filterrealität und filtersouveränität

felix schwenzel in artikel

das nuf fragt (ohne fra­ge­zei­chen):

Darf ich mich weigern bestimmte Dinge sehen zu wollen

und stellt da­bei ein paar gute fra­gen. ich kann die fra­gen auch nicht alle be­ant­wor­ten, aus­ser der all­ge­mei­nen fest­stel­lung, dass rea­li­tät na­tür­lich im­mer sub­jek­tiv ist. nie­mand kann die rea­li­tät voll er­fas­sen, wenn das so wäre, gäbe es be­reits eine hei­lung für krebs oder ein mit­tel ge­gen schnup­fen. weil die zel­lu­lä­re rea­li­tät der mensch­li­chen wahr­neh­mung aber ver­schlos­sen ist und wir uns ihr nur mit pri­mi­ti­ven werk­zeu­gen nä­he­ren kön­nen sind uns un­end­lich vie­le aspek­te der rea­li­tät noch im­mer ver­schlos­sen, trotz ras­terlek­tro­nen­mi­kro­sko­pen oder enor­men fort­schrit­ten der mo­le­ku­lar­bio­lo­gie, der vi­ro­lo­gie und an­de­ren wis­sen­schafts­zwei­gen.

aber auch die rea­li­tät die wir mit den au­gen und dem ver­stand er­fas­sen kön­nen ist nur nur ein win­zi­ger aus­schnitt aus dem ge­samt­bild. ab­hän­gig von un­se­rem auf­ent­halts­ort, un­se­rer er­zie­hung, aus­bil­dung oder ge­sell­schafts­form in der wir le­ben, ab­hän­gig von un­se­rem al­ter, un­se­rem fa­mi­li­en­stand oder freun­den — aber na­tür­lich auch ab­hän­gig von un­se­rem me­di­en­kon­sum — neh­men wir die „rea­li­tät“ un­ter­schied­lich wahr. und dann kommt noch das gan­ze ge­raf­fel mit der er­kennt­nis­theo­rie oder gar der quan­ten­phy­sik dazu.

der witz ist: wir soll­ten uns stets vor au­gen hal­ten, dass nicht nur jon snow nichts weiss, son­dern dass wir alle nichts wis­sen. oder in die­sem zu­sam­men­hang, dass wir uns die welt be­wusst oder un­be­wusst oder aus man­gel an wahr­neh­mungs­ka­pa­zi­tät so oder so zu­recht­fil­tern. ge­hirn­for­scher und psy­cho­lo­gen wis­sen eben­falls, dass wir un­se­re wahr­neh­mung mas­siv fil­tern. vie­le men­schen neh­men ger­ne dro­gen um mit den gren­zen die­ser wahr­neh­mungs­fil­ter zu ex­pe­ri­men­tie­ren, aber rich­tig im all­tag funk­tio­nie­ren, ich glau­be das ist kon­sens, kön­nen wir nur mit in­tak­ten fil­ter­me­cha­nis­men.

vor drei jah­ren schrob ich zum the­ma fil­ter­bla­sen das fol­gen­de:

während meines zivildienstes und meiner ausbildung empfand ich es als ausgesprochen überraschend zu erfahren welche lebensweisen, ansichten und probleme ausserhalb eines gymnasiums und eines mittelklassehaushalts existieren. ich erkannte in meiner zivildienst- und ausbildungsfilterblase, dass ich die letzten 18 jahre in einer gymnasiums- und mittelklassefamilienblase lebte.

ich erkannte aber auch, dass der bevorzugte lebensraum der menschen blasen sind. und der einzige weg aus einer blase besteht darin, in andere blasen zu steigen. die werkzeuge, um möglichst viele blasen zu betreten liegen auf der hand: reisen, lesen, neugierde, experimentierfreude, lernen, kommunizieren und lesen, lesen und lesen.

aber das wichtigste werkzeug ist und bleibt das ständig aufgefrischte bewusstsein, dass wir nunmal in blasen leben und dass es werkzeuge dagegen gibt, die wir immer wieder aktiv nutzen müssen.

ich weiss gar nicht, war­um der be­griff der fil­ter-bubble im zu­sam­men­hang mit den „neu­en“ me­di­en so ne­ga­tiv ko­no­tiert ist. ich habe es in den let­zen 40 jah­ren im­mer ver­mie­den die bild-zei­tung oder an­de­re pu­bli­ka­tio­nen zu le­sen, die mei­nem welt­bild zu wi­der lau­fen. ge­nau­so wie ich nicht auf de­ath me­tal kon­zer­te gehe (ei­gent­lich auf gar kei­ne kon­zer­te), schlies­se ich (schon im­mer) ei­nen gross­teil der auf der welt exis­tie­ren­den pu­bli­ka­tio­nen und men­schen aus mei­ner wahr­neh­mung aus. war­um soll­te ich das im in­ter­net an­ders hand­ha­ben?

mein me­di­en­kon­sum ist trotz­dem re­la­tiv di­vers und zeit­in­ten­siv, erst recht durchs in­ter­net, aber ne­ben den na­tür­li­chen fil­tern, fil­te­re ich selbst­ver­ständ­lich auch be­wusst. ich ver­mei­de echt­zeit­nach­rich­ten und zie­he ab­ge­han­ge­ne be­richt­erstat­tung vor, selbst der alte tan­ker ta­ges­schau ist mir an den meis­ten ta­gen viel zu hek­tisch und auf­ge­regt. ich bin froh über die vor­fil­te­rung die face­book in mei­ner time­line vor­nimmt und bin im­mer wie­der er­staunt dar­über, dass es leu­te gibt die ih­rer twit­ter-time­line akri­bisch fol­gen. mir reicht es bei twit­ter alle paar tage mal kurz die lage zu son­die­ren und un­ter um­stän­den auf ein paar vor­ge­wor­fe­ne in­fo­häpp­chen zu re­agie­ren.

vor zwan­zig jah­ren habe ich mei­ne in­for­ma­tio­nen über die aus­sen­welt (mehr oder we­ni­ger) aus­schliess­lich über wo­chen­zei­tun­gen be­zo­gen. da­durch ver­liert die welt kei­nes­falls ih­ren schre­cken und die grau­sam­kei­ten die in der welt pas­sier­ten zo­gen da­durch kei­nes­falls an mir vor­bei, aber die er­eig­nis­se lies­sen sich durch die zeit­li­che di­stanz sehr viel bes­ser ein­ord­nen und ver­dau­en. als nach­rich­ten­jun­kie am live­stream der welt zu sit­zen ist ein biss­chen wie aus­schliess­li­che roh­kost­er­näh­rung. nicht ge­gen ge­le­gent­li­che roh­kost, aber ge­kocht und ge­würzt schmeckt es­sen meis­tens bes­ser und lässt sich sehr viel leich­ter ver­dau­en.

so wie ich mich ent­schie­den habe mir kei­ne kaum hor­ror­fil­me oder schnul­zi­ge ro­man­zen an­zu­se­hen, habe ich mich auch ent­schie­den nur be­stimm­te pu­bli­ka­tio­nen zu le­sen, bzw. in­for­man­ten aus­zu­fil­tern, die mich zu sehr auf­re­gen oder rat­los wer­den las­sen. um die fra­ge vom nuf oben also kurz zu be­ant­wor­ten: du darfst. du sollst. du kannst.