Ler­nen will ge­lernt sein (t3n 53)

felix schwenzel in t3n

Ich war lan­ge Zeit ein lau­si­ger Schü­ler, weil ich die Schu­le nicht als ei­nen Ort er­kann­te, in dem ich ler­nen kann, son­dern als ei­nen Ort, in dem ich ler­nen muss. Es hat vie­le Jah­re ge­dau­ert, bis ich be­merk­te, dass das An­ge­bot, das mir die Schu­le mach­te, Tü­ren und Po­ten­zia­le öff­net – Tü­ren zu Er­kennt­nis­sen und Fä­hig­kei­ten, die ich für Din­ge ge­brau­chen konn­te, die mich wirk­lich in­ter­es­sie­ren. Der win­zi­ge Wahr­neh­mungs­un­ter­schied zwi­schen Ler­nen-Müs­sen und Ler­nen-Kön­nen ver­wan­del­te mich von ei­nem mie­sen Schü­ler in ei­nen ganz pas­sa­blen: Mit kon­kre­ten Zie­len vor Au­gen mach­te es mir plötz­lich Spaß, zu ler­nen.

Kin­der er­ken­nen die Vor­tei­le des Ler­nens in­tui­tiv. Man kann ih­nen nicht bei­brin­gen, zu spre­chen. Sie fan­gen von selbst da­mit an – weil sie mit­re­den kön­nen wol­len. Durch Be­ob­ach­tung, Wie­der­ho­lung und Übung er­ar­bei­ten sie sich wich­ti­ge Grund­la­gen der Gram­ma­tik und der Se­man­tik. Sie brin­gen sich jah­re­lang al­les, wirk­lich al­les, selbst bei – ein­zig und al­lein durch Zu­schau­en, Zu­hö­ren und mu­ti­ges, di­let­tan­ti­sches Nach­ma­chen. Al­les, was sie da­für brau­chen, sind Vor­bil­der: Per­so­nen in ih­rem Um­feld, de­nen sie nach­ei­fern kön­nen.

Nie­mand kommt auf die Idee, (ge­sun­de) Kin­der im Lau­fen, Re­den oder Ar­gu­men­tie­ren schu­len zu wol­len. Auf die Idee, Men­schen zu „schu­len“ kommt man erst, wenn sie un­ge­fähr sechs Jah­re alt sind – und dann sol­len sie le­bens­lang Wis­sen und Wis­sens­grund­la­gen ver­mit­telt be­kom­men.

Viel­leicht ler­nen Men­schen in Bil­dungs­ein­rich­tun­gen nicht, weil man ih­nen Lehr­stoff zu­führt, son­dern weil die­se Orte Men­schen ein Um­feld bie­ten, in dem sie ler­nen kön­nen – wenn sie wol­len. Wenn es gut läuft, ak­ti­vie­ren Bil­dungs­ein­rich­tun­gen durch Vor­bil­der auch ei­nen Sog zum Ler­nen. Der Sohn mei­ner Schwä­ge­rin be­wun­der­te sei­ne lis­peln­de Leh­re­rin so sehr, dass er plötz­lich auch an­fing zu lis­peln. Trotz­dem gibt es ei­nen Man­gel an sicht­ba­ren bil­dungs­na­hen Vor­bil­dern, die zum Ler­nen-Wol­len und Ler­nen-Kön­nen in­spi­rie­ren. In der Un­ter­hal­tung und im Sport man­gelt es kaum an sol­chen Vor­bil­dern.

Wer You­Tube-Stars nach­ei­fern will, kann sich ohne gro­ße Ein­stiegs­hür­de dar­an ver­su­chen. Wer sich vor­stel­len kann, ein Spiel, eine App, eine Web­site oder ei­nen Kampf­ro­bo­ter zu bau­en, merkt schnell, dass ma­the­ma­ti­sches Grund­wis­sen und der Um­gang mit Pro­gram­mier­spra­chen den Weg dort­hin eb­nen. Wer sich im Netz nicht ger­ne be­lü­gen, auf­het­zen oder ver­ar­schen las­sen will, er­kennt, dass Me­di­en­kom­pe­tenz im­mu­ni­sie­ren kann. Und wer ein Er­satz­teil 3D-dru­cken möch­te, sieht, dass Geo­me­trie­kennt­nis­se sehr hilf­reich sind.

Um Zie­le zu er­rei­chen, braucht es nicht nur Mo­ti­va­ti­on, son­dern auch An­eig­nungs- und Fil­ter­kom­pe­ten­zen. Ler­nen zu ler­nen ist ne­ben der Mo­ti­va­ti­on der schwie­rigs­te Schritt auf dem Weg zu Bil­dung und stän­di­ger Neu­gier. Ge­nau die­ses Ler­nen-Wol­len und -Kön­nen sind wich­ti­ge Vor­aus­set­zun­gen für Me­di­en- und Di­gi­tal­kom­pe­tenz. Bil­dung muss man sich – wie Frei­heit – neh­men. Die ge­sell­schaft­li­che Zu­kunfts­fä­hig­keit liegt in den Hän­den je­des Ein­zel­nen. Aber die Ge­sell­schaft muss auch An­re­gung, Raum und Mit­tel zum Ler­nen be­reit­stel­len.

Wir alle müs­sen in uns selbst und in an­de­ren wie­der kind­li­che Neu­gier we­cken. Wir müs­sen weg vom kon­sum­ori­en­tier­ten „das will ich ha­ben“ hin zu ei­nem lern­ori­en­tier­ten „das will ich auch kön­nen“. Es klingt ab­surd, aber wer von Qua­li­fi­zie­rungs­of­fen­si­ven oder di­gi­ta­ler Trans­for­ma­ti­on spricht, muss in ge­wis­ser Wei­se auch von In­fan­ti­li­sie­rung spre­chen.


die­se ko­lum­ne er­schien zu­erst in der t3n 53 im au­gust 2018 und hier: mehr in­fan­ti­li­tät wa­gen!