Home, sweet Of­fice

felix schwenzel in artikel

Prä­senz ist re­la­tiv. Ich glau­be, es ist nicht über­trie­ben zu sa­gen, dass sich Prä­senz, wie fast al­les heut­zu­ta­ge, frag­men­ta­ri­siert. Als ich mit 16 Jah­ren mit zwei Freun­den per Mit­fahr­zen­tra­le nach Frank­reich zu ei­nem zwei­wö­chi­gen Cam­ping­ur­laub auf­brach, war mei­ne Prä­senz in Frank­reich na­he­zu un­frag­men­tiert: Ich war für mei­ne El­tern nicht ohne Wei­te­res er­reich­bar. Es gab kei­ne Mo­bil­te­le­fo­ne und ei­gent­lich konn­te nur die schne­cken­lang­sa­me Brief­post oder der eine oder an­de­re Münz­fern­spre­cher mei­ne to­ta­le Frank­reich­prä­senz an­satz­wei­se aus­he­beln.

Wenn man frü­her ver­reis­te, war man wirk­lich weg. Wenn man heu­te mit sei­nem Mo­bil­te­le­fon ver­reist, sind nicht nur die Post­kar­ten via In­sta­gram et al. in­ner­halb von Se­kun­den in der Hei­mat, man ist auch per SMS oder Mes­sen­ger so gut er­reich­bar, dass man ohne Wei­te­res von Mul­ti­prä­senz re­den könn­te; wir kön­nen dank Tech­no­lo­gie gleich­zei­tig an vie­len Or­ten sein.

Man­che se­hen das, was mo­der­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gien uns heu­te er­mög­li­chen, als den Hor­ror der stän­di­gen Er­reich­bar­keit an. Mich ent­spannt es, weil mir die Tech­no­lo­gie – zu­min­dest theo­re­tisch – die Wahl lässt. Ich kann mein Mo­bil­te­le­fon oder mei­nen Lap­top schließ­lich im­mer noch ab­schal­ten.

Schon in den 90ern emp­fand ich mei­ne Nicht­er­reich­bar­keit bei Ab­we­sen­heit von mei­nem Fest­netz­an­schluss als um­ständ­li­ches Grau­en. Ich hat­te zwar, um mei­ne Prä­senz am Fest­netz zu­min­dest an­satz­wei­se zu si­mu­lie­ren, eine Rei­he Work­arounds in­stal­liert, zum Bei­spiel durch den An­schluss ei­nes An­ruf­be­ant­wor­ters mit Fern­ab­fra­ge­funk­ti­on. Ich hät­te da­mals al­les ge­ge­ben (mein La­chen, mei­ne Auf­merk­sam­keit oder un­ge­teil­te Prä­senz), um bes­ser und ent­spann­ter er­reich­bar zu sein und auf den Fern­ab­fra­ge­quatsch in Te­le­fon­zel­len ver­zich­ten zu kön­nen.

Jetzt, fast 30 Jah­re spä­ter, bin ich stän­dig er­reich­bar und freue mich je­den Tag dar­über – auch, weil ich mir si­cher bin, mit den heu­ti­gen Tech­no­lo­gien mei­ne Prä­senz bes­ser und fle­xi­bler ge­stal­ten und kon­trol­lie­ren zu kön­nen als je­mals zu­vor.

Der Witz ist na­tür­lich, dass die­se Prä­senz­tech­no­lo­gien es mir nicht nur er­lau­ben, viel fle­xi­bler und zu­frie­de­ner zu le­ben und zu ar­bei­ten. Sie ha­ben auch ei­nen Preis. Wenn ich an meh­re­ren Or­ten zu­gleich sein kann, muss ich auch mei­ne Auf­merk­sam­keit und mei­ne Kon­zen­tra­ti­on ver­tei­len. Mei­ne Ar­beits­leis­tun­gen sind nicht mehr nur an ei­nem Ort, im Büro, über­wach­bar, son­dern über­all und fast im­mer. Ich fle­xi­bi­li­sie­re nicht nur mei­nen All­tag, ich hal­se mir auch Ver­ant­wor­tung und ver­meint­li­che Pflich­ten für mei­ne Ar­beit auf, die ich frü­her™ be­quem im Büro hät­te zu­rück­las­sen kön­nen. Ich ver­tei­le mei­ne Auf­ga­ben nicht mehr auf eine Acht­-Stun­den-­Pe­ri­ode, son­dern auf mei­nen ge­sam­ten All­tag. Plötz­lich ar­bei­te ich auch am Wo­chen­en­de – weil es geht.

Tech­no­lo­gie bringt uns un­ge­ahn­te Fä­hig­kei­ten, Be­quem­lich­keit und Fle­xi­bi­li­tät – aber ne­ben die­sen Se­gen auch jede Men­ge Flü­che, die mehr oder we­ni­ger un­be­merkt in un­se­ren All­tag krie­chen.

Die ent­schei­den­de Fra­ge ist des­halb nicht Home­ oder Prä­senz­of­fice, Fle­xi­bi­li­sie­rung oder Kon­so­li­die­rung, son­dern wie wir die Vor­ und Nach­tei­le aus­ba­lan­cie­ren, wie wir un­se­re Ar­beits-­ und Le­bens­be­din­gun­gen so ge­stal­ten und ver­han­deln, dass am Ende alle et­was ge­win­nen und am Ende doch die Vor­tei­le über­wie­gen.

Ich ver­su­che in letz­ter Zeit üb­ri­gens wie­der, re­gel­mä­ßig ins Büro zu ge­hen. Das hilft zwar kaum da­bei, mei­ne Prä­senz zu de­frag­men­ta­ri­sie­ren, aber es er­leich­tert mir, zwi­schen Ar­beit und Frei­zeit zu tren­nen. Mor­gens, nach ei­nem sehr frü­hen Früh­stück, ver­su­che ich ein paar Stun­den lang das In­ter­net leer zu le­sen und ins In­ter­net zu schrei­ben, um dann, mit ei­nem frü­hen Mit­tag­essen, mein Ar­beits-­Ar­beits­pen­sum zu er­le­di­gen.

Ge­ra­de weil ich weiß, dass ich ins Ho­me­of­fice könn­te, gehe ich be­son­ders ger­ne ins Büro, erst recht, wenn ich die Fle­xi­bi­li­tät, die mir mein Ar­beit­ge­ber ge­währt, ge­ra­de gar nicht be­nö­ti­ge. Mir reicht (der­zeit) die Fle­xi­bi­li­tät als Po­ten­zi­al. Zu­mal im Büro sehr fleis­si­ge und freund­li­che Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen und ein ge­nau­so freund­li­cher Bü­ro­hund rum­lau­fen.

Was ich al­ler­dings im Büro sehr ver­mis­se: die Mög­lich­keit zu ei­nem kur­zen Mit­tags­schlaf.


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