haltungs-posing
als kind bin ich irgendwie an einen aufkleber gekommen, auf dem stand „Ich bin Energiesparer“. weil aufkleber zum aufkleben sind, klebte ich den aufkleber an mein bett, neben die nachttischlampe. nun war ich energiesparer.
irgendwann wies mich meine oma darauf hin, dass energiesparer das licht ausschalten, wenn sie es nicht brauchen. damals brauchte eine nachtischlampe noch 30 oder 60 watt und ich musste ihr, trotz der trotzphase in der ich mich die ganzen achtzigerjahre befand, recht geben.

irgendwann später in meinem leben entwickelte ich eine regelrechte aversion gegen aufkleber wie „Ein Herz für Kinder“ oder „Erst wenn der letzte baum gerodet ist …“-aufkleber, die absurder weise besonders gerne auf autos geklebt wurden. ich hatte den eindruck, dass diese aufkleber den gleichen zweck verfolgen wie spendengalas oder ablasshandel: man bekundet öffentlich eine bestimmte haltung, zahlt gegebenenfalls irgendwo etwas ein, muss dafür aber nichts ändern, nicht aktiv werden, nicht weiter ernsthaft über das eigentliche problem oder gar lösungen nachdenken.
ich hab nichts gegen haltung, im gegenteil. ich finde es auch nicht schlecht, wenn man seine haltung öffentlich bekundet. das problem mit haltung ist, dass haltung kontinuierliche aktivität erfordert. man sieht das, wenn man über körperhaltung nachdenkt: es reicht nicht zu sagen „ich gehe aufrecht“, man muss es dann jede minute seines lebens auch tun.
haltung turnt man nicht mal kurz in der turnhalle vor, haltung sollte man dann auch ausserhalb der turnhalle beibehalten, sonst isses eben keine haltung, sondern eine pose.
haltungen, die mit aufklebern oder fahnen öffentlich kundgetan werden, haben auch eine symbolische wirkung; was ist wenn der ein-herz-für-kinder-aufkleber am auto verwittert? bedeutet das dann, dass das herz für kinder auch etwas verwittert oder verblasst ist?
jahrelang bin ich an dieser „black-lives-matter“-fahne vorbeigegangen die langsam vor sich hin verblasste. ich habe mich immer gefragt ob ich der einzige bin, der in verblassende fahnen etwas reininterpretiert. jedenfalls hat die fahne jetzt ihre halt(er)ung verloren und ursprünglich wollte ich nur dieses bild mit der bildunterschrift „wenn die black-lives-matter-fahne nicht mehr matters“ posten. aber dann hab ich mir gedacht, so ganz ohne kontext ist das ja doof. jetzt isses auch mit kontext doof.

offenlegung
ich hatte wortfindungstörungen, diesen absatz hatte ich etwas doof formuliert:
haltung turnt man nicht mal kurz in der turnhalle vor, haltung sollte man dann auch ausserhalb der turnhalle beibehalten, sonst isses eben keine haltung, sondern eine behauptung.
also habe ich chatGPT gebeten ein besseres wort für „behauptung“ zu finden. nicht nur war pose ein volltreffer, auch die erklärung liess mich bewundernd staunen:
Eine Pose ist – anders als Haltung – situativ, äußerlich und oft strategisch. Haltung hingegen ist etwas, das über den Moment hinaus trägt, sich auch unter Druck bewährt und nicht vom Publikum abhängig ist.