ler­nen

felix schwenzel in artikel

dirk fragt:

Wie trai­nierst du dei­nen Geist? Er­zähl mir da­von in die­ser Um­fra­ge (die Er­geb­nis­se wer­den Ende des Mo­nats in mei­nem News­let­ter ver­schickt)

na­tür­lich schrei­be ich nicht in sein (goog­le) um­fra­ge­tool, son­dern hier. denn so trai­nie­re ich un­ter an­de­rem mei­nen „geist“, in­dem ich hier rein schrei­be. es hät­te wahr­schein­lich auch mei­nen geist trai­niert in die goog­le-um­fra­ge zu schrei­ben, aber hier is­ses schö­ner, ich kann mei­ne ge­dan­ken er­gän­zen und über­ar­bei­ten.

da ich dirks fra­ge ja zum teil schon mit „schrei­ben“ be­ant­wor­tet habe, kann ich auch gleich mit dem rum­mä­keln und wi­der­spre­chen an­fan­gen, von dem ich glau­be, dass es auch den geist trai­niert. dirk zi­tiert (un­ter an­de­rem) da­vid perell, „der ei­nen Trai­nings­plan für Den­ker:in­nen for­mu­liert hat“:

Ath­le­tes train. Mu­si­ci­ans train. Per­for­mers train. But know­ledge workers don’t.

das stimmt na­tür­lich nicht. alle denk-ar­bei­ten­den schrei­ben und trai­nie­ren da­mit. wer nicht schreibt, wür­de sich wohl auch nicht als know­ledge worker be­zeich­nen. sol­che über­spit­zun­gen ma­chen sich viel­leicht gut in in­tros oder als über­schrif­ten, aber füh­ren auch un­wei­ger­lich zu über­höh­ten er­war­tun­gen an den iin­halt. als ich auf den link ge­klickt habe und dach­te, „dann lass mal ju­cken da­vid perell“, war ich eher ent­täuscht als er­hellt. weil er ei­gent­lich gar nicht meint das „know­ledge workers don’t train“, son­dern dass sie nicht struk­tu­riert, mit ei­nem train­ins­plan trai­nie­ren. wenn ich dann ba­na­li­tä­ten lese wie: „Learn in th­ree-month sprints and com­mit to a new lear­ning pro­ject every quar­ter“ den­ke ich un­wei­ger­lich: das kannst du dir auch in den hin­tern ste­cken, da hat wohl je­mand sei­ne sha­ka- und mar­ke­ting mus­keln mehr trai­niert, als sei­ne denk- und schreib­mus­keln.

jetzt wo ich das los­ge­wor­den bin, im­mer­hin hat da­vid perell auch eine sai­te in mir zum klin­gen ge­bracht (her­vor­he­bung von mir):

I en­cou­ra­ge you to share your lear­nings. Pu­blish an es­say, a book re­view, an art pro­ject, or open source your code. Sha­ring your ide­as will help you di­gest them, and if your posts are in­te­res­t­ing, you may at­tract ex­perts in your field of cu­rio­si­ty.

mei­ne wor­te, seit jah­ren. ins in­ter­net schrei­ben hilft mir mei­ne ge­dan­ken, ideen, er­leb­nis­se zu ver­dau­en, zu ver­ar­bei­ten — und hat zu­sätz­lich vie­le an­de­re, auch po­si­ti­ve, ne­ben­wir­kun­gen.

et­was zu tei­len, öf­fent­lich zu tun, hat zum bei­spiel die ne­ben­wir­kung, zu mehr sorg­falt, tie­fe und selbst­kri­tik zu mo­ti­vie­ren. so wie man sagt, dass man et­was erst dann ver­stan­den hat, wenn man es je­mand an­ders er­klä­ren kann, hat man et­was erst dann durch­dacht, wenn man es an­de­ren ver­ständ­lich ma­chen kann. aber viel ent­schei­den­der als die denk-werk­zeu­ge oder end­pro­duk­te des den­kens, ist die mo­ti­va­ti­on zum den­ken. und da steht an ers­ter stel­le neu­gier — kein trai­nings­plan oder ein werk­zeug­kas­ten.

neu­gier führt zu ler­nen, zum den­ken und zu mehr neu­gier. ein po­si­ti­ver, sich selbst ver­stär­ken­der kreis­lauf. na­tür­lich er­for­dert das stil­len von neu­gier ge­le­gent­lich auch struk­tur oder ei­nen plan, aber mein an­satz ist meis­tens: ein­fach mal aus­pro­bie­ren wie weit ich kom­me. als jun­ger teen­ager war ich fas­zi­niert von rou­lette, kar­ten­spie­len, lot­to und woll­te mehr über den zu­fall und wie man ihn ge­ge­be­nen­falls ma­ni­pu­lie­ren könn­te ler­nen. also lieh ich mir bü­cher über wahr­schein­lich­keits­rech­nung aus und biss mich da durch.

wenn mei­ne neu­gier gross ge­nug ist oder ich ein ziel als er­stre­bens­wert ge­nug be­fin­de, ver­beis­se ich mich ger­ne in pro­ble­me, bzw. ihre lö­sung. manch­mal sit­ze ich stun­den­lang dar­an heim­au­to­ma­ti­sie­rungs­pro­ble­me zu lö­sen oder „fea­tures“ in wir­res.net ein­zu­bau­en. von aus­sen sieht die kos­ten-nut­zen-rech­nung eher schlecht aus: ich „ver­schwen­de“ nicht nur aus sicht der bei­fah­re­rin zeit, son­dern auch ob­jek­tiv. aber sub­jek­tiv ist das wie kreuz­wort­rät­sel lö­sen. es hat kei­nen oder kaum nut­zen, aber es hält das denk­or­gan auf trab oder trai­niert eben den geist. der um­weg als ziel.

ich möch­te auch nicht in den viel­stim­mi­gen chor ein­stim­men, den man in den let­zen mo­na­ten im­mer öf­ter ver­nimmt, dass LLMs oder chatGPT uns das den­ken ab­neh­men. das ge­gen­teil ist der fall, zu­min­dest in mei­ner er­fah­rung. bild­lich ge­spro­chen: statt mich mit hand­werk­li­chen pro­ble­men her­um­zu­schla­gen, kann ich mich mit ar­chi­tek­to­ni­schen pro­ble­men be­schäf­ti­gen. ich kann mich mit hil­fe von LLMs auf an­de­ren ebe­nen des den­kens, des pro­blem­lö­sens be­we­gen.

ich kann zu die­sem the­ma sehr die zi­tat­samm­lung von john o’no­lan emp­feh­len, die er aus da­vid epsteins buch „Ran­ge: Why Ge­ne­ra­lists Tri­umph in a Spe­cia­li­zed World“ ex­tra­hiert hat. die­ses zi­tat be­zieht sich auf schach, dürf­te aber auch ge­nau­so un­se­ren um­gang mit KI in zu­kunft prä­gen:

A duo of ama­teur play­ers with th­ree nor­mal com­pu­ters not only de­s­troy­ed Hy­dra, the best ch­ess su­per­com­pu­ter, they also crus­hed teams of grand­mas­ters using com­pu­ters. Kas­pa­rov con­cluded that the hu­mans on the win­ning team were the best at "coa­ching" mul­ti­ple com­pu­ters on what to ex­ami­ne, and then syn­the­si­zing that in­for­ma­ti­on for an over­all stra­tegy. Hu­man/Com­pu­ter com­bo teams— known as "cen­taurs" —were play­ing the hig­hest le­vel of ch­ess ever seen.

wenn wir uns auf un­se­re (geis­ti­gen) stär­ken be­sin­nen und die­se stär­ken mit com­pu­tern und künst­li­chen in­tel­li­gen­zen kom­bi­nie­ren, kön­nen wir uns plötz­lich auf ganz an­de­ren ebe­nen be­we­gen. wich­tig dürf­te da­bei sein, dass wir geis­ti­ge fä­hig­kei­ten nicht zu eng de­fi­nie­ren. in­tel­li­genz ist eben mehr als das was üb­li­cher­wei­se in IQ tests oder klau­su­ren ab­ge­fragt wird, dazu ge­hö­ren eben auch ver­meint­li­che soft skills wie ge­duld, ver­mitt­lungs­fä­hig­keit, em­pa­thie, neu­gier, re­si­li­enz, ur­teils­ver­mö­gen oder weit­blick. tel­ler­rän­der über­win­den kann je­der, aber nicht je­der fin­det es loh­nens- oder er­stre­bens­wert.

so ab­surd es klin­gen mag, mei­ne bes­te denk­hil­fe oder denk-trai­nings­ein­heit ist das den­ken ab­zu­stel­len. zum bei­spiel durch spa­zie­ren ge­hen oder be­wuss­te pro­kras­ti­na­ti­on. wir ha­ben ja vie­le denk­ap­pa­ra­te von de­nen uns vie­le gar nicht zu­gäng­lich sind. frü­her nann­te man die bauch­ge­fühl, un­ter­be­wusst­sein oder in­tui­ti­on (heu­te auch). wirk­lich trai­nie­ren las­sen sich die­se denk­ap­pa­ra­te (glau­be ich) nicht, aber füt­tern. wenn man sich in pro­ble­me, bzw. pro­blem­lö­sun­gen ver­tieft, füt­tert man sie. dann ist es hilf­reich zeit­wei­se für stil­le im kopf zu sor­gen, da­mit man die auf­stei­gen­den bla­sen hört, in de­nen ge­le­gent­lich lö­sun­gen ver­bor­gen sind.

die kur­ze ant­wort auf dirks fra­ge, oder das tl;dr, lau­tet also: ich trai­nie­re mei­nen geist in­dem ich mit selbst­ge­bau­ten werk­zeu­gen ins in­ter­net schrei­be, mei­ne woh­nung au­to­ma­ti­sie­re und ver­su­che ein freund­li­cher, ge­dul­di­ger und neu­gie­ri­ger mensch zu sein.