das gegenteil von gut ist praktisch

felix schwenzel, , in wirres.net    

das gute und gleichzeitig schlimme am älter werden ist der wachsende gleichmut. ich sehe die dinge nicht mehr so eng wie früher, mache mir weniger gedanken um dinge von denen ich früher dachte, dass sie wichtig seien — und überhaupt.

früher waren mir zum beispiel alle „praktischen“ dinge verhasst. mein credo lautete: das gegenteil von gut ist praktisch. bei manchen dingen wie handy-gürtel-schnallen, sportsandalen, einkaufkörben, rechtschreibkorrektur oder handyschutzhüllen fehlt mir bis heute die gelassenheit sie zu ertragen, aber ich bin ja auch erst 40.

gute dinge waren für mich immer unpraktisch, kompliziert und massenunkompatibel. klettverschlüsse an schuhen zum beispiel: schlimm. cowboystiefel sind zwar auch schlimm, sie sind irre unpraktisch, man neigt zum umknicken und ausrutschen, kriegt die dinger, wenn sie genau passen kaum an- oder ausgezogen und erleidet höllenqualen und blutige füsse (vorne und hinten) beim einlaufen, aber trotzdem verbrachte ich fast meine gesamte lehr- und studienzeit in ihnen.

armbanduhren: ganz schlimm, praktisch und hässlich. armbanduhren kann ich seitdem ich dreizehn jahre alt war nicht ausstehen und zog es seitdem vor ganz ohne tragbare uhr zu leben (bis ich mir vor ungefähr zehn jahren meine erste taschenuhr [aka handy] zulegte). ohne tragbare uhr zu leben funktioniert übrigens ganz prima: uhren sind so ziemlich das allgegenwärtigste was es auf der welt gibt. auf der strasse ist immer ein kirchturm in sicht oder ein auto mit einer uhr oder irgendein automat. ausserdem funktioniert die innere uhr minutengenau, wenn man sie regelmässig nutzt.

ganz schlimm fand ich auch „praktische“ und „pflegeleichte“ frisuren und zog es — seit ich die haare auf meinem kopf bewusst wahrnahm — vor, meine haare mit seife, gel, wachs und diversen reib- und zugbewegungen in irgendeine form zu bringen. ich glaube ich habe die hälfte meiner jugend damit zugebracht, meine haare unordentlich aussehen zu lassen. mittlerweile habe ich dazugelernt; ich habe verstanden, dass meine haare ganz ohne aufwand (alle paar monate schneiden, alle paar tage waschen und hin und wieder etwas haarwachs reinschmieren) unordenlich aussehen lassen kann.

der VW-passat-kombi oder der golf waren für mich immer die schlimmsten vorstellbaren autos, blech gewordene kompromisse im namen des nutzwerts und der vernunft. autos die ich gut fand waren unvernünftig, zu gross, zu umweltunfreundlich und familienfeindlich. früher hätte ich mich dafür verachtet, jetzt fand ich es prima, als ich mir kürzlich bei sixt einen VW-touran gemietet habe.

rucksäcke waren für mich lange zeit das hässlichste und peinlichste vorstellbare modische accessoire. ich hielt es für eine peinliche entschuldigung, rucksäcke zu tragen, weil es so praktisch sei. selbst meine „rucksackurlaube“ verbrachte ich mit reisetasche. mittlerweile passt mein ganzer hausrat und bürokram in einen kleinen rucksack und ich finde es praktisch, immer alles bei mir zu haben ohne lange arme oder gleichgewichtsstörungen beim umhertragen meines hausrates zu bekommen. das ein rucksack zum anzug bescheuert aussieht ist mir klar, aber witzigerweise auch völlig schnurz.

[anmerkung: in vorherigen absatz ist eine dramaturgische notlüge versteckt.]

leute mit handys fand ich, seit die ersten koffer-handys aufkamen und handys in deutschland noch für ein italienisches modeaccessoire zum angeben gehalten wurden, grundsätzlich peinlich. handys waren praktisch (uh) und angeberisch (bäh). grundsätzlich hat sich an dieser einschätzung zwar nichts geändert, aber seitdem vor etwa zehn jahren mein widerstand gegen mobiltelefone brach, trage ich mein handy fast immer bei mir, vorzugsweise in der hand und gebe meist erfolglos (aber immer hemmungslos) damit an.

woran ich mich aber nie gewöhnen werde und wahrscheinlich auch im hohen alter nicht an mir tolerieren werde, ist funktionskleidung zu tragen, egal wie praktisch. früher habe ich meine ablehnung von funktionskleidung vielleicht ein bisschen übertrieben, als ich mit jeans, jacket und mantel ski fuhr, aber fahrradhosen, sportsandalen, sportliche multifunktions-jacken oder gar mützen werde ich erst tragen, wenn ich so alt und hilflos bin, dass ich mich nicht mehr gegen meine pfleger wehren kann. ich glaube ich würde eher erfrieren wollen als „jack wolfskin“, „the north face“, „tatonka“ oder wie diese scheusslichkeiten-hersteller alle heissen, zu tragen.