fluch und segen von erreichbarkeit
in den neunziger jahren hab ich zum ersten mal gehört, dass „ständige erreichbarkeit“ etwas schreckliches sei. damals wurde die ständige erreichbarkeit vor allem im zusammenhang mit mobiltelefonen als etwas negatives gesehen. das loblied der unerreichbarkeit im zusammenhang mit mobiltelefonen wird seit den neunzigern regelmässsig gesungen, zuletzt habe ich rocko schamoni drüber vor vier tagen singen hören:
Ich brauche Ruhe, Abstand und Kontaktlosigkeit. Unerreichbarkeit.
rocko schamoni bieter als lösung ein mobiltelefon aus ton an. für 40 euro. ein tonloses telefon aus ton hat allerdings nicht dazu geführt, dass ihn der NDR in ruhe gelassen hat. der hat ihn nicht nur kontaktiert, sondern auch noch ein fernsehteam in die töpferei geschickt.
und natürlich ist das alles viel komplizierter. ständige erreichbarkeit kann einen auch ohne jede elektronik oder internet plagen. darauf weist konstantin in in „ständig erreichbar IRL“ hin.
Es nagt etwas an mir, die ganze Zeit von Leuten umgeben zu sein. Das bin ich nicht gewohnt. Immer ansprechbar zu sein.
das internet hat nichts fundamentales neu erfunden. es verdichtet nur vorhandene strukturen, verkürzt abstände und schafft neue verbindungen, beschleunigt vorgänge, macht schwer erreichbares leichter verfügbar. sobald wir in gesellschaft sind, wird von uns ein gewisser grad verfügbarkeit erwartet. das war schon immer so und erforderte schon immer, dass wir uns strategien zurechtlegen, um damit sozialverträglich umzugehen. sich der gesellschaft und damit der verfügbarkeit konsequent zu entziehen möchten nur wenige, ein eremiten-dasein erscheint den wenigsten menschen wünschenswert. das mit der verfügbarkeit ist also eher eine gratwanderung, eine frage der dosierung und des kontext.
deshalb ist ein telefon aus ton vielleicht ein ganz guter witz über den man 10 sekunden schmunzeln kann und dann weiterscrollt. besser ist es wahrscheinlich sich gedanken darüber zu machen, wem man wann aufmerksamkeit und verfügbarkeit schenken will, wann nicht und wie man das im alltag durchsetzt oder ermöglicht.
in der hundeerziehung sind nähe und distanz eine währung. auf der strasse wollen hundehalter die volle aufmerksamkeit (sprich verfügbarkeit) ihres hundes, zuhause soll er sich distanziert und höflich verhalten und am besten ganz ruhig und bei sich sein. das funktioniert aber nur, wenn man mit dem hund (stillschweigend) einen deal abgeschlossen hat. hunde sind opportunisten und fragen sich, warum man dem menschen aufmerksamkeit schenken soll, wenn es draussen so viel interessantere dinge gibt. und umgekehrt fragen sie sich zuhause, warum sie sich zuhause höfliich distanziert verhalten sollen, wenn man durch nähe und bedrängen den menschen dazu bringen kann zum beispiel ausserplanmässig essen zu bekommen oder aufmerksamkeit, wenn hund sich langweilt.
der deal ist abgeschlossen, sobald der hund merkt, dass sich bestimmtes verhalten in bestimmten situationen lohnt. bei uns menschen ist das nicht anders. wir haben gelernt, dass es sich lohnt für ungefähr acht stunden am tag seine aufmerksamkeit und verfügbarkeit fremden menschen und fremden problemen zu schenken. dann bekommen wir gehalt, kunden oder publikum. wir haben gelernt, dass wir nicht alleine leben müssen, wenn wir anderen menschen gelegentlich aufmerksamkeit und verfügbarkeit schenken.
was uns schwer fällt: unsere aufmerksamkeit und verfügbarkeit klug zu verwalten. möglicherweise hat die natur genau deshalb den schlaf erfunden. so können auch wesen die es nicht schaffen zeitweilig distanz und unerreichbarkeit einzufordern ein paar stunden pro tag unerreichbar sein und ihre verfügbarkeitsbatterien aufladen.
man sagt ja, aufmerksamkeit sei eine währung im internet. und wenn man sich klar macht, dass hinter aufmerksamkeit verfügbarkeit (oder eben erreichbarkeit) steht, wird vielleicht auch klar, warum unsere verfügbarkeitsbatterien sich einen ticken schneller leeren als früher™. weil alle um unsere aufmerksamkeit schreien und wir keine wirksamen methoden gefunden haben unsere aufmerksamkeit und verfügbarkeit klug zu verwalten. nicht social media, messenger, nachrichten und benachrichtigungen, soziale zwänge, tiktok oder bummsfallera sind das problem, sondern dass wir unsere aufmerksamkeit einfach jedem schenken der danach fragt. das wir nicht gelernt haben unsere aufmerksamkeit zu verwalten oder noch nicht ihren wert als wertvolle ressource, als währung erkannt haben.
vor vierzig jahren stand in fast jedem haushalt ein telefon. diese telefone waren an der wand festgebunden und liessen sich nicht mitnehmen. sie haben so funktioniert: wenn man zuhause war, war man erreichbar. wenn man nicht zuhause war, war man nicht erreichbar.
das hat erstaunlich gut funktioniert, auch wenn man sich das heute nicht mehr vorstellen kann.
für mich funktioniert das heute noch genauso. die beifahrerin regt sich da immer drüber auf, dass ich ihre nachrichten oder gelegentlich auch anrufe nicht mitbekommen, wenn ich mit dem hund unterwegs bin. mein telefon klingelt schon seit jahren nicht mehr. wenn jemand anruft oder eine nachricht schickt, blinkt es kurz. möglicherweise vibriert meine uhr auch kurz. aber das ist kein technischer gimmick, sondern eine bewusste entscheidung. erreichbar bin ich, wenn ich zuhause bin und kapazität habe. dann bekomme ich auch die subtilste benachrichtigung mit, dann muss das telefon nicht klingeln oder vibrieren. wenn ich mittagsschlaf mache, verwandle ich mein telefon in ein stück ton, bei apple telefonen heißt diese funktion „focus“. das deaktiviert für die genau für die zeit des mittagsschlaf alle benachrichtigungen und anrufe.
wie ich meine aufmerksamkeit oder verfügbarkeit verwalte ist definitiv nicht perfekt, vielleicht noch nicht mal gut. aber ich arbeite daran. mir ist klar, dass aufmerksamkeit und verfügbarkeit verwaltet werden müssen und ich suche mittel und wege, technische hilfsmittel und routinen um dem ziel ein bisschen näher zu kommen. und das ziel ist kein ja oder nein, sondern eher ein wann und wie.
vorletzter gedanke der mir heute beim grübeln kam: radikale unerreichbarkeit erreicht man mit dem tod. eigentlich kann man unnerreichbarkeit auch ganz gut als definition für den tod benutzen. oder umgekehrt: leben beduetet erreichbarkeit und verfügbarkeit.
letzter gedanke: über diesen vorschlag von ikea erreichbarkeit durch gamification und technik besser verwalten zu können konnte ich 10 sekunden länger schmunzeln als über schamonis tontelefon.