass wir nicht wis­sen was wir wol­len.

wir wis­sen schon was wir kurz­fris­tig wol­len, aufs klo, raus, piz­za, sin­gen, tan­zen, mehr fol­lower, ne schö­ne­re woh­nung, aber was wir wirk­lich wol­len, was wir vom le­ben ei­gent­lich er­war­ten, das wis­sen wir — ir­gend­wie — nicht.

er­folg und glück viel­leicht, klar, das will je­der und in man­chen län­dern ist das mit dem glück auch ex­pli­zit in die ver­fas­sung ge­schrie­ben. al­ler­dings mit ei­ner ent­schei­den­den ein­schrän­kung. auch ame­ri­ka­ner müs­sen sich selbst um ihr glück küm­mern:

The U. S. Con­sti­tu­ti­on does­n't gua­ran­tee hap­pi­ness, only the pur­su­it of it. You have to catch up with it yours­elf.

— Ben­ja­min Frank­lin

wie wir zu glück und er­folg ge­lan­gen, was wir da­für tun müss­ten, das weiss ir­gend­wie kei­ner so recht.

ich habe mir vor 30 jah­ren ein­ge­bil­det, die fra­ge ge­fun­den zu ha­ben, de­ren nicht-be­ant­wor­tung bei uns al­len, im­mer wie­der, für un­zu­frie­den­heit und kum­mer sorgt. vor 20 jah­ren habe ich die fra­ge dann auf mei­ner ers­ten home­pages ins in­ter­net ge­stellt.

ich ver­mu­te, die fra­ge wirk­te da­mals in die­ser form an­satz­wei­se pas­siv-ag­gres­siv. je­den­falls habe ich dar­auf in 5 jah­ren nur un­ge­fähr zwei ant­wor­ten er­hal­ten. die wa­ren so un­in­ter­es­sant, dass ich sie nicht auf­ge­ho­ben habe.

What have you been do­ing?

mark zu­cker­berg hat das fra­gen-stel­len ge­schick­ter als ich an­ge­stellt: er hat die leu­te im in­ter­net zu­erst ge­fragt, was sie ge­tan ha­ben und dann …

What’s on your mind?

… was sie den­ken und jetzt …

… was sie ge­ra­de ma­chen. mark zu­cker­berg hat auf die­se fra­ge wahr­schein­lich be­reits ein paar schril­lio­nen ant­wor­ten er­hal­ten.

wir nor­mal­sterb­li­chen sind nicht gut dar­in die rich­ti­gen fra­gen zu stel­len. über die­se un­fä­hig­keit hat sich dou­glas adams schon vor 40 jah­ren lus­tig ge­macht, als er uns die ge­schich­te von deep thought er­zähl­te, ei­nem su­per­com­pu­ter, der 7,5 mil­lio­nen jah­re an der ant­wort auf die fra­ge „nach dem Le­ben, dem Uni­ver­sum und dem gan­zen Rest“ rech­ne­te und dann ant­wor­te­te: 42.

nach die­ser ant­wort wur­de klar: die fra­gen sind das ent­schei­den­de.

letz­tes jahr habe ich mei­nen vor­trag mit die­sem zi­tat von ja­mes bald­win be­en­det:

Der Zweck der Kunst ist es, die Fra­gen frei zu le­gen, die von den Ant­wor­ten ver­deckt wer­den.

— Ja­mes Bald­win

wir wer­den im le­ben zu­ge­schüt­tet mit ant­wor­ten, die, ge­nau be­trach­tet, alle so sinn­voll sind wie die zahl 42.

vor zwei, drei wo­chen ist mir dann auf­ge­fal­len, dass ich zu die­ser leicht kon­fu­sen aus­sa­ge ei­nen gan­zen vor­trag schrei­ben muss, der am ende auch noch (ir­gend­wie) sinn er­ge­ben soll.

die vor­be­rei­tungs­zeit wur­de im­mer knap­per und ich fing erst mal an zu pro­kras­ti­nie­ren.

in mei­nen mails las ich, dass über­me­di­en für den grim­me-on­line-preis no­mi­niert sei. über­me­di­en habe sich zur „ver­läss­li­chen, ak­tu­el­len Quel­le für all das ent­wi­ckelt, was in den Me­di­en schlecht – oder auch gut – läuft.“ 

oh. und man kön­ne für den pu­bli­kums­preis ab­stim­men. KLICK!

weil da so vie­le sei­ten no­mi­niert wa­ren, die ich noch nicht kann­te, las ich mich da aus­ver­se­hen fest.

ein­deut­sches­dorf.de ge­fiel mir be­son­ders, schi­cke start­sei­te, in­ter­es­san­tes pro­jekt: jour­na­lis­ten­schü­ler von der hen­ri-nan­nen-schu­le quar­tie­ren sich zwei wo­chen in ei­nem dorf im ems­land ein und do­ku­men­tie­ren und re­flek­tie­ren das le­ben dort. toll! KLICK!

man sagt ja, wenn man ei­nen ham­mer in der hand hält, sieht al­les aus ein na­gel. wenn man ei­nen vor­trag vor­be­rei­tet, springt ei­nem das the­ma über­all ins ge­sicht.
mir sprang die­ser ab­satz in die­sem ar­ti­kel ins ge­sicht, lisa mcminn schrieb:

Wer jung ist, sucht sei­nen Platz in der Welt. Wer jung ist, fragt sich: Wer bin ich? Wer will ich sein? Und: Wo ge­hö­re ich hin? Er­wach­sen wer­den heißt, sich zu ent­schei­den.

letz­tes jahr hat­te ich für die­se aus­sa­ge noch erich fromm be­müht.

Le­ben­de Struk­tu­ren kön­nen nur sein, in­dem sie wer­den, kön­nen nur exis­tie­ren, in­dem sie sich ver­än­dern. Wachs­tum und Ver­än­de­rung sind in­hä­ren­te Ei­gen­schaf­ten des Le­bens­pro­zes­ses.

prak­tisch: jetzt kann ich statt erich fromm oder ir­gend­wel­chen in­tel­lek­tu­el­len ein­fach lisa mcminn zi­tie­ren, die ju­gend­li­che im ems­land be­ob­ach­tet hat. wo­bei na­tür­lich nicht nur jun­ge men­schen er­wach­sen wer­den müs­sen. wir ha­ben da alle un­se­re de­fi­zi­te. wir soll­ten uns die­se fra­gen un­ser le­ben lang stel­len: wer sind wir, wo wol­len hin, wo ge­hö­re ich hin?

auf un­se­rer su­che nach ant­wor­ten wen­den wir uns, un­ter an­de­rem, ge­schich­ten zu. das ma­chen wir ei­gent­lich schon seit vie­len tau­send jah­ren so. was heu­te fern­seh­se­ri­en oder fil­me sind, wa­ren frü­her ein­fach er­zähl­te ge­schich­ten — oder mär­chen.

mär­chen sind des­halb fas­zi­nie­rend, weil sie über­all — in ih­ren grund­zü­gen — gleich sind. so ähn­lich, dass man eine wei­le lang dach­te, die eu­ro­päi­schen mär­chen sei­en in­di­schen Ur­sprungs. theo­dor ben­fey glaub­te, die bud­dhis­ti­sche li­te­ra­tur in in­di­en sei der aus­gangs­ort na­he­zu al­ler mär­chen ge­we­sen und dass die­se dann erst im mit­tel­al­ter in den wes­ten ge­langt sei­en. die­se theo­rie, sagt die wi­ki­pe­dia, sei „weit­ge­hend über­holt“.

tat­säch­lich scheint es so, dass sich iden­ti­sche mär­chen­mo­ti­ve in je­weils weit aus­ein­an­der lie­gen­den und ein­an­der frem­den kul­tu­ren fin­den. der freud-schü­ler carl gus­tav jung ver­such­te, das mit der an­nah­me ei­nes „Kol­lek­ti­ven Un­be­wuss­ten“ der mensch­heit zu er­klä­ren. er nann­te die­se „art-ty­pi­schen un­be­wuss­ten Struk­tu­ren“ ar­che­ty­pen.

das heisst grob ver­ein­facht ge­sagt, wir er­zäh­len uns seit tau­sen­den von jah­ren die glei­chen ge­schich­ten. wir bau­en sym­bo­le in un­se­re träu­me ein, von de­nen viel­leicht schon stein­zeit­men­schen ge­träumt ha­ben. weil die­se ar­che­ty­pen un­be­wusst sind ver­ste­hen wir sie nicht be­wusst, aber sie sind er­fahr­bar, in träu­men, vi­sio­nen, psy­cho­sen, künst­le­ri­schen ar­bei­ten, my­then oder eben mär­chen.

ar­che­ty­pi­sche struk­tu­ren wer­den in vie­len wis­sen­schaft­li­chen dis­zi­pli­nen er­forscht. da wer­den sie dann an­ge­bo­re­ne aus­lö­se­me­cha­nis­men, ver­hal­tens­sys­te­me, tie­fen­struk­tu­ren, psy­cho­bio­lo­gi­sche re­ak­ti­ons­mus­ter oder tief ho­mo­lo­ge neu­r­a­le struk­tu­ren ge­nannt.

eins die­ser mo­ti­ve ist der ar­che­typ des hel­den. hel­den müs­sen ge­gen un­über­wind­bar wir­ken­de mäch­te oder über­mensch­li­che geg­ner kämp­fen und oft sind sie selbst auch über­mensch­lich.

der­zeit er­freu­en sich hel­den gros­ser po­pu­la­ri­tät.

ich ver­mu­te, wenn hol­ly­wood wei­ter so macht, ist der ar­che­typ des hel­den bald ge­sät­tigt.

hel­den­ge­stal­ten in mär­chen oder my­then kön­nen und wer­den auch psy­cho­lo­gisch ge­deu­tet, als in­ne­re vor­gän­ge. ge­schich­ten also, in de­nen die hel­den­ge­stalt als ein sich be­haup­ten­des ICH ge­se­hen wer­den kann und ihre kämp­fe als in­ne­re kämp­fe ge­gen „Schat­ten­aspek­te der Per­sön­lich­keit“.

auch bäu­me sind ar­che­ty­pen, bei uns ziem­lich be­kannt der baum der er­kennt­nis, oder die wel­ten- oder le­bens­bäu­me die in der west­li­chen re­li­gi­ons­ge­schich­te vor­kom­men. in der ger­ma­ni­schen my­tho­lo­gie spielt die wel­ten­esche eine rol­le, die un­ter an­de­rem neil gai­man in ame­ri­can gods auf­ge­grif­fen hat, wo shadow odins selbst­op­fer im wel­ten­baum nach­stellt. die maya hat­ten ei­nen baum als mo­tiv in ih­rer my­tho­lo­gie, in chi­na er­zählt man von bäu­men mit den früch­ten der un­sterb­lich­keit.

apro­pos bäu­me. et­was das mir erst im letz­ten jahr so rich­tig klar ge­wor­den ist — und mich im­mer noch fas­zi­niert: bäu­me be­stehen (qua­si) aus luft!

ei­gent­lich soll­te das je­der wis­sen, der in bio auf­ge­passt hat, aber holz wird vor al­lem aus dem koh­len­di­oxid der luft ge­macht. ist das nicht fas­zi­nie­rend? holz, bäu­me be­stehen aus luft! die bio­mas­se von bäu­men wird zu mehr als zwei drit­teln aus luft syn­the­ti­siert! mit hil­fe von so­lar­ener­gie ver­hol­zen bäu­me luft!

wor­auf ich aber ei­gent­lich hin­aus woll­te: mär­chen. näm­lich, dass mär­chen auch gut als ge­schich­ten der selbst­fin­dung, oder wie psy­cho­lo­gen das ger­ne sa­gen als wege zur au­to­no­mie ge­le­sen wer­den kön­nen.

viel­leicht dre­hen sich tat­säch­lich die meis­ten ge­schich­ten, die wir uns er­zäh­len oder er­zäh­len las­sen, die wir uns strea­men oder im kino an­se­hen oder le­sen, ei­gent­lich um selbst­fin­dung.

wie in mär­chen, er­zäh­len vie­le fil­me nicht nur wie ein held oder eine hel­din hin­der­nis­se über­win­det, son­dern auch im­mer, viel ex­pli­zi­ter als mär­chen, wie die per­sön­lichkkeit die­ser fi­gur wächst, mensch­li­cher, er­wach­se­ner, rei­fer wird. vie­le fil­me und se­ri­en dre­hen sich im grun­de um nichts an­de­res, als der fra­ge nach zu ge­hen, was ist mensch­lich? was macht uns als men­schen aus? wel­che in­ne­ren oder äus­se­ren schat­ten­aspek­te müs­sen wir über­win­den?

die­se ge­schich­ten der selbst­fin­dung, der be­trach­tung un­se­res mensch­li­chen und ge­sell­schaft­li­chen spie­gel­bilds muss man na­tür­lich auch mit ei­ner ge­wis­sen pri­se vor­sicht ge­nies­sen, denn die au­toren, die ge­schich­ten­er­zäh­ler, ken­nen die­se me­cha­nik des ge­schich­ten­er­zäh­lens. sie be­nut­zen ar­che­ty­pen wie ein mo­dul­bau­kas­ten­sys­tem.

(wo­bei es mir auch nach mehr­fa­chen re­cher­che­ver­su­chen nicht ge­lun­gen ist raus­zu­fin­den, was ho­me­opa­thi­sche ar­che­ty­pen sind.)

chris­to­pher boo­ker be­haup­tet, es gebe ge­ra­de mal sie­ben er­zähl­grund­mus­ter, auf der alle ge­schich­ten der welt ba­sie­ren. sei­ne the­sen sind nicht ganz un­um­strit­ten, aber die­se er­zähl­mus­ter funk­tio­ni­en und re­so­nie­ren eben nach­ge­wie­se­ner­mas­sen.

  • Das Mons­ter über­win­den
  • Vom Tel­ler­wä­scher zum Mil­lio­när
  • Die Su­che
  • Rei­se und Rück­kehr
  • Ko­mö­die
  • Tra­gö­die
  • Wie­der­ge­burt

(quel­le)

des­halb sind mar­ke­ting­men­schen auch sehr dank­bar, weil sie so mit arch­tey­pi­schisch aus­ge­rich­te­ten er­zäh­lun­gen „Un­ter­neh­mens­ge­schich­ten“ stri­cken kön­nen. be­ra­ter freu­en sich, weil sie so ihre sto­rytel­ling-kur­se ver­klop­pen kön­nen — qua­si mit er­folgs­ga­ran­tie, mit tau­send­jäh­ri­ger er­fah­rung.

aber selbst www.stra­te­gi­sches-sto­rytel­ling.de er­kennt ne­ben dem mar­ke­ting mam­bo-jam­bo fol­gen­des:

Sämt­li­che Ge­schich­ten der Mensch­heit […] las­sen sich auf die­se Hand­lungs­sche­ma­ta zu­rück­füh­ren. Mehr noch: Die­se Plots las­sen sich selbst wie­der auf eine ein­zi­ge grund­le­gen­de Idee zu­rück­füh­ren: Das ist die psy­chi­sche Ent­wick­lung des Men­schen. Alle Fi­gu­ren sind nur Aspek­te des Ich. Wenn wir Ro­ma­ne le­sen, ins Kino oder Thea­ter ge­hen, er­le­ben wir die schil­lern­den Va­ri­an­ten un­se­res ei­ge­nen See­len­le­bens.

das pro­blem mit den mo­der­nen ge­schich­ten, die uns film und fern­se­hen und meist auch die li­te­ra­tur an­bie­ten, ist al­ler­dings, dass sie kaum fra­gen of­fen las­sen. so wie men­schen ar­che­ty­pi­sche ge­schich­ten mö­gen, has­sen sie auch zu viel am­bi­gui­tät. mo­der­ne ge­schich­ten über­kip­pen uns, in den meis­ten fäl­len, mit ant­wor­ten. sie sind nicht wirk­lich of­fen für in­ter­pre­ta­ti­on — und wenn doch, dann nicht be­son­ders tief oder ein­fach tri­vi­al.

mär­chen schon. mär­chen sind so of­fen für in­ter­pre­ta­tio­nen, dass es fast nichts gibt, was nicht schon in sie rein­in­ter­pre­tiert wur­de.

das be­son­de­re an mär­chen, was sie so ein­drück­lich macht, aber auch so in­ter­pre­ta­ti­ons­of­fen, ist ihre spra­che. es ist die spra­che der sym­bo­le.
die­se sym­bol­spra­che ist auch gleich­zei­tig ein pro­blem, weil wir die­se spra­che nicht be­son­ders gut ver­ste­hen.

erich fromm hat das we­sen der sym­bol­spra­che un­ge­fähr so er­klärt: wir ha­ben kei­ne gros­sen pro­ble­me an­de­ren die funk­ti­on von ma­schi­nen oder ap­pa­ra­ten zu er­klä­ren. schwie­rig wird es für uns, wenn wir ge­füh­le er­klä­ren sol­len — oder den un­ter­schied­li­chen ge­schmack von rot- und weiss­wein. beim wein lau­tet die bes­te er­klä­rung dann meist: pro­bier halt mal.

je­mand an­de­rem ein ge­fühl zu er­klä­ren fällt uns even­tu­ell we­ni­ger schwer als den ge­schmack von wein, aber ge­füh­le zu er­klä­ren ist an­stren­gend und in den meis­ten fäl­len sehr wort­reich.

im traum reicht ein ein­zi­ges bild, eine si­tua­ti­on und wir brau­chen kaum eine se­kun­de um so ein traum­bild wahr­zu­neh­men, und trotz­dem ist die­ses bild eine ge­naue­re und le­ben­di­ge­re be­schrei­bung des ge­fühls, als wenn ich mit je­man­dem über die­ses ge­fühl lang und breit ge­spro­chen hät­te. „Das im Traum wahr­ge­nom­me­ne Bild ist ein Sym­bol für et­was, das wir fühl­ten“, sagt fromm.

ich ver­such jetzt mal zwei mär­chen zu in­ter­pre­tie­ren, um das ein biss­chen nach­voll­zieh­ba­rer zu ma­chen.
das ers­te ist kein mär­chen im ei­gent­li­chen sin­ne, aber laut erich fromm ist es in sym­bol­spra­che ge­schrie­ben. in der spra­che der träu­me und der mär­chen.
bei der in­ter­pre­ta­ti­on hal­te ich mich an sei­ne ana­ly­se aus Mär­chen, My­then, Träu­me, wo er un­ter an­de­rem franz kaf­kas der pro­zess ana­ly­siert.

der ro­man ist ziem­lich kaf­kaes­que und dreht sich — in al­ler kür­ze — um den bank­an­ge­stell­ten jo­sef k. der ver­haf­tet wird und kurz dar­auf wie­der auf frei­en fuss ge­setzt wird. al­ler­dings läuft jetzt ein pro­zess ge­gen ihn. k. hat kei­ne ah­nung wes­sen er an­ge­klagt ist und be­kommt auch nie ei­nen rich­ter zu ge­sicht.

der ad­vo­kat, den sich k. nimmt, be­kommt auch kei­ne an­kla­ge­schrift zu ge­sicht und k. ent­schliesst sich selbst zu ver­tei­di­gen. von sei­ner bank wird k. an ei­nem nach­mit­tag in den dom ge­be­ten, um ei­nem ge­schäfts­freund des hau­ses die se­hens­wür­dig­kei­ten zu zei­gen. statt des ge­schäfts­freun­des war­tet der ge­fäng­nis­ka­plan auf ihn und un­ter­hält sich mit k., was ihm auch nicht aus sei­ner si­tua­ti­on her­aus­hilft. im letz­ten ka­pi­tel wird k von zwei män­nern ab­ge­führt und hin­ge­rich­tet. so fängt das buch an:

Je­mand muss­te Jo­sef K. ver­leum­det ha­ben, denn ohne dass er et­was Bö­ses ge­tan hät­te, wur­de er ei­nes Mor­gens ver­haf­tet.

fromm in­ter­pre­tiert, dass„ver­haf­tet“ ei­gent­lich so viel be­deu­tet „wie in Ar­rest ge­steckt“ zu wer­den, also in sei­ner be­we­gung auf­ge­hal­ten, „ar­re­tiert“ zu wer­den.
„Sym­bo­lisch be­deu­tet es je­doch […]: K. hat das Ge­fühl, in sei­ner Ent­wick­lung an­ge­hal­ten und blo­ckiert zu sein.“

fromm fand die­sen ab­satz „meis­ter­haft“, des­halb zi­tier ich ihn jetzt auch kom­plett.

In die­sem Früh­jahr pfleg­te K. die Aben­de in der Wei­se zu ver­brin­gen, daß er nach der Ar­beit, wenn dies noch mög­lich war – er saß meis­tens bis neun Uhr im Büro –, ei­nen klei­nen Spa­zier­gang al­lein oder mit Be­kann­ten mach­te und dann in eine Bier­stu­be ging, wo er an ei­nem Stamm­tisch mit meist äl­te­ren Her­ren ge­wöhn­lich bis elf Uhr bei­sam­men saß. Es gab aber auch Aus­nah­men von die­ser Ein­tei­lung, wenn K. zum Bei­spiel vom Bank­di­rek­tor, der sei­ne Ar­beits­kraft und Ver­trau­ens­wür­dig­keit sehr schätz­te, zu ei­ner Au­to­fahrt oder zu ei­nem Abend­essen in sei­ner Vil­la ein­ge­la­den wur­de. Au­ßer­dem ging K. ein­mal in der Wo­che zu ei­nem Mäd­chen na­mens Elsa, die wäh­rend der Nacht bis in den spä­ten Mor­gen als Kell­ne­rin in ei­ner Wein­stu­be be­dien­te und wäh­rend des Ta­ges nur vom Bett aus Be­su­che emp­fing.

fromm in­ter­pre­tiert, dass k. of­fen­sicht­lich ein „lee­res, rou­ti­ne­mäs­si­ges le­ben, ste­ril, ohne lie­be und ohne pro­duk­ti­vi­tät“ füh­re. er sei tat­säch­lich fest­ge­fah­ren, „ar­re­tiert“ und die ver­haf­tung sei in wahr­heit die stim­me sei­nes ge­wis­sens, die ihn vor der ge­fahr warnt, die sei­ne per­sön­lich­keit be­droht.

das pro­blem im wei­te­ren ver­lauf des pro­zess sei, dass k. trotz meh­re­rer hin­wei­se, un­ter an­de­rem vom ge­fäng­nis­ka­plan, nicht be­greift, dass das pro­blem in ihm selbst be­grün­det ist und dass nur er al­lein sich ret­ten kön­ne. der pro­zess hat des­halb kein hap­py-end, weil der held der er­zäh­lung, an­ders als vie­le an­de­re hel­den­fi­gu­ren, den auf­bruch gar nicht erst wagt. er hilft sich nicht selbst, son­dern er sucht hil­fe, er sucht ant­wor­ten — oder lässt sie be­ant­wor­ten, stellt aber nie die rich­ti­gen fra­gen.

erst am ende, als k. hin­ge­rich­tet wird, be­ginnt k. zu ah­nen wie hab­gie­rig und leer sein le­ben war. zum ers­ten mal kann er zum zeit­punkt sei­nes to­des die mög­lich­keit von freund­schaft und mensch­li­cher so­li­da­ri­tät er­ken­nen.

das ge­gen­teil von jo­sef k. ist hans g., bzw. hans im glück. hans im glück ist auch kein klas­si­sche mär­chen, son­dern ein „schwank“. er wur­de 1819 von au­gust wer­ni­cke in ei­ner zeit­schrift (wün­schel­ru­the) ver­öf­fent­licht und kurz da­nach von den ge­brü­dern grimm in ihre mär­chen­samm­lung auf­ge­nom­men. (mär­chen­tex­te)

Hans hat­te sie­ben Jah­re bei sei­nem Herrn ge­dient, da sprach er zu ihm »Herr, mei­ne Zeit ist her­um, nun woll­te ich ger­ne wie­der heim zu mei­ner Mut­ter, gebt mir mei­nen Lohn«. Der Herr ant­wor­te­te: »Du hast mir treu und ehr­lich ge­dient, wie der Dienst war, so soll der Lohn sein«, und gab ihm ein Stück Gold, das so groß als Han­sens Kopf war.

hans wird der gold­klum­pen bald zu schwer und er tauscht ihn mit ei­nem rei­ter ge­gen sein pferd.

»Ach«, sprach Hans, »was ist das Rei­ten ein schö­nes Ding! Da sitzt ei­ner wie auf ei­nem Stuhl, stößt sich an kei­nen Stein, spart die Schuh und kommt fort, er weiß nicht wie.«

das pferd wirft ihn aber ir­gend­wann ab und er tauscht das pferd ge­gen eine kuh, die kuh spä­ter ge­gen ein schwein, das schwein ge­gen eine gans und die gans spä­ter ge­gen zwei schleif­stei­ne, die ihm dann in ei­nen brun­nen fal­len.

bei je­dem tausch war hans für eine wei­le glück­lich und froh und ganz am ende, als sei­ne stei­ne in den brun­nen ge­fal­len wa­ren, rief er:

»So glück­lich wie ich gibt es kei­nen Men­schen un­ter der Son­ne.«
Mit leich­tem Her­zen und frei von al­ler Last sprang er nun fort, bis er da­heim bei sei­ner Mut­ter war.

die of­fen­sicht­li­che in­ter­pre­ta­ti­on ist, dass hans ein idi­ot ist.

schlim­mer noch, dass er sei­ner be­stim­mung nicht nach­kommt und nicht, wie an­de­re hel­den­ge­stal­ten, den kampf ge­gen die wid­rig­kei­ten auf­nimmt, de­nen er be­geg­net. er ver­sucht noch nicht mal rei­ten zu ler­nen, statt sich zu ent­wi­ckeln fin­det eine re­gres­si­on statt, statt er­wach­sen zu wer­den, wird er im­mer in­fan­ti­ler.

ich mag die­se in­ter­pre­ta­ti­on na­tür­lich nicht. ich sehe hans, ganz im ge­gen­teil, als je­man­den der eine ge­wis­se au­to­no­mie er­langt hat. er küm­mert sich nicht um die so­zia­len kon­struk­te, die den wert von din­gen be­stim­men, er hat ei­nen ein­fa­chen weg zum glück ge­fun­den, in­dem er sich von last be­freit. er er­reicht eine art in­ne­ren frie­den — und die rück­kehr zur mut­ter, kann man durch­aus als eine hin­wen­dung zum le­ben an­se­hen.

hans ist nicht wirk­lich dumm und of­fen­bar pflicht­be­wusst, fleis­sig und ge­sell­schaft­lich in­te­griert, sonst hät­te ihn sein meis­ter nicht für sei­ne „treu­en und ehr­li­chen diens­te“ be­lohnt. vor al­lem ist er au­to­nom ge­nug, statt be­sitz glück als ziel an­zu­se­hen.

und wenn ich bei der in­ter­pre­ta­ti­on noch ei­nen schritt wei­ter­gin­ge, könn­te man hans auch gross­züg­keit un­ter­stel­len, dass es ihm freu­de macht zu ge­ben. ganz nach dem köl­schen mot­to: „Mer muss och jün­ne kün­ne.“ aber even­tu­ell geht die­se letz­te the­se auch zu weit.

ich stel­le mir vor, dass wenn wir über hans la­chen, er über uns lä­chelt. über un­se­re ab­sur­den zie­le, über un­se­re iso­la­ti­on, un­se­re ver­bis­sen­heit, mit der wir un­se­re zie­le zu er­rei­chen ver­su­chen. zie­le, die über­dies auch noch auf ge­sell­schaft­li­chen er­war­tun­gen ba­sie­ren und nicht aus uns selbst, aus un­se­ren be­dürf­nis­sen wach­sen.

die­se in­ter­pre­ta­ti­on hat ganz of­fen­sicht­lich ge­wis­se par­al­le­len zum bud­dis­mus. im bud­dis­mus gibt es eine ver­gleich­ba­re er­zäh­lung, die vom hir­ten und dem och­sen.

hier sieht man den hir­ten, der of­fen­sicht­lich sei­nen och­sen ver­lo­ren hat — oder sich ver­irrt hat.

Er sucht — und ent­deckt eine spur.

er folgt den Spu­ren und fin­det den Och­sen …

und ver­sucht das tier zu zäh­men …

was ihm of­fen­sicht­lich ge­lingt, er wei­det den och­sen und küm­mert sich um sein wohl­erhge­hen.

ir­gend­wann ist der och­se so zahm, so ver­schmol­zen mit dem hir­ten, dass der hir­te auf dem rü­cken des tie­res flö­te spielt. dem och­sen scheint so­gar das gras nicht mehr zu in­ter­es­sie­ren.

die pa­ra­bel ist noch nicht zu­en­de, aber ich fang schon mal mit dem in­ter­pre­tie­ren an.

mei­ne in­ter­pre­ta­ti­on stützt sich auf hein­rich du­moulin, ei­nen ka­tho­li­schen theo­lo­gen der den zen-bud­dhis­mus er­forscht hat.

nach du­moulln steht der och­se für das „ei­gent­li­che, tie­fe Selbst“ und der hir­te „für den Men­schen schlecht­hin“.

nach du­moulin wa­ren das fan­gen, pfle­gen und zäh­men des och­sen pein­vol­le zen-übun­gen, auf dem weg zu er­leuch­tung. im letz­ten bild ha­ben och­se und hir­te be­reits die frei­heit er­langt, bei­de sei­en nun „eins“, der hir­te be­darf des och­sen nicht mehr.

und tat­säch­lich, im nächs­ten bild ver­gisst der hir­te den och­sen. der hir­te ist al­lein, ohne den och­sen.

dann ver­schwin­den bei­de, och­se und hir­te, „im um­fas­sen­den Nichts“.

wenn der hir­te wie­der er­scheint, sind „alle Din­ge um ihn so, wie sie sind“ – das sei der all­tag des er­leuch­te­ten — sagt du­moulin.

im letz­ten bild sieht man den hir­ten, wie er „in die Stadt und auf den Markt“ kommt (sagt du­moulin) und alle rings­um be­schenkt.

Der Er­leuch­te­te lebt mit al­len sei­nen Mit­men­schen und wie alle sei­ne Mit­men­schen, aber die Güte, die er aus­strahlt, rührt von sei­ner Er­leuch­tung her.

ich wür­de hier lie­ber von au­to­no­mie, als von er­leuch­tung re­den. das klingt nicht nur we­ni­ger eso­te­risch, son­dern ist auch prag­ma­ti­scher und ver­mit­tel­ba­rer.

wir sind ja ge­ra­de­zu be­ses­sen von au­to­no­mie. in den letz­ten jah­ren über­schlu­gen sich die nach­rich­ten von au­to­mo­men fahr­zeu­gen, au­to­no­men ka­ta­lo­ni­en, au­to­no­men ro­bo­tern, au­to­no­mem brot. in der pop­kul­tur wim­melt es nur so von teils sehr klu­gen aus­ein­an­der­set­zun­gen mit dem the­ma au­to­no­me sys­te­me. fran­ken­stein, ter­mi­na­tor, hal, king kong, num­mer 5, die re­pli­kan­ten in bla­de run­ner, her, ex ma­chi­na, ghost in the shell, ro­bo­cop, eve, trans­for­mers, …

nur mit un­se­rer ei­ge­nen ent­wick­lung zu mehr au­to­no­mie tun wir uns schwer. wahr­schein­lich aus ei­nem ein­fa­chen grund:

weil es uns schwer fällt.
weil es uns schwer fällt ge­gen un­se­rer ei­ge­nen schat­ten­sei­ten zu kämp­fen — ja sie über­haupt zu er­ken­nen.
weil es uns schwer fällt an das gute im men­schen, in uns selbst zu glau­ben.
weil es uns schwer fällt uns von ge­sell­schaft­li­chen zwän­gen frei zu ma­chen.

im märz schrieb die an­ony­me au­torin „alva“ in der edi­ti­on f ei­nen ar­ti­kel, in dem sie be­schrieb, war­um sie es nicht län­ger in Ber­lin aus­hält:

Man he­chelt hin­ter­her, ver­passt stän­dig den An­schluss. Ve­gan, raw, slow – für mich ist Ber­lin Kampf.

lo­renz ma­rold schrieb im check­point vom 26.3.2018:

Ja, al­les ganz schreck­lich. Aber viel­leicht soll­te Alva mal dar­über nach­den­ken, ob es nicht eher an ih­rem un­er­füll­ba­ren Kon­for­mi­täts­wunsch liegt als an Ber­lin.

ich habe herz­lich über die­se tro­cke­ne be­mer­kung ge­lacht. aber an­de­rer­seits kön­nen wir uns auch gleich­zei­tig fra­gen, ob wir die­sen kon­for­mi­täts­wunsch nicht auch alle in uns tra­gen und ihm (ge­le­gent­lich) zu viel raum ge­ben.

denn die­ser kon­for­mi­tät ge­ben auch me­di­en teil­wei­se zu viel raum. und wenn ich von me­di­en rede, mei­ne ich uns alle, weil wir mit li­kes, ap­plaus oder shares auch alle fleis­sig an ei­ner leicht ver­zerr­ten wirk­lich­keits­wahr­neh­mung mit­bau­en — oder ge­nau­er, an der for­mung un­se­rer ge­sell­schaft­li­chen wahr­neh­mungs­stan­dards.

dass un­se­re wahr­neh­mung im­mer leicht ver­zerrt ist, ver­zerrt wird, kul­tu­rell, bio­lo­gisch, ge­sell­schaft­lich und er­kennt­nis­the­re­tisch, habe ich hier vor drei jah­ren ver­sucht zu zei­gen. und ima­nu­el kant vor knapp 200 jah­ren. und pa­tri­cia vor zwei wo­chen. sie schrieb:

Die­se Love-your-Body-alle-Men­schen-sind-schön-Apel­le sind für mich ir­gend­wie be­fremd­lich. War­um sol­len alle schön sein müs­sen? Wenn man stän­dig dazu auf­ruft, dass man sei­nen Kör­per lie­ben muss und dass alle Men­schen schön sind, dann folgt man ir­gend­wie auch ei­nem Schön­heits­pa­ra­dig­ma. Denn es geht of­fen­bar nicht, dass man nicht schön ist. Alle sind schön, nur di­vers schön oder in­di­vi­du­ell schön aber eben auf je­den Fall schön. Ohne das Schön­sein geht es auf je­den Fall nicht. Die Di­men­si­on ist schön – häß­lich. Was an­de­res kommt nicht in Fra­ge.

Ich füh­le eher so­was wie eine Egal­ness.

pa­tri­cia be­schreibt in ih­rem blog­ar­ti­kel eine wahr­neh­mungs­ver­schie­bung durch prio­ri­täts­jus­tie­rung. schön­heits­ka­te­go­rien sind so­zia­le, kul­tu­rel­le kon­struk­te die sich — wenn man will — in­di­vi­du­ell gut ver­schie­ben las­sen.

die fä­hig­keit zur mehr egal­ness, zur ab­kop­pe­lung von sc­hö­heits­idea­len, mag (auch) ein pri­vi­leg des al­ters sein, aber ich kann nicht an­ders als das als er­stre­bens­wert zu emp­fin­den.

ge­gen die­se vor­ein­ge­nom­men­heit bei der wahr­neh­mung der welt kämpft auch ein ganz an­de­rer hans: hans ros­ling.

er hat sein le­ben lang ver­sucht, ge­gen un­se­ren ein­druck zu kämp­fen, dass die welt im­mer schlech­ter wer­de. er sagt: das ge­gen­teil sei der fall.

hans ros­ling hat die­ses buch ge­schrie­ben, in dem er 10 grün­de auf­zählt, war­um wir den zu­stand der welt häu­fig viel schlech­ter ein­schät­zen, als er tat­säch­lich ist.

ros­ling hat ein biss­chen an pro­mi­nenz ge­won­nen, weil er kürz­lich (lei­der) ver­stor­ben ist und vie­le me­di­en sein the­ma auf­grif­fen. auch chris­ti­an stö­cker in sei­ner (wirk­lich) sehr le­sens­wer­ten spie­gel-on­line-ko­lum­ne.

wenn ros­ling selbst über das the­ma re­det, lässt er ger­ne das pu­bli­kum ab­stim­men, wel­che sta­tis­tik rich­tig ist. das ist ein bei­spiel aus ei­nem sei­ner TED-vor­trä­ge. hier frag­te er:
hat die an­zahl der to­ten durtch na­tur­ka­ta­stro­phen welt­weit ab- oder zu­ge­nom­men, oder ist sie gleich ge­blie­ben?

die hälf­te der schwe­den glaubt laut ros­ling, die zahl habe zu­ge­nom­men.

tat­säch­lich hat die zahl aber mas­siv ab­ge­nom­men und sich mehr als hal­biert. wir sind sehr ef­fi­zi­ent ge­wor­den, men­schen bes­ser zu schüt­zen. nur 12 % der schwe­den ist das klar. in sei­nem ted-vor­trag er­zäh­le ros­ling dann: „also bin ich in den zoo ge­gan­gen und habe die schim­pan­sen ge­fragt…“

die schim­pan­sen la­gen mit ih­rer ein­schät­zung bes­ser als die schwe­den und auch bes­ser als das pu­bli­kum im saal.

jetzt kann man sich na­tür­lich fra­gen ob ros­ling wirk­lich in den zoo ge­gan­gen ist und ob die sta­tis­ti­sche nor­mal­ver­tei­lung von zu­falls-ant­wor­ten wirk­lich 33 zu 33 zu 33 ist. aber ers­tens ist der gag su­per und zwei­tens zeigt das af­fen-bei­spiel, dass vor­ein­ge­nom­men­heit oder in­tui­ti­on auch nach­tei­lig sein kön­nen

das pro­blem mit dem wir es hier zu tun ha­ben, meint ros­ling, ist eine art ko­gni­ti­ve dis­so­nanz. wenn of­fen­sicht­lich stän­dig schlech­tes in der welt pas­siert, wie kann es sein, dass es dann auch — gleich­zei­tig — gut läuft oder gar bes­ser als vor­her?

wir ver­klä­ren nicht nur die ver­gan­gen­heit, uns fehlt auch oft die fä­hig­keit zu abs­tra­hie­ren, die re­la­tio­nen zu er­ken­nen. wir agie­ren in­tui­tiv und lie­gen da­mit bei sehr kom­ple­xen pro­ble­men, die un­se­ren wahr­neh­mungs­ho­ri­zont oder un­se­re abs­trak­ti­ons­fä­hig­keit über­stei­gen, sehr oft völ­lig da­ne­ben.

wenn wir ir­gend­wo­hin flie­gen, är­gern wir uns wie die kes­sel­fli­cker, wenn wir 30 mi­nu­ten in der si­cher­heits­war­te­schlan­ge ste­hen müs­sen oder un­se­re was­ser­fla­sche aus „si­cher­heits­grün­den“ weg­schmeis­sen müs­sen. wir den­ken aber nicht mal im an­satz dar­an, dass un­se­re gross­el­tern oder ur­gross­el­tern für die glei­che rei­se nicht nur un­gleich viel mehr zeit und geld auf­wen­den muss­ten, dass rei­sen nicht nur irre be­schwer­lich war, mit schif­fen, kut­schen, pfer­den, son­dern dass man frü­her beim rei­sen auch al­len mög­li­chen — längst ver­ges­se­nen — ge­fah­ren aus­ge­setzt war.

wenn uns schon die fä­hig­keit fehlt, un­se­re pri­vi­le­gi­en zu er­ken­nen …
wenn uns die fa­hig­keit fehlt die un­ge­heu­re si­cher­heit in der wir le­ben — vor al­lem im ver­gleich zu al­len vor­her­ge­hen­den ge­ne­ra­tio­nen — zu er­ken­nen …
wenn wir of­fen­bar un­fä­hig sind in grös­se­ren zu­sam­men­hän­gen zu den­ken …

… könn­ten wir uns dann nicht ein­fach eine schma­le schei­be von hans im glück ab­schnei­den? und uns ein­fach freu­en, dass wir güns­tig und schnell und si­cher in jede ecke der welt flie­gen kön­nen, statt uns die gan­ze rei­se lang zu är­gern?

und es ist ja nicht nur das rei­sen, oder tech­ni­sche fort­schritt all­ge­mein, wo wir im all­tag je­den his­to­ri­schen kon­text ver­ges­sen. auch un­se­re er­näh­rung, un­se­re le­bens­mit­tel sind so si­cher, so un­ge­fähr­lich und reich­lich wie noch nie.

le­bens­mit­tel wa­ren noch nie so we­nig töd­lich wie heu­te, aber un­se­re angst uns zu ver­gif­ten, falsch zu er­näh­ren ist so gross wie vor 100 jah­ren — oder (wahr­schein­lich) grös­ser als vor 100 jah­ren.

oder un­se­re angst vor luft­ve­frschmut­zung.

ja, es gibt noch miss­stän­de an de­nen wir kon­se­quent ar­bei­ten müs­sen, aber die hän­gen auch da­mit zu­sam­men, dass wir bes­ser, ge­nau­er und mehr mes­sen.

im ruhr­ge­biet hat sich der ge­halt von schwe­fel­di­oxid in der luft von 1964 bis heu­te um das 40fa­che ver­rin­gert. seit 1968 ist die staub­last über dem ruhr­ge­biet um den fak­tor zehn ge­sun­ken. der blei­ge­halt der luft über deutsch­land ist in den letz­ten 40 jah­ren auf ein hun­derts­tel des aus­gangs­wer­tes in den 70ern ge­sun­ken.

wir zei­gen im­mer auf die ir­ra­tio­na­len ängs­te von frem­den­fein­den, die mei­nen ein paar zu­wan­de­rer könn­ten deutsch­land ins is­la­mis­ti­sche cha­os stür­zen — ob­wohl das land so si­cher ge­wor­den ist, dass es fast schon läh­mend wirkt.

aber wir selbst sind eben auch voll mit ir­ra­tio­na­len ängs­ten und fal­schen an­nah­men.

hans im glück mag die eine oder an­de­re in­tel­lek­tu­el­le fä­hig­keit feh­len, aber uns fehlt eben­so die fä­hig­keit die welt un­ver­zerrt durch be­find­lich­kei­ten, ängs­te oder kom­ple­xe zu se­hen. da wirkt es ehr­lich­ge­sagt schon fast über­heb­lich, wenn wir uns über hans lus­tig ma­chen — er ist we­nigs­ten glück­lich und zu­frie­den, wäh­rend uns, ne­ben un­se­rer igno­ranz, der är­ger und der stress zer­frisst — oder uns un­ser ge­wis­sen den pro­zess macht.

viel­leicht soll­ten wir et­was wohl­wol­len­der auf hans im glück schau­en.

sa­scha lobo sag­te am mitt­woch

Ge­gen Rechts­po­pu­lis­mus hilft nicht nur da­ge­gen sein, es braucht auch ein Da­für.

das heisst auch: wir müs­sen ei­nen weg fin­den. hier in der welt, aber auch in uns selbst.

wie wich­tig es ist, die­sen weg zu fin­den, zeigt die­ses kat­zen­bild von le­wis car­rol.

»Grin­se-Miez,« fing sie et­was ängst­lich an […]: »willst du mir wohl sa­gen, wenn ich bit­ten darf, wel­chen Weg ich hier neh­men muß?«
»Das hängt zum gu­ten Theil da­von ab, wo­hin du ge­hen willst,« sag­te die Kat­ze.
»Es kommt mir nicht dar­auf an, wo­hin –« sag­te Ali­ce.
»Dann kommt es auch nicht dar­auf an, wel­chen Weg du nimmst,« sag­te die Kat­ze.

wenn es uns egal ist wo­hin wir ge­hen, ist es auch egal, wel­chen weg wir neh­men.

und noch­mal zur er­in­ne­rung: hans wuss­te wo er hin woll­te.