julia (aber auch heiner, christine, kristof, elena, …)

felix schwenzel in artikel

öffentlich über menschen zu schreiben die einem wichtig sind, die einem viel bedeuten, ist wahnsinnig schwer. deshalb haben die menschen fiktion als literarisches werkzeug erfunden. auch fiktional über die eigenen gefühle anderen menschen gegenüber zu schreiben ist schwer, aber die zusätzliche distanz hilft einem das eine oder andere problem zu umschiffen.

beim lesen von Julia wusste ich nach fünf minuten dass julia am ende des textes nicht mehr leben würde und dass der text nicht (wirklich) fiktional ist.

konstantin, der den text schrieb, behauptet ja auf seiner about-seite auch, das seine text-sammlung „privat und fiktional“ sei. das ist genauso wahr wie meine vorherige behauptung, dass der text nicht (wirklich) fiktional sei. denn bekanntlich ist alles, auch die kohlenstoff-welt fiktional und virtuell, oder populärer ausgedrückt: subjektiv und konstruiert. realität, das oft romantisierte „real life“, ist eine virtuelle konstruktion einzelner und (durch kommunikation) vernetzter gehirne.

aber darauf wollte ich gar nicht hinaus. ich wollte darauf hinaus, wie befreiend — ja, kathartisch — es sein kann, über menschen zu schreiben, die einem viel bedeuten. ich hatte vor vielen jahren das starke bedürfnis alte freunde und freundinnen einerseits wieder zu sehen und andererseits darüber nachzudenken warum sie mir wichtig waren und sind. und weil ich beim schreiben am besten nachdenken und gedachtes verdauen kann, wollte ich eben auch über meine alten freunde schreiben.

auch wenn wir mittlerweile so gut wie jeden menschen innerhalb von sekunden auf einem bildschirm oder lautsprecher vor uns erscheinen lassen können, wenden wir diesen technik-trick selten an.

2016 nahm ich mir im frühjahr ein paar tage frei um so viele alte freunde wie möglich zu besuchen. viele der freunde freuten sich, aber einige waren auch darüber erschrocken, wenn ich andeutete, dass ich darüber vielleicht schreiben würde. im anschluss an die reise schrieb ich ein paar textfragmente, aber veröffentlichte keinen einzigen text. das schreiben fiel mir auch wahnsinnig schwer, es war unfrei und im hinterkopf lungerte immer der gedanke, was könnte sie oder er darüber denken?

auch über verstorbene freunde zu schreiben ist nicht leicht, aber an konstantins text merkt man dass es leichter ist und eigentlich (sowieso) mehr über einen selbst verrät, als über die andere person. und das ist auch das grossartige an diesem „genre“. es ist die ideale methode über sich nachzudenken ohne egozentrisch zu wirken. ich habe konstantins text jetzt mehrfach gelesen, auch um zu verstehen, warum mir der text so gut gefällt oder warum dieses „genre“, texte über alte freunde, so gut funktioniert und meine euphorie-saiten zum klingen bringt. wahrscheinlich liegts auch an der unprätentiösen, undramatischen sprache, die einem gerade deswegen umso näher geht. beiläufig und existenziell zugleich.

ich weiss nicht mehr ob ich kristof 2016 besuchte oder irgendwann später, aber ich war sehr froh darüber mit ihm nach vielen jahren nochmal kontakt aufzunehmen. wir hatten uns zwischenzeitlich immer mal wieder bei jubiläums- oder trauerfeiern gesehen, aber nie wirklich miteinander gesprochen oder sachen geteilt. auch über mein treffen mit kristof schrieb ich im anschluss ein paar fragmente auf, ohne sie zu veröffentlichen. als er dann letztes jahr starb überarbeitete ich die fragmente ein bisschen und veröffentlichte den text.

meinen freund heiner hatte ich zuletzt 2019, zu seinem 70sten geburtstag besucht. das war sehr schön, auch weil viele andere alte freunde aus fulda, aus meiner zivieldienstzeit, dort waren. irgendwann fragte ich heiners neue freundin, ob christine denn auch kommen würde. oh, ob mir das niemand gesagt hätte, die sei vor ein paar jahren verstorben. christine hatte ich auch schon fast 20 jahre nicht mehr gesehen, obwohl sie gelegentlich versuchte den kontakt aufrecht zu halten und mich gelegentlich anrief. hat dann irgendwie nie geklappt, dass wir uns mal verabredeten oder wenn ich dann mal in fulda war, war immer irgendwas anderes oder heiner.

ich hatte immer ein eigenartig tiefes bedürfnis heiner in fulda, in der rhön zu besuchen. einerseits weil ich damals™ so viel zeit dort verbracht hatte, weil es dort so schön war und ich mit heiner so gerne zeit verbrachte. ich wollte ihm auch frida vorstellen und zeigen was für ein toller hund aus ihr geworden war. heiner hatte uns quasi, am morgen nach seiner 70. geburtstagsfeier, absolution erteilt einen pudel zu kaufen. hunde in der stadt fand er nicht so toll, aber ein pudel, das sei fein.

bevor frida und ich heiner nochmal besuchen konnten, erreichte mich vor zwei oder drei jahren die nachricht, dass auch er verstorben sei. kurz vorher, genauso unerwartet, war meine schwester gestorben. ich bin mit trauer nicht besonders gut. ich bleibe so um die drei bis zehn jahre in der denial/leugnungsphase stecken und überspringe dann irgendwann die anger, bargaining und depressions-phasen um zu so was wie akzeptanz zu kommen.

und ich glaube der zeitpunkt der akzeptanz ist (bei mir) genau dann erreicht, wenn ich in der lage bin die bilder dieser menschen von meinem inneren auge zu lösen und in eine textform zu bringen. dann hoffe ich auch dazu in der lage zu sein, heiners kindern und ehemaligen lebenspartnerinnen zu schreiben und mein (wirklich) tief empfundenes beileid zu bekunden.

zufällig freue ich mich nämlich tatsächlich seit ein paar wochen darauf endlich über heiner und elena schreiben zu können, katharsis und so.


ein schwierigkeitslevel höher als einen text über verstorbene freundinnen oder freunde ins internet zu schreiben, ist eine trauerrede. am abend vor kristofs beerdigung sass ich vor einem dunklen, leeren blatt (darkmode, doo), weil kristofs eltern mich gebeten hatten auch was zu sagen.

während ich mir einen text aus den fingern zu saugen versuchte, rief ich erstmal meine lieblingsfreundin gita an. nach dem gespräch mit gita — und wohl auch dank gita — machte es irgendwann zweimal klick bei mir im kopf und ich bildete mir ein, je einen ganz wichtigen aspekt von kristof verstanden zu haben und — räusper — von saint-exupérys kleinen prinzen.

bis jetzt habe ich den text (offensichtlich) nicht veröffentlicht, aber vielleicht ist jetzt ein guter zeitpunkt. das ist der text, den ich während der trauerfeier vortrug.


ich hab mit kristof ja sehr viel zeit verbracht als wir jung waren und (leider) sehr wenig zeit, als wir älter waren.

als ich kristof zum ersten mal getroffen habe, so erzählen es zumindest unsere eltern, hab ich ihn erstmal umgeworfen. ich vermute ich wollte ihn knuddeln oder auf die schulter klopfen. kristof war damals, vor über 50 jahren, zart und feingliedrig — und ich — schon damals — nicht. ich habe auch als kleines kind schon so ausgesehen — nur kleiner.

in den folgenden 10 oder 12 jahren haben wir sehr viel zeit miteinander verbracht. bei einem grossteil meiner kindheitserinnerungen ist kristof mit auf dem bild.

apropos erinnerungen. man muss da ja aufpassen, weil man sich erinnerungen oft und gerne zurechtbiegt oder schönmacht. aber ich kann mich tatsächlich nicht daran erinnern, dass kristof und ich uns jemals gestritten haben.

ich erinner mich daran viele meilensteine meiner kindlichen entwicklung gemeinsam mit kristof erreicht zu haben.

  • am jugoslawischen strand haben wir uns gemeinsames weitpinkeln beigebracht (allerdings hat anja weiter gepinkelt als wir)
  • in der badewanne in lichtenbusch haben wir uns beigebracht unter den armen zu furzen
  • und im kindergarten und hort haben wir unsere superkraft (!) entwickelt, und verfeinert, autoritätspersonen in den wahnsinn zu treiben — und trotzdem von ihnen gemocht zu werden.

wo wir uns unterschieden, war unsere risiko-affinität. wenn kristof (und anja) auf bäume oder felsen kletterten, blieb ich unten. ich war schon als kind eher ein schisser. kristof nicht. kristof war mutig, vielleicht sogar übermutig. dieser mut hat ihm schon als kind viele narben und genähte platzwunden beschert. tatsächlich war es so alltäglich, dass kristof sich löcher in seinen körper schlug, dass ich mich noch sehr genau an ein gespräch bei uns am esstisch erinnere, als meine mutter erzählte, dass kristof in einen stacheldrahtzaun gefallen sei. statt mit: „oh je, der arme!“ reagierten wir mit: „oh je, schon wieder?“

gefahr, risiken, grenzen waren für kristof herausforderungen, um zu schauen was dahinter liegt. was passiert, wenn man noch einen, zwei, zehn schritte weitergeht?

wirklich gut kenne ich nur den jungen kristof, den älteren kristof habe ich zwar ein paar mal getroffen und informationen aus zweiter oder dritter hand erfahren, aber das reicht eigentlich nicht, um etwas substanzielles über den älteren kristof zu sagen.

aber das hindert mich natürlich nicht, trotzdem zu spekulieren. schliesslich kenne/kannte ich ja viele seiner potenziale, die seit seiner kindheit in ihm schlummerten oder bereits zum vorschein traten.

und es ist eigentlich gar nicht spekulativ zu sagen, dass kristof ein riesiges kreatives, handwerkliches und künstlerisches potenzial hatte — und entwickelt und gezeigt hat. ein gutes beispiel ist der adler den er in seinem ehemaligen kinderzimmer an die wand gemalt hat. das adler-bild fanden alle super die es gesehen haben, aber es war nicht ganz fertig. dem adler fehlten die füsse. kristof analysierte das mal selbst und sagte, dass die fehlenden füsse ja vielleicht ein bisschen symbolisch für sein leben sein könnten, dass ihm auch ein bisschen der halt, die bodenfühlung fehle.

ich seh das einerseits anders und andererseits genauso. zum einen glaube ich, dass die beste kunst oft unvollendet, unvollständig ist und es dem betrachter überlässt sie zu vervollständigen oder weiter zu denken. aber viel wichtiger: um gute, unvollständige arbeit abzuliefern, braucht man einen sinn und den blick fürs wesentliche. und diesen blick für das wesentliche hatte kristof, auch, und das ist seltener als man denkt, weil er mit seinem sehr grossen herz sehen konnte. kristof war ein empathie-monster.

ich hab gestern mit gita gesprochen. gita ist meine lieblings-ex-freundin und gita war auch mal eine ganze weile mit kristof zusammen (kristof und ich haben also nicht nur unsere kindheit geteilt, sondern auch unsere liebe zu gita). gita erzählte mir, dass sie kristof kennenlernte, als er sich um seinen (damals) kleinen bruder leif kümmerte. sie erzähte mir, wie beeindruckt sie davon war, wie sich kristof um leif kümmerte. kristof sei damals schon nicht nur super kinderlieb gewesen, sondern hatte echtes interesse an seinem kleinen bruder. gita sagte er hatte die fähigkeit das wesentliche in leif zu sehen, leif als menschen, als persönlichkeit zu erkennen und zu behandeln — und nicht nur als kleines kind.

das ist nur eine kleinigkeit, aber wenn man sich umguckt in der welt, ist diese fähigkekt gar nicht mal so weit verbreitet. man braucht schon ein wirklich grosses herz, damit das herz über den tellerrand der eigenen befindlichkeiten hinaussehen kann, auf die befindlichkeit der anderen, eben auf das wesenliche.

ich glaube auch, spätestens als kristof eine familie gründete, wuchsen dem adler im kinderzimmer füsse.

als ich kristof vor ungefähr 10 jahren nach langer zeit nochmal traf, notierte ich mir danach, dass ich mir kristof als einen glücklichen menschen vorstelle. das leben in das er hineingeworfen wurde, das leben in das er sich selbst mit seiner sehr speziellen art von risiko-affnität katapultierte, bot ihm nicht immer die besten rahmenbedingungen.

aber ich stelle mir vor, dass kristof die schattenseiten seines lebens ausblenden konnte, so wie er jedesmal wenn er hinfiel lachte — und wieder aufstand. immer wieder.

er erkannte das wesentliche. für andere zu sorgen verlieh ihm füsse — und erfüllte ihn mit glück.

und auch wenn das alles spekulativ ist — so behalte ich kristof jedenfalls in erinnerung.