Was bleibt (t3n 60)

felix schwenzel in t3n

Der Fir­nis der Zi­vi­li­sa­ti­on ist ex­trem dünn. Mir fiel das zum ers­ten mal 1992 auf, nach den ge­walt­tä­ti­gen Un­ru­hen in Los An­ge­les. Die Un­ru­hen bra­chen aus, nach­dem Po­li­zis­ten den Afro­ame­ri­ka­ner Rod­ney King bei ei­ner Ver­kehrs­kon­trol­le schwer miss­han­del­ten und hiel­ten meh­re­re Tage an. Am Ende gab es über 50 Tote und meh­re­re tau­send Ver­let­ze zu be­kla­gen. Mir wur­de klar, dass un­se­re po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Ord­nung kei­nes­falls so sta­bil sind, wie ich mir das bis da­hin ge­dacht hat­te. Mich ha­ben die Un­ru­hen von Los An­ge­les po­li­tisch sen­si­bi­li­si­ert.

Die Co­ro­na-Kri­se dürf­te ein ähn­li­ches Po­ten­zi­al ha­ben. Sie könn­te uns da­für sen­si­bi­li­sie­ren, dass nicht nur die ge­sell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se auf wa­cke­li­gen Füs­sen ste­hen, wenn wir sie nicht ak­tiv stüt­zen, son­dern dass wir, trotz enor­men Fort­schrit­ten in Wis­sen­schaft und Tech­nik, im­mer noch ein ver­letz­li­cher Teil der Na­tur sind. Co­ro­na er­in­nert uns dar­an, dass die Kraft der Na­tur al­les an­de­re als ge­bän­digt ha­ben, wir sind ihr, wie die Men­schen vor Jahr­hun­der­ten, im­mer noch gröss­ten­teils aus­ge­lie­fert.

Vor Co­ro­na hat­te ich im­mer wie­der das Ge­fühl, ins­be­son­de­re bei Dis­kus­sio­nen um den Kli­ma­wan­del, dass vie­le Men­schen glaub­ten, das wir den Kli­ma­wan­del, die Zer­stö­rung un­se­rer Le­bens­grund­la­gen, schon ir­gend­wie mit Tech­no­lo­gie in den Griff zu be­kom­men. Co­ro­na hat uns ge­lehrt, dass wir al­lein mit Wunsch­den­ken, Tech­nik­gläu­big­keit oder kon­zen­trier­tem Op­ti­mis­mus den Fort­be­stand un­se­rer Zi­vi­li­sa­ti­on nicht si­chern wer­den.

Co­ro­na hat aber auch ge­zeigt, dass wir an­ge­sichts aku­ter Ge­fah­ren­la­gen als Ge­sell­schaft durch­aus zu Ver­zicht und ver­nunft­ba­sier­tem Han­deln fä­hig sind. Markt­li­be­ra­le ha­ben es für lan­ge Zeit als Ding der Un­mög­lich­keit an­ge­se­hen, dass Men­schen dazu be­reit wä­ren Ein­schrän­kun­gen ih­rer Le­bens­qua­li­tät hin­zu­neh­men um an­de­re zu schüt­zen oder glo­ba­le Ge­fah­ren ab­zu­weh­ren.

Co­ro­na öff­net die Chan­ce uns dar­an zu er­in­nern, dass die Zu­kunft prin­zi­pi­ell nicht plan­bar ist und dass der Markt al­lein we­der die öko­no­mi­schen oder ge­sell­schaft­li­chen Fol­gen ei­nes Vi­rus ab­weh­ren, noch den Kli­ma­wan­del stop­pen kann. Es gibt kei­ne Al­ter­na­ti­ve zum ge­mein­schaft­li­chen Han­deln, zur Ver­nunft, zu So­li­da­ri­tät, also zum Staat und zur Zi­vil­ge­sell­schaft.

Der welt­wei­te Ver­nunft­aus­bruch, den wir zur Zeit er­le­ben, sin­ken­de Luft­ver­pes­tung, weil vie­le aufs Au­to­fah­ren und Flie­gen ver­zich­ten, die Er­kennt­nis, dass man auch in Da­ten­net­zen Ge­schäfts- und So­zi­al­kon­tak­te pfle­gen und auf­bau­en kann, die Po­pu­la­ri­sie­rung des bar­geld­lo­sen Be­zah­len und des Ge­sichts­schlei­ers, könn­te aber auch ein jä­hes Ende er­le­ben, wenn wir nicht auf der Hut sind.

1973 zum Bei­spiel, als Deutsch­land in ei­ner Wirt­schafts­kri­se steck­te und der Jom-Kip­pur-Krieg denn Öl­preis ex­plo­die­ren liess, ver­ord­ne­te die Bun­des­re­gie­rung deutsch­land­weit Fahr­ver­bo­te und ein Tem­po­li­mit von 100 km/h auf Au­to­bah­nen.

Of­fen­bar brach­te das Sonn­tags­fahr­ver­bot eine Er­spar­nis beim Ben­zin­ver­brauch von 7 bis 12 Pro­zent. Vie­le spar­ten Strom, dros­sel­ten die Hei­zung und hiel­ten das Tem­po­li­mit ein. Aber die­se öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Sen­si­bi­li­tät hielt nicht lan­ge an. Schon we­ni­ge Wo­chen spä­ter, als der Krieg im Na­hen Os­ten vor­bei war, wur­den die Fahr­ver­bo­te und Tem­po­li­mits in Deutsch­land wie­der auf­ge­ho­ben, als sei nichts ge­we­sen. Im eu­ro­päi­schen Aus­land, um Deutsch­land her­um, blie­ben die Tem­po­li­mits üb­ri­gens be­stehen, in Deutsch­land wag­te man sich seit­her selbst bei wei­te­ren Öl- und Öko­kri­sen nicht mehr ans Tem­po­li­mit her­an.

Aber viel­leicht bleibt ja doch et­was vom Co­ro­na-Ver­nunft- und So­li­da­ri­täts­aus­bruch hän­gen. Zum Bei­spiel:

  • die Er­kennt­nis, dass Ver­zicht nicht nur Ver­lust be­deu­tet, dass tief­grei­fen­de Ver­än­de­run­gen am Le­bens­wan­del durch­aus von ei­ner brei­ten ge­sell­schaft­li­chen Mehr­heit ge­tra­gen wer­den kön­nen — wenn die Grün­de nach­voll­zieh­bar und ver­nünf­tig sind.
  • dass das In­ter­net, or­dent­li­cher Zu­gang zum Netz, ein un­ver­äu­ßer­li­ches Grund­recht ist, dass ge­sell­schaft­li­che Teil­ha­be er­mög­licht und nicht ein­fach ge­sperrt oder we­gen In­fra­struk­tur­eng­päs­sen ver­wehrt oder ka­putt­ge­dros­selt wer­den darf.
  • die Er­kennt­nis das Ho­me­of­fice, oder wie man frü­her, zu Zei­ten der Öl­kri­se, sag­te, Te­le­ar­beit, nicht nur ein In­cen­ti­ve für Mit­ar­bei­ter ist, son­dern dass die Mög­lich­keit sei­ne Ar­beit­neh­mer de­zen­tral und orts­un­ab­hän­gig ein­zu­set­zen ein hand­fes­ter Wett­be­werbs­vor­teil für Un­ter­neh­men ist.

Was al­ler­dings mit ziem­li­cher Si­cher­heit blei­ben wird, bei al­len künf­ti­gen Kri­sen: die Angst ums Klo­pa­pier.


die­se ko­lum­ne er­schien zu­erst in der t3n 06/2020 und auf t3n.de.