ignoring lewitscharoff

felix schwenzel

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von den of­fen­sicht­lich von ideo­lo­gie, aber­glau­ben und tie­fen men­schen­hass ge­trie­be­nen äus­se­run­gen von si­byl­le le­witschar­off habe ich zu­erst bei ste­fan nig­ge­mei­er ge­le­sen. da­nach ha­ben vie­le klu­ge men­schen et­was dazu ge­schrie­ben, ge­org diez, jo lend­le, mal­te wel­ding, so­pran oder jour­nel­le, um nur ein paar zu nen­nen.

der chef­dra­ma­turg des schau­spiel­hau­ses dres­den, ro­bert ko­all, des­sen text ste­fan nig­ge­mei­er ver­öf­fent­lich­te sag­te in sei­nem of­fe­nen brief an si­byl­le le­witschar­off un­ter an­de­rem, dass die rede le­witschar­offs ge­fähr­lich sei:

Man könnte aber auch sagen, dass man es leid ist, dass immer wieder so getan wird, als würden Worte nichts bedeuten. Es gibt einen Punkt, der die Dresdner Rede vom 2. März gefährlich macht. Das ist das Tendenziöse, die Stimmungsmache, das tropfenweise verabreichte Gift.

ich fand den of­fe­nen brief von ro­bert ko­all wun­der­bar, dif­fe­ren­ziert und auf den punkt. trotz­dem fra­ge ich mich, ob es stimmt, dass sol­che re­den „ge­fähr­lich“ sind. zu­min­dest hat die re­ak­ti­on auf die rede von si­byl­le le­witschar­off nicht we­ni­ge bril­li­an­te, per­sön­li­che oder über­zeu­gen­de tex­te her­vor­ge­bracht, die sonst viel­leicht nicht das licht der welt er­blickt hät­ten.

mir, und wahr­schein­lich vie­len an­de­ren, war nicht klar, dass es noch men­schen mit ei­nem IQ von über 40 gibt, die sol­chem men­schen­feind­li­chen und ideo­lo­gi­schem aber­glau­ben re­li­giö­ser fun­da­men­ta­lis­ten aus den ver­gan­ge­nen jahr­hun­der­ten auch heut­zu­ta­ge noch an­hän­gen. mir war nicht klar, dass man auch heut­zu­ta­ge noch für die un­an­tast­bar­keit der men­schen­wür­de und das recht auf selbst­be­stim­mung ar­gu­men­tie­ren muss.

viel­leicht soll­ten wir si­byl­le le­witschar­off des­halb auch ein biss­chen dank­bar sein, dass sie uns dar­an er­in­nert hat, dass frei­heit, selbst­be­stim­mung und men­schen­freund­lich­keit kei­ne selbst­ver­ständ­lich­kei­ten sind, son­dern je­den tag neu ver­tei­digt wer­den müs­sen. nicht si­byl­le le­witschar­offs hass­re­de ist ge­fähr­lich, son­dern un­se­re träg­heit, un­ser un­wil­len für un­se­re (und an­de­rer) frei­heit und selbst­be­stim­mung ein­zu­tre­ten und zu strei­ten.

re­den wie die von si­byl­le le­witschar­off sind mög­li­cher­wei­se nicht die ur­sa­che für ein von man­chen wet­ter­füh­li­gen men­schen ge­fühl­tes re­ak­tio­nä­res kli­ma, son­dern nur ein sym­tom. die ur­sa­che ist un­se­re be­quem­lich­keit.

oder um ein bild zu be­nut­zen, wir soll­ten uns nicht über die sar­ra­zins, le­witschar­offs oder ma­tus­seks be­kla­gen, die mit bren­nen­den streich­höl­zern durch den wald lau­fen, son­dern im­mer da­für sor­gen, dass der wald nicht aus­dörrt, son­dern spriesst, grünt und vor le­ben dampft. die streich­holz­trä­ger su­chen sich na­tür­lich im­mer die aus­ge­dörr­ten stel­len, weil das feu­er dort schnel­ler zu ent­fa­chen ist. aber das soll­te um so mehr ein grund sein, uns be­son­ders um die aus­ge­dorr­ten stel­len zu küm­mern.


ich las­se mich von arsch­lö­chern nicht be­lei­di­gen. das habe ich mir zu­min­dest vor­ge­nom­men — und meis­tens klappt das auch. war­um soll­te ich bei leu­ten de­ren an­sich­ten ich nicht tei­le, ge­ra­de die an­sicht die sie mir ge­gen­über äus­sern ak­zep­tie­ren? das sagt sich na­tür­lich leicht, vor al­lem wenn leu­te von po­di­en an­de­re leu­te als ei­nen selbst krän­ken oder de­mü­ti­gen. aber auch hier ist es wich­tig, sich nicht auf die tä­ter, also auf die arsch­lö­cher, zu kon­zen­trie­ren und sie mit auf­merk­sam­keit zu adeln, son­dern auf die op­fer. den op­fern soll­te man auf­merk­sam­keit wid­men, ih­nen so­li­da­ri­tät und sym­pa­thie zu­kom­men zu las­sen und sie ent­schlos­sen ver­tei­di­gen. (ver­ba­le) an­grif­fe auf die tä­ter hel­fen nicht den op­fern, son­dern den tä­tern, die sich dann selbst als op­fer dar­stel­len kön­nen.


wenn man ge­gen künst­li­che be­fruch­tung oder ge­gen ona­nie ist, ist man dann ei­gent­lich auch ge­gen pflas­ter oder blind­darm-ope­ra­tio­nen? ist es nach den ge­set­zen der kle­ri­ker nicht auch ein ein­griff in din­ge die nur gott ent­schei­den soll, wenn man sich dem schick­sal ent­ge­gen­stellt und eine fleisch­wun­de des­in­in­fi­ziert, näht und ver­bin­det — wo­mög­lich auch noch mit den ei­ge­nen hän­den? wo ist da der un­ter­schied zur ona­nie?

wo fängt die „selbst­er­mäch­ti­gung“ an, die le­witschar­off im faz in­ter­view als ka­ta­stro­pha­le ent­wick­lung an­pran­gert? beim zahn­ersatz? beim by­pass? bei der krebs­the­ra­pie? oder bei der in­se­mi­na­ti­on? beim hör­ge­rät, der bril­le oder beim kon­dom? ist hor­mon­the­ra­pie ge­gen os­teo­po­ro­se oder wech­sel­jahr­be­schwer­den ok, ge­gen un­ge­woll­te schwan­ger­schaf­ten aber nicht?

ich ver­steh die­se ideo­lo­gien wahr­schein­lich ein­fach nicht.

(bild von fer­di­nand pi­lo­ty, bild­quel­le)


[nach­trag 09.03.2014]
ant­je schrupp dif­fe­ren­ziert sehr schön (und im ge­gen­teil zu mir ohne pa­thos):

Sibylle Lewitscharoff hat also Recht, wenn sie eine „Selbstermächtigung der Frauen“ diagnostiziert. Aber diese Selbstermächtigung bezieht sich nicht darauf, einem technologischen Machbarkeitswahn zu frönen und dabei die Bedingtheit und Begrenztheit der Welt zu missachten (wie Lewitscharoff es ihnen vorwirft). Um es in Lewitscharoffs religiösem Bezugsrahmen auszudrücken, den sie ja ausdrücklich zu ihrer Rechtfertigung ins Feld führt: Frauen setzten sich mit ihrer Selbstermächtigung keineswegs selbst an die Stelle Gottes, sie lassen bloß nicht mehr zu, dass Männer sich (ihnen und ihren Kindern gegenüber) an die Stelle Gottes setzen.