hei­ner

felix schwenzel in artikel

wenn hei­ner ir­gend­wo stand, hat­te er im­mer die fäus­te ge­ballt. das wirk­te aber nicht ag­gres­siv, son­dern eher in­tro­ver­tiert, als ob er sich sam­mel­te. hei­ner war gross, kräf­tig und grau-me­liert-bär­tig — und mein ers­ter chef nach dem ab­itur.

ich hat­te mir nach der schu­le über­legt, et­was von der welt se­hen zu wol­len, und lan­de­te dann für mei­nen zi­vil­dienst in der nähe von ful­da, in ei­ner an­thro­po­so­phi­schen le­bens­ge­mein­schaft, in der „Men­schen mit und ohne Hil­fe­be­darf“ zu­sam­men­le­ben. das zu­sam­men­le­ben war und ist WG-ar­tig in fa­mi­li­en­ver­bän­den, in gros­sen häu­sern or­ga­ni­si­ert. ge­ar­bei­tet wur­de in werk­stät­ten, im gar­ten, der land­wirt­schaft, ei­ner bä­cke­rei oder im dorf­la­den.

mein ehe­ma­li­ger judo-leh­rer aus aa­chen war vor ei­ni­gen jah­ren in die­se le­bens­ge­mein­schaft ge­zo­gen, hat­te mit sei­ner frau eine der fa­mi­li­en über­nom­men und lei­te­te die we­be­rei in sas­sen. mei­ne mut­ter hat­te nach mei­ner kur­zen judo-kar­rie­re kon­takt mit den bei­den ge­hal­ten und sie auch ein­mal dort be­sucht. die er­zäh­lun­gen mei­ner mut­ter vom le­ben im dorf hat­ten mich fas­zi­niert, des­halb be­warb ich mich für mei­nen zi­vil­dienst dort, wur­de ge­nom­men und dach­te, dass ich dann auch in der we­be­rei lan­den wür­de. ich wur­de dann aber der holz­werk­statt zu­ge­ord­net. hei­ner lei­te­te dort den be­trieb, war aber of­fi­zi­ell nicht der werk­statt­lei­ter. er war kein an­thro­po­soph und leb­te auch nicht in der dorf­ge­mein­schaft, son­dern et­was aus­ser­halb von ful­da, in gi­chen­bach.

hei­ner brach­te mir den um­gang mit den gross­ma­schi­nen bei, mit der kreis­sä­ge, der schleif­sch­ei­be, der dick­te und das hat er of­fen­sicht­lich gut ge­macht, denn nach 15 mo­na­ten zi­vil­dienst und ei­nem wei­te­ren jahr als an­ge­stell­ter in der le­bens­ge­mein­schaft hat­te ich noch alle fin­ger. in der holz­werk­statt bau­ten wir ge­mein­sam mit un­ge­fähr ei­nem dut­zend „dörf­lern“ vo­gel­nist­käs­ten. in den pau­sen stan­den wir hin­ten an der ram­pe, und hei­ner rauch­te roth-händ­le ohne fil­ter. er moch­te an den roth-händ­les, dass sie ohne zu­satz von aro­ma­stof­fen aus­ka­men. ich fand das kraut ek­lig, aber zu hei­ner pass­te die mar­ke: schnör­kel­los, klar, kon­se­quent, na­tur­nah. zehn oder zwan­zig jah­re spä­ter hat­te er kei­ne lust mehr zu rau­chen und hör­te, ganz schnör­kel­los, von ei­nem auf den an­de­ren tag auf.

hei­ner war zwar mein chef, aber un­ser um­gang war im­mer auf au­gen­hö­he, trotz des al­ters­un­ter­schieds von un­ge­fähr zwan­zig jah­ren. ich war zwar frisch aus der schu­le und na­se­weis, aber ich war lern­wil­lig, form­bar und hat­te noch kein sen­dungs­be­wusst­sein. mein ziel war, so viel wie mög­lich zu ler­nen, und auch wenn ich mir das an­thro­po­so­phie-ge­döns di­stan­ziert, aber durch­aus neu­gie­rig an­schau­te, war ich wie ein schwamm für al­les, was mir hei­ner bei­brach­te. wo­bei bei­brin­gen das fal­sche wort ist: hei­ner zeig­te mir, wie es geht, und ich mach­te es dann so. hei­ner hat­te zwar nach ei­ner kur­zen kar­rie­re als po­li­zist ir­gend­was so­zia­les stu­diert, aber er agier­te nie wie ein päd­ago­ge, auch nicht im um­gang mit den men­schen mit be­hin­de­run­gen. er zeig­te, wie es geht, und so wur­de es dann ge­macht. er sag­te, was ihm ge­fiel und was nicht. er re­de­te nicht drum­rum, war aber im­mer freund­lich.

ich weiss gar nicht, wie ich un­se­re be­zie­hung am bes­ten be­schrei­ben soll. wir wa­ren je­den­falls über 30 jah­re be­freun­det, auch wenn wir uns al­les an­de­re als re­gel­mäs­sig sa­hen. nur vom som­mer 1989 bis ende 1990 sa­hen wir uns täg­lich. nach mei­nem zi­vil­dienst kehr­te ich für ein paar mo­na­te zu­rück nach hau­se ins rhein­land, um dann im früh­jahr 1991 drei mo­na­te bei hein­ers neu­em ar­beits­platz in ful­da (bei „grü­mel“) zu ar­bei­ten. für die zeit zog ich bei hei­ner in gi­chen­bach ein, und das ist auch die zeit mit hei­ner, an die ich mich am in­ten­sivs­ten er­in­ne­re — und die auf meh­re­re ar­ten prä­gend war.

hei­ner wohn­te zur mie­te im erd­ge­schoss ei­nes gros­sen hau­ses in gi­chen­bach, ei­nem klei­nen, ab­ge­le­ge­nen dorf in der nähe von gers­feld und ful­da. er und sei­ne fa­mi­lie hiel­ten alle mög­li­chen tie­re: gän­se, en­ten, spä­ter auch woll­schwei­ne, scha­fe und im­mer auch ei­nen hund. ne­ben­bei war hei­ner noch jä­ger und kann­te (na­tür­lich) den förs­ter. er kann­te ei­gent­lich alle in gi­chen­bach, glau­be ich, und so lern­te ich in mei­ner zeit bei grü­mel auch alle mög­li­chen leu­te aus dem dorf ken­nen: den holz­rü­cker mit den gros­sen hän­den, den förs­ter, die nach­barn, den holz­händ­ler ge­gen­über, den tank­stel­len­be­trei­ber „erb­se“.

wir fuh­ren je­den mor­gen ge­mein­sam nach ful­da, zur ar­beit bei grü­mel. dort fuh­ren wir dann ge­trennt, je­der mit ei­ner grup­pe schwer ver­mit­tel­ba­rer ju­gend­li­cher mit ei­ner prit­sche durch ful­da, um dort gär­ten und was­ser­auf­be­rei­tungs­an­la­gen zu mä­hen oder he­cken zu schnei­den. im vor­feld zu die­sem job war ich vol­ler zwei­fel, ob ich als nai­ver jung­spund mit ab­itur und ein paar mo­na­ten zi­vil­dienst über­haupt als vor­ar­bei­ter von schwer ver­mit­tel­ba­ren – also als schwie­rig gel­ten­den – ju­gend­li­chen klar­kom­men wür­de. er­staun­li­cher­wei­se funk­tio­nier­te das gut. das biss­chen au­to­ri­tät, das ich aus­strahl­te, wur­de von nie­man­dem an­ge­zwei­felt – auch nicht von e., der vor­be­straft war, weil er ei­nem rent­ner eine plas­tik­tü­te mit ei­nem brat­hähn­chen ent­ris­sen hat­te und mir ir­gend­wann sei­ne selbst tä­to­wier­ten, fi­cken­den ot­ti­fan­ten auf sei­nem rech­ten un­ter­arm zeig­te.

die ar­beit war kör­per­lich an­stren­gend, des­halb war mein be­dürf­nis, in der zeit bei hei­ner abends aus­zu­ge­hen oder et­was zu un­ter­neh­men, nur mi­ni­mal aus­ge­prägt. ge­le­gent­lich fuh­ren hei­ner und ich abends durch den wald zum trin­ken. ich er­in­ne­re mich, dass ich eine wei­le brauch­te, um auf den ge­schmack von becks zu kom­men, es dann aber ir­gend­wann sehr ger­ne moch­te. ich er­in­ne­re mich an den ge­ruch und die piep­sen­den ge­räu­sche von gän­se­kü­ken, ich lern­te, ein reh „aus dem fell zu schla­gen“, und ich er­in­ne­re mich, wie wir ge­mein­sam in der kü­che sas­sen, rauch­ten und zei­tung la­sen.

an den all­tag in die­sen drei mo­na­ten bei hei­ner (und as­trid, hein­ers da­ma­li­ger frau) er­in­ne­re ich mich ins­ge­samt nur schwach. es gab da­mals kein in­ter­net und bei hei­ner kei­nen fern­se­her. alle neu­ig­kei­ten aus der welt und der nach­bar­schaft er­reich­ten uns über die ful­da­er zei­tung. wir ver­brach­ten an­ge­sichts des ein­ge­schränk­ten frei­zeit­an­ge­bots in gi­chen­bach wahr­schein­lich sehr viel zeit mit­ein­an­der — und hei­ner und ich ka­men of­fen­bar gut mit­ein­an­der zu­recht.

hei­ner er­zähl­te zwar ger­ne und viel, aber über­mäs­sig viel ge­re­det ha­ben wir auch nicht. wir konn­ten, wie hun­de, ganz gut schwei­gend un­se­re zeit mit­ein­an­der ver­brin­gen. durch den al­ters­un­ter­schied und das er­fah­rungs­del­ta gab es wahr­schein­lich schon ein be­zie­hungs­ge­fäl­le. aber hei­ner hat­te in un­se­rer be­zie­hung nichts vä­ter­li­ches oder meis­ter­haf­tes, und ich war eher neu­gie­ri­ger be­ob­ach­ter von hein­ers le­bens­ent­wurf als eif­ri­ger schü­ler oder nach­ei­fe­rer. wahr­schein­lich kann man un­se­re be­zie­hung am bes­ten als klas­si­sche män­ner­freund­schaft be­schrei­ben: viel über die welt, die ver­gan­gen­heit und die zu­kunft re­den, we­nig bis gar nicht über ge­füh­le, ge­mein­sam trin­ken, fach­sim­peln.

ich woll­te spä­ter psy­cho­lo­gie stu­die­ren, aber woll­te die mög­lich­keit, ein le­ben wie hei­ner zu füh­ren, als op­ti­on mit­neh­men und spä­ter™ mein in­ter­es­se an so ei­nem le­ben noch­mal prü­fen. am ende bin ich ein stadt­mensch ge­wor­den, habe nie wie­der ein reh aus dem fell ge­schla­gen, und das ers­te tier zog erst vor fünf jah­ren bei uns ein. aber hei­ner habe ich im­mer wie­der be­sucht, und so­wohl das wie­der­se­hen mit ihm als auch die land­schaft der rhön ha­ben mich je­des mal sen­ti­men­tal be­rührt.

zu­letzt habe ich hei­ner zu sei­nem 70. ge­burts­tag be­sucht, mit der bei­fah­re­rin. hei­ner war schlan­ker, ich fet­ter ge­wor­den, aber die ver­traut­heit, die män­ner­freund­schaft­li­che nähe war so­fort wie­der da. ein biss­chen vä­ter­lich war hei­ner dann doch, als er mich auf sei­ne un­nach­ahm­li­che art dar­auf hin­wies, dass ein paar kilo ge­wichts­ver­lust sich durch­aus po­si­tiv auf das „fahr­ge­stell“ im al­ter aus­wir­ken wür­den. er wünsch­te sich, frü­her auf sein ge­wicht ge­ach­tet zu ha­ben – dann hät­te er jetzt mit 70 we­ni­ger pro­ble­me mit sei­nem fahr­ge­stell. noch schö­ner als die ge­burts­tags­fei­er selbst war das früh­stück am nächs­ten mor­gen. wir la­sen zwar nicht mehr ge­mein­sam ful­da­er zei­tung, aber sas­sen in hein­ers er­wei­ter­ten, sonst weit ver­streu­ten fa­mi­li­en­kreis zu­sam­men. ich lern­te die in­zwi­schen er­wach­se­nen töch­ter hen­ri­et­te und loui­se neu ken­nen, die ich zwar noch von frü­he­ren be­su­chen kann­te, die sich aber pein­li­cher­wei­se de­tail­lier­ter und ge­nau­er an mich er­in­ner­ten, als ich an sie.

die bei­fah­re­rin und ich spra­chen mit hei­ner über un­se­re idee, uns ei­nen hund an­zu­schaf­fen – auch, weil mir of­fen­bar hein­ers mei­nung wei­ter­hin sehr wich­tig war. hei­ner war kein freund von hun­den in der stadt, aber als wir sag­ten: „pu­del“, sag­te er: „pu­del ist gut!“ dass fri­da den se­gen von hei­ner be­kam, macht mich bis heu­te froh. ich bin nur sehr trau­rig, dass ich ihm fri­da nie vor­stel­len konn­te, denn ir­gend­wann im som­mer 2023 be­kam ich ei­nen brief, in dem stand, dass hei­ner am 10.06.2023 ver­stor­ben ist.

ich schrieb vor un­ge­fähr ei­nem hal­ben jahr, dass ich in sa­chen trau­er nicht be­son­ders gut bin. ich blei­be so um die drei bis zehn jah­re in der de­ni­al-/leug­nungs­pha­se ste­cken und über­sprin­ge dann ir­gend­wann die an­ger-, bar­gai­ning- und de­pres­si­ons­pha­sen, um zu so et­was wie ak­zep­tanz zu kom­men. hein­ers tod mag ich aber bis heu­te nicht ak­zep­tie­ren.


in der bei­la­ge ist ein scan von hein­ers trau­er­an­zei­ge, mit ei­nem bild von hei­ner, das ge­nau dem bild von hei­ner vor mei­nem in­ne­ren auge ent­spricht.