man muss sich sisyphos als einen chinesischen bauern vorstellen
in den letzten tagen ist mir mehrfach ein klassiker (vermute ich zumindest) über die aufmerksamkeitsschwelle gespült worden: die geschichte vom chinesischen bauern, erzählt vom religionsphilosophen alan watts im rahmen einer seiner vorlesungen zum taoismus. zuerst hab ichs bei kottke.org und dann bei konstantin gesehen. bei kottke ist das audio als youtube-video mit albernen illustrationen eingebettet, konstantin hat den text eingebettet.
im video weist alan watts darauf hin, dass alles im universum immens komplex ist und dass es eigentlich unmöglich sei zu bestimmen ob dinge die in der natur passieren „gut“ oder „schlecht“ seien. weil man eben nie alle konsequenzen eines ereignisse kennt.
der bauer in watts geschichte bewertet deshalb dinge die ihm zustossen nicht in den kategorien „gut“ oder „schlecht“, er beobachtet, bzw. wartet lieber die konsequenzen ab, als sich auf eine bewertung festzulegen. er erträgt die unsicherheit oder potenzielle ambiguität der situation.
eigentlich ist die geschichte vom chinesischen bauern eine variante des satz: „ich weiss, dass ich nichts weiss“ der sokrates zugeschrieben wird. nur eben nicht rein philosophisch angewandt, sondern auch emotional. der bauer verzichtet auf trauer oder freude als reaktion auf ereignisse die ihm zustossen, weil er weiss, dass er nichts weiss.
ambiguitätstoleranz ist laut wikipedia „die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen“. gemini oder googles KI fasst es einen ticken verständlicher zusammen: „die Fähigkeit, mit Unsicherheit, widersprüchlichen Informationen und komplexen Situationen umzugehen, ohne in Panik zu geraten oder voreilige Schlüsse zu ziehen. Es ist die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit zu akzeptieren und handlungsfähig zu bleiben, auch wenn nicht alle Informationen klar sind.“
noch weiter gedreht, ist es vom bauern, über die ambiguitätstoleranz auch nicht mehr weit zum deutschen „ruhe bewahren“ und britischen „keep calm and carry on“.
und um das nochmal ein stückchen weiter zu drehen, während ich darüber nachdachte was ich über die geschichte des chinesischen bauern schreiben könnte, stolperte ich über dieses zitat:
It can be hard to bear, how the cosmos went from hydrogen to the double helix by its own insentient laws, forged from the iron rib of dying stars creatures capable of the Benedictus and the atomic bomb, hurled ice ages and earthquakes at the rocky body of a world we now walk in skins and nervous systems over which have had no say, born into families and eras we have not chosen. Somehow we must hold all this choicelessness — hold the knowledge that any synch of chance could unseam a life — and still do laundry, still make art, still love.
weil der kontext des popova-zitats eher aberglaube als taoismus ist und sie in diesem zusammenhang auch carl sagan zitiert, der wiederum theophrastus mit „Superstition [is] cowardice in the presence of the Divine“ zitiert, kam mir der gedanke, ob unser bedürfnis ereignisse die uns zustossen zu bewerten, nicht auch eine art des aberglaubens ist? aberlaube als hilfe das unverständliche, das göttliche, das universum zu ertragen.
so wie hunde sich stress wortwörtlich abschütteln, schütteln wir mit aberglauben die unverständlichkeit, die absurdität der welt ab.
der chinesische bauer, aus der parabel von alan watts, ist nicht abergläubisch, genau deshalb glaubt er nicht, dass die ereignisse, die ihm zustossen, gut oder schlecht sind. er hat sich auf den fluss der dinge eingelassen, er ist fähig los zu lassen.
konstantin schrieb unter die parabel: „Ich wünschte ich würde mehr von dieser Haltung an den Tag legen.“
das gute an haltungen ist ja, dass man an ihnen feilen kann — oder wie man neuerdings gerne sagt: nudgen, selbst sanft lenken — wenn man weiss in welche richtung man lenken oder welche form man feilen möchte. ein gutes beispiel aus der philosophie- oder literaturgeschichte für das erfolgreiche feilen an der haltung ist natürlich sisyphos. albert camus kann sich sisyphos als glücklichen menschen vorstellen, weil sisyphos die absurdität seines schicksals annimmt. er verleugnet die absurdität seines schicksals nicht (zum beispiel durch aberglauben), sondern schaut der absurdität ins gesicht, macht einfach weiter und erweitert damit seinen handlungsspielraum. sisyphos entzieht den göttern die macht über sein schickaal (erlangt deutungshoheit), indem er seine haltung verändert: glück liegt nicht im erreichten sondern im tun.
wenn aberglaube nach theophrastus feigheit in gegenwart des göttlichen ist, dann ist wäsche waschen, kunst machen oder zu lieben, in einem feindlichen, absurden universum, eine heldentat.