Am En­de des Som­mers stirbt man ein biss­chen

Sascha Lobo

Ich hat­te das Wort ’Pu­bli­zis­tik’ auf ei­ner Fei­er au­geschnappt, da­mals, als man noch aus dem Hau­se ging um zu vö­geln und nicht nach Hau­se. Aus Ver­se­hen stu­dier­te ich es dann (Pu­bli­zis­tik). Ein Mäd­chen woll­te stän­dig eine Re­por­ta­ge über das Schiffs­he­be­werk Nie­der­fi­now schrei­ben, der Do­zent bü­gel­te sie ab mit den Wor­ten ’Men­schen in­ter­es­sie­ren Men­schen’. Mit dem Mäd­chen habe ich spä­ter kurz ge­knutscht, der Spruch be­glei­tet mich im­mer noch; in mei­nem Vier­tel gibt es Men­schen, die mich be­son­ders in­ter­es­sie­ren.

Ein ein­bei­ni­ger Fahr­rad­fah­rer, um den her­um Felli­ni­fil­me ge­dreht wer­den könn­ten. In frü­he­ren Som­mern fuhr er fast je­den Mor­gen mit sei­nem Drei­rad­fahr­rad her­um, sein Bein ans Pe­dal ge­schnallt, das an­de­re Pe­dal fehlt. Ein dün­ner Mann, sei­ne Cord­ho­sen­bei­ne flat­ter­ten im Wind, eins mehr als das an­de­re. In sei­nem Ge­sicht war ein Grin­sen ein­gra­viert, ein un­aus­treib­ba­res, ver­zück­tes ’Bra­zil’-Grin­sen. Der Am­pu­tier­te - ’er ist ge­nau wie wir’, hör­te ich eine Mut­ter ih­rem Kind er­zäh­len, ’nur ohne Bein’. Das Kind wird zy­nisch wer­den. Die­sen Som­mer habe ich ihn nicht mehr ge­se­hen und ich habe mich da­bei er­tappt, zu wün­schen, dass er glück­lich ge­stor­ben sei, da­bei lebt er viel­leicht noch. Ein Hauch Eu­tha­na­sie weht in uns al­len.

Ge­nau ge­gen­über wohnt ein Mann, der eine se­xu­el­le Be­zie­hung zu sei­ner Wand hat. Schon oft hat er sich vier­tel­stun­den­lang an ihr ge­rie­ben. Ein Wand­fi­cker. Kaum Be­schimp­fungs­po­ten­zi­al of­fen­sicht­lich, da­für ho­hes Mit­leids­po­ten­zi­al. War­um ei­gent­lich? Da reibt sich je­mand an der Wand, na und? Ich habe es auch pro­biert; es ist so mit­tel­be­frie­di­gend. Wenn man es auf ei­ner hö­he­ren Sin­ne­be­ne be­trach­tet, dreht sich die­se Ob­ses­si­on um die Här­te der ver­geb­li­chen Um­ar­mung. Aber die Käl­te der Wand wird ir­gend­wann zu Wär­me, wenn man ge­nug ge­rie­ben hat.

An der Kas­se des Su­per­markts sitzt oft ein häss­li­ches, jun­ges Mäd­chen. Auf ih­rem lin­ken Ring­fin­ger Höhe Ehe­ring trägt sie ei­nen tä­to­wier­ten fünf­za­cki­gen Stern mit ei­nem ’M’ dar­in. Frü­her habe ich auf Mar­tin, Max oder Maja ge­war­tet, die sie an­ru­fen, ab­ho­len, sich ir­gend­wie zu er­ken­nen ge­ben. Nie et­was. Seit die­sem Som­mer sieht sie nicht mehr nur häss­lich aus, son­dern auch trau­rig, und sie hat eine an­de­re Fri­sur. In­zwi­schen war­te ich auf ein Pflas­ter um ih­ren Fin­ger, aber so­we­nig Mar­kus sich da­mals um sie küm­mer­te, so­we­nig scheint sie sich um das hin­fäl­li­ge ’M’ zu küm­mern. Ich habe ei­nen häss­li­chen Be­kann­ten na­mens Mat­thi­as, viel­leicht soll­te ich die bei­den mal vor­stel­len. Im Herbst, dann.