curt bloch an seine deutschen leser

felix schwenzel

dieses gedicht hat mir meine mutter per messenger geschickt.


An meine deutschen Leser

Vielleicht kommen euch die Gedichte,
Die ich in eurer Sprache schrieb,
In spätren Zeiten zu Gesichte,
Und täten sie’s, wär mir’s recht lieb.

Und lest ihr sie, müsst ihr nicht denken,
Die sind nun nicht mehr aktuell,
Drum kann man sich das Lesen schenken,
Drum weg damit und möglichst schnell.

Denn amüsant ist die Lektüre
Für manche Leute sicher nicht.
Die sehn, man sitzt hier über ihre
Verfloss’ne Dummheit zu Gericht,

Die Dummheit der vergangnen Zeiten,
Denn die steht grausam hier zu Buch,
Die sie schwer büßten und bereuten
Für ihr Gefühl schon schwer genug.

So schwer, dass man vergessen möchte
Und ein Erinnern brächte Pein,
Drum scheint dies Buch euch eine schlechte
Aufgrabung alten Leids zu sein.

Ihr wähnt euch endgültig entflohen
Dem Schatten der Vergangenheit.
Und denkt nicht dran, dass euch bedrohen
Der gleiche Schmerz, das gleiche Leid.

Wenn man euch eure alten Fehler
Nun wiederum vergessen lässt,
Dann führt ein neuer Puppenspieler
Euch zu nem neuen Schlachtefest.

Denn ihr lasst euch so leicht umgarnen,
Wenn ihr vom Kriege seid erholt.
Und darum möchte ich euch warnen,
Dass man euch nicht nochmal verkohlt.

Zum zweiten Mal seid ihr versunken
Nun in genau dem gleichen Loch.
Und macht euch wieder wer betrunken,
verlasst euch drauf, geschieht es noch.

Im Gegensatz zu andern Dichtern,
Die euch in einen Rausch versetzt,
will ich euch gern vom Rausch entnüchtern,
Fühlt euch drum bitte nicht verletzt!

Und wirkt meine Gardinenpredigt,
Seht ihr die alten Fehler ein,
dann fühle ich mich reich entschädigt
Und wird mir’s ein Vergnügen sein.

Curt Bloch, Juni 1944
(Transkription: Thilo von Debschitz)


meine mutter hat das gedicht natürlich ohne quelle gesendet, aber es liess sich leicht googlen und — wie so oft — tat sich da gleich ein rabbit hole auf in das ich mit meinem browser fiel: curt-bloch.com

curt bloch floh in den dreissiger jahren aus deutschland in die niederlande. als die wehrmacht 1940 in die niederlande einmarschierte und 1942 systematische deportationen begannen, „ging“ curt bloch in den untergrund. im untergrund fing er an satirische gedichte zu bloggen.

Während der Zeit, in der ich mich verborgen halten musste, ließ ich jede Woche ein Bändchen satirischer Gedichte in deutscher und holländischer Sprache erscheinen und im kleinen Kreise zirkulieren.

auf curt-bloch.com sind die „bändchen“ die curt bloch „erscheinen“ liess transkribiert, übersetzt und werden auf wunsch vorgelesen. während die hefte in den 40er jahren wohl eher eine leserschaft von um die dreissig personen (unique visits) erreichten, dürfte es curt bloch „ein Vergnügen“ sein, dass seine texte jetzt auch von moffen wie mir gefunden, gelesen und reproduziert werden können.

man kann von curt bloch viel lernen, zum beispiel über nazis, ihre eitelkeit und verwundbarkeit durch worte, aber eben auch, dass es sich lohnen kann, dass man die welt ein bisschen verändern kann und relevante spuren hinterlasen kann, auch wenn man für ein sehr, sehr kleines publikum schreibt.

screenshot von curt-bloch.com/de