mos­kau 3/5 — gros­ser mos­kau­er staats­zir­kus

felix schwenzel in gesehen

am zwei­ten oder drit­ten tag un­se­res mos­kau auf­ent­hal­tes ha­ben uns freun­de mei­nes schwa­gers in den mos­kau­er staats­zir­kus ein­ge­la­den. da die mos­kau­er freun­de mei­nes schwa­gers mit kin­dern un­ter­wegs wa­ren, war das fol­ge­rich­tig. ich mag zir­kus aber auch sehr ger­ne. mein ers­ter be­rufs­wunsch war — na­tür­lich — clown, auch wenn die clowns mich bei mei­nem mei­ner ers­ten zir­kus­be­su­che zum wei­nen ge­bracht ha­ben.

nach ei­nem pick­nick im frei­en sind wir hin zum rie­si­gen be­ton­zelt. die wi­ki­pe­dia sagt, dass be­ton­zelt sei an­fang der sieb­zi­ger jah­re er­baut wor­den. das kommt de­fi­ni­tiv hin, die ein­gangs­be­rei­che und die fas­sa­de se­hen ein­deu­tig nach sieb­zi­ger-jah­re aus.

ins­ge­samt scheint das ge­bäu­de in gu­tem schuss zu sein und vor al­lem der ei­gent­li­che thea­ter-/vor­stel­lungs­raum scheint vor zehn oder zwan­zig jah­ren kräf­tig mo­der­ni­siert wor­den zu sein. oben, über den rän­gen ist eine durch­ge­hen­de LED-wand an­ge­bracht, die zwar nied­rig-auf­lö­send ist, aber wäh­rend der vor­stel­lung für vi­deo-ein­spie­lun­gen oder stim­mungs­licht be­nutzt wird. die sit­ze auf den rän­gen sind re­la­tiv eng, zu­min­dets da wo wir sas­sen, aber ins­ge­samt ist die sitz­si­tua­ti­on ziem­lich ge­schickt ge­macht. die zu­schau­er sit­zen im prin­zip im kreis, le­dig­lich un­ter­bro­chen von pu­bli­kums- und ar­tis­ten­ein­gän­gen

sitz­auf­tei­lung great­cir­cus.ru

im klas­si­schen zir­kus­zelt ist die sitz­si­tua­ti­on ja eher U-för­mig, der ma­ne­gen­ein­gang, und das or­ches­ter dar­über, neh­men da ziem­lich viel platz weg und ma­chen die plät­ze ne­ben dem ma­ne­gen­ein­gang eher bil­lig. im mos­kau­er staats­zir­kus wirk­te das ge­schick­ter auf­ge­teilt, zu­mal die ein­gangs­fluch­ten meh­re­re eta­gen hat­ten, oben fürs pu­bli­kum, un­ten für künst­ler und tech­ni­ker und tie­re.

rus­si­scher staats­zir­kus von in­nen. ge­gen­über, was aus­sieht wie ein bun­ga­low, sitzt (und steht) das or­ches­ter

die ma­gie vom thea­ter, eben­so wie vom zir­kus, wird ja meist durch ge­schickt ge­setz­tes licht er­zeugt. das funk­tio­nier­te hier zu­nächst ganz her­vor­ra­gend. zu be­ginn der vor­stel­lung (zu­min­dets in mei­ner er­in­ne­rung) wur­de es stock­dun­kel, bis ein spot eine klei­ne, mi­ni­ma­lis­ti­sche sze­ne in der ma­ne­ge be­leuch­te­te: ein kin­der­bett. ein star­kes, mi­ni­ma­lis­tisch in­sze­nier­tes bild, das aber nach kur­zer zeit von ei­ner alt-män­ner-phan­ta­sie zer­stört wur­de, denn her­ein kam ein kind und eine frau, wie sich der re­gis­seur oder pro­du­zent der ak­tu­el­len schau, wohl müt­ter nach ein paar wod­ka vor­stel­len: schlank, jung, adrett, per­fekt fri­siert und in ein leich­tes kleid­chen ge­hüllt. als die mut­ter das kind ins bett ge­bracht hat ging er­neut das licht aus — und dann wie­der an. der ku­schel­bär war zwi­schen­zeit­lich zum le­ben er­wacht, von der de­cke seil­te sich ein weiss­ge­klei­de­ter hip­hop-en­gel ab, dann fiel eine weis­se fe­der von der de­cke und es zeig­te sich, dass der rus­si­sche staats­zir­kus kei­ne be­rüh­rungs­ängs­te mit kitsch und pa­thos hat. es wur­de hem­mungs­los in jede kli­scheeschub­la­de ge­grif­fen, die ge­ra­de of­fen­stand. im­mer­hin tech­nisch per­fekt.

zir­kus ist ja im­mer (ein biss­chen) pa­the­tisch, und das ist auch völ­lig OK und ge­hört dazu, aber wie im­mer, macht hier die do­sis das ver­gnü­gen. für mich war die pa­thos- und kitsch­do­sis eine spur zu hoch.

wie das un­ge­fähr aus­sieht, zeigt die­ser trai­ler zu der schow die wir ge­se­hen ha­ben (mes­sen­ger, al­ters­frei­ga­be 0 jah­re).

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was man im trai­ler auch sieht: in der show tre­ten auch wil­de tie­re auf (aber auch ein paar do­mes­ti­zier­te). wild­kat­zen, kro­ko­di­le, schlan­gen und see­ele­fan­ten. mein ers­ter ge­dan­ke war dann nicht mal un­be­dingt: „das ist aber nicht be­son­ders tier­ge­recht“ son­dern: „hm, das ist ganz schön lang­wei­lig und sinn­be­freit“. bei den schlan­gen und den kro­ko­di­len war das be­son­ders auf­fäl­lig: erst wur­den die kro­ko­di­le in die ma­ne­ge ge­schau­felt, ein paar tän­zer tän­zel­ten um sie rum und rie­fen wahr­schein­lich auf rus­sisch: „guckt mal, wir ha­ben kro­ko­di­le!“ — und dann wur­den sie wie­der aus der ma­ne­ge ge­schauf­felt. glei­ches spiel mit ein paar schlan­gen: schlan­ke frau­en tru­gen sie in die ma­ne­ge, tän­zel­ten ein biss­chen — und dann wie­der raus. der leo­pard an der lei­ne: rein, in ei­nem körb­chen durch die man­ge ge­schwenkt, wie­der raus. bei den lö­wen war das ein biss­chen auf­wän­di­ger, kam aber aufs glei­che raus: rein, hop­pe­dih­opp, wie­der raus.

die ein­zi­ge tier­num­mer die un­ter­halt­sam war, war die mit den see­ele­fan­ten. dort sah ich zwar das, was ich schon un­zäh­li­ge male vor­her ge­se­hen hat­te, aber es war un­ter­halt­sam, lus­tig und gut in­sze­niert. al­ler­dings blieb mir schön wäh­rend der see­len­aten-num­mer das la­chen im hal­se ste­cken, weil ich mir kras­sen an­thro­po­mor­phis­mus dia­gnos­ti­zier­te und mich plötz­lich un­sym­pa­thisch und naiv fand. muss ich wirk­lich la­chen, wenn ab­ge­rich­te­te, ein­ge­sperr­te tie­re sa­chen ma­chen, und durch ge­schick­te na­ra­ti­ve mensch­li­che ei­gen­schaf­ten auf sich pro­ji­zie­ren las­sen? ja, muss­te ich wohl, ich war ja im zir­kus.

wirk­lich gut wa­ren sämt­li­che ar­tis­ten, auch wenn sie im rah­men der in­sze­nie­rung in teil­wei­se enorm pein­li­che kos­tü­me ge­zwängt wur­den. auch hier war die tech­ni­sche um­set­zung ein­wand­frei; die sei­le der seil­tän­zer wur­den un­be­merkt ge­spannt und um­ge­spannt, die ar­tis­ten zo­gen ihre num­mern feh­ler­frei durch und brach­ten ihre teils be­acht­li­chen kraft- und ge­schick­lich­keits­übun­gen mit schein­ba­rer leich­tig­keit rü­ber. aber bei all der pro­fes­sio­na­li­tät und per­fek­ti­on, spür­te ich — oder bil­de­te mir ein — dass die ar­beit in der ma­na­ge den dar­stel­lern nicht be­son­ders viel freu­de be­rei­tet. un­ter all dem kitsch, dem per­fekt ge­setz­ten licht, trotz des gran­dio­sen live-or­ches­ters, lag ein di­cker schlei­er trau­rig­keit und zwang.

kann na­tür­lich auch sein, dass ich trau­rig­keit nicht mehr von ef­fekt-ne­bel un­ter­schei­den kann, aber ir­gend­wie war ich froh, als das al­les vor­bei war, auch wenn am ende noch­mal kräf­tig auf die kitsch­tu­be ge­drückt wur­de.

es gibt ne­ben der mes­sen­ger-show, die wir sa­hen, wohl noch an­de­re auf­füh­run­gen im rus­si­schen staats­zir­kus, aber die pro­mo­ti­on­bil­der sug­ge­rie­ren alle eine sehr gros­se af­fi­ni­tät zum kitsch.

im­mer­hin er­freu­lich, dass die wer­bung ge­gen zir­kus­se, wie den rus­si­schen staats­zir­kus, in deutsch­land auch kaum ei­nen deut bes­ser ist.

wer­bung ge­gen wild­tie­re im zir­kus

ich hof­fe mein ein­druck vom rus­si­schen staats­zir­kus klang jetzt nicht zu ne­ga­tiv. ich fürch­te ein biss­chen, dass ich aus dem zir­kus-al­ter viel­leicht ein­fach ein raus bin — und das muss gar nicht mal mit mei­nem al­ter zu­sam­men­hän­gen. ich glau­be mein ge­schmack hat sich ein­fach ge­wan­delt. als ich jün­ger war, dach­te ich die af­fek­tier­te, thea­tra­li­sche art kunst­stü­cke im zir­kus zu prä­sen­tie­ren, sei eben die art, wie man kunst­ü­cke prä­sen­tiert. mitt­ler­wei­le hal­te ich ge­nau die­ses thea­tra­li­sche mo­ment nicht mehr so gut aus. ich pro­bie­re es trotz­dem im­mer wie­der ger­ne aus, zu­letzt vor drei oder vier jah­ren imn ber­lin, im ron­cal­li win­ter­zir­kus, auch im be­ton­zelt, im tem­po­drom. den win­ter­zir­kus fand ich un­term strich eher ent­täu­schend, ob­wohl der zir­kus ron­cal­li vor 25 jah­ren eine of­fen­ba­rung für mich war. in den letz­ten jah­ren habe ich ein­fach das ge­fühl, im zir­kus ein­fach nichts neu­es mehr zu se­hen und das alte kann ich noch nicht wie­der schät­zen. ob­wohl, wenn ich recht nach­den­ke, bin ich auch vom neu­en teil­wei­se ge­nervt. vor 20 jah­ren war der cir­que du sol­eil ja auch noch neu und als ich die show da­mals in den USA sah, war ich auch eher un­der­whel­med und over­kit­sched.

aber das be­ton­zelt ist wirk­lich schön und enorm funk­tio­nal.